"Es gibt nichts auf der Trompete, was nicht von ihm stammt, nicht mal im modernsten Jazz."
- Miles Davis
Der berühmteste Trompeter aller Zeiten begann seine Karriere auf einem Lumpensammler-Wagen. Dort nahm er ein weggeworfenes Rohr zur Hand, es war der Rest einer Kindertrompete, krümmte Daumen und Zeigefinger um das eine Ende und blies zwischen seinen zusammengepressten Fingern hinein. Das war sein Signalruf, wenn er auf dem Pferdewagen mit durch die Straßen zog: Dann brachten die Leute ihren Schrott und ihre Fetzen heraus und die Kinder liefen begeistert dem Altwarenkarren hinterher.
Die Botschaft Amerikas
Zum 100. Geburtstag von Louis Armstrong
(2001)
Von Hans-Jürgen Schaal
Damals war Louis Armstrong sieben oder acht Jahre alt, ein Straßenkind ohne Elternhaus, das im ärmsten Teil von New Orleans aufwuchs: Seine Großeltern wurden noch als Sklaven geboren. Von früh an war Louis für sein Wohlergehen weitgehend selbst verantwortlich und entwickelte einen unermüdlichen Lebenswillen. Eine russisch-jüdische Immigranten-Familie kümmerte sich ein wenig um den emsigen Jungen: Bei ihr fand er Arbeit auf dem Lumpensammler- und Kohlenwagen, er durfte auch mal zum Essen bleiben und lernte sogar ein paar Lieder zu singen, darunter das inzwischen zum amerikanischen Standard-Song gewordene "Russian Lullaby". Die Karnofskys gaben dem kleinen Kerl auch einen Fünf-Dollar-Kredit, als er im Schaufenster eines Pfandleihers ein echtes Kornett entdeckte und es sich in den Kopf setzte, dieses schmutzige, alte Instrument spielen zu wollen. Wer weiß, wie sich die populäre Musik des 20. Jahrhunderts entwickelt hätte, wäre der kleine Louis damals an die Gitarre eines Blues-Sängers geraten oder ans Akkordeon eines italienischen Einwanderers.
Glück im Unglück hatte Louis auch ein paar Jahre später wieder, als er in einem Heim für verwahrloste schwarze Kinder landete. Das Colored Waifs' Home vor den Toren der Stadt wurde von einem schwarzen Ex-Offizier mit militärischer Strenge geleitet, bot den Kindern aber regelmäßiges Essen, einen festen Schlafplatz, gute Luft und Unterricht. Hier erhielt der 11-jährige Louis Armstrong seine ersten Musikstunden: Unter der Anleitung des schwarzen Musiklehrers Peter Davis stieg er vom Tamburinspieler zum ersten Kornettisten und Leiter des Heim-Orchesters auf. Dann wurde er auf Bewährung wieder entlassen.
Von da an waren Little Louis und sein Kornett in der Musikszene von New Orleans ein Begriff. Die Musiker hatten ein Auge auf das Wunderkind aus den Slums: Ein berüchtigter Schläger und Schlagzeuger nahm ihn unter seine Fittiche und sorgte dafür, dass "Dipper" nichts passierte. Zuweilen band er ihn sogar an sein Handgelenk, damit Louis im Gedränge nicht verloren ging. Der Junge in den kurzen Hosen mit dem breiten, strahlenden Lächeln wurde bei Konzerten im Park und später auch in Musiklokalen immer mal wieder für ein paar sensationelle Einlagen auf die Bühne geholt. Losgeworden wären sie den aufgeweckten, lernbegierigen Louis sowieso nicht mehr. Er lief allen Trompetern der Stadt hinterher - darunter Bunk Johnson, Buddy Petit, Mutt Carey - und bat sie um diesen oder jenen Tipp.
Sein größtes Idol war jedoch Joseph Oliver, den sie damals schlicht den "King" nannten und der für Louis, der nie einen Vater hatte, zum "Papa Joe" wurde. Zum ersten Mal hörte er Olivers Kornett, als er, noch ein kleiner Junge, Kohlen in einem kleinen Bordell ablieferte. Wie verzaubert von Olivers Spiel blieb Little Louis einfach in dem Zimmer stehen, in dem er so gar nichts verloren hatte. Später begann der schlaue Junge, für Olivers kinderlose Frau kleine Besorgungen zu übernehmen, und weil er es umsonst tat, konnte der gemütliche Oliver kaum ablehnen, wenn Louis ihn um einen Ratschlag bat. Der um 16 Jahre Ältere begann kleine Duette mit dem Jungen zu spielen, trat bald auch das eine oder andere Engagement an ihn ab und schenkte ihm sogar eines seiner Instrumente.
Von New Orleans nach Chicago
New Orleans, die Hafenstadt am Golf von Mexico nahe der Mississippi-Mündung, ist ein besonderes Pflaster: von französischen Kolonisten gegründet, ab 1763 spanisch, ab 1800 wieder französisch und dann von Napoleon an die Vereinigten Staaten verkauft. In mancher Hinsicht steht New Orleans der katholisch-kreolischen Karibik näher (insbesondere Haiti und Puerto Rico) als dem protestantisch-angloamerikanischen Norden. In New Orleans waren die afrikanischen Trommeln nie verboten, die schwarzen Sklaven durften ihre Toten mit eigenen Zeremonien beerdigen und 1817 wurde dort sogar die Voodoo-Religion legalisiert.
So wie im Voodoo afrikanische, katholische, indianische und andere Religionen zusammenflossen, entstand auch der Jazz in dieser Stadt aus einer ganz unwahrscheinlichen Mischrezeptur. Da waren die Worksongs und Kirchenlieder der schwarzen Landarbeiter, die Quadrillen und Klarinettenmelodien der urbanen Kreolen, die afrokaribischen Trommeln und Rhythmen, die Tänze und Lieder der Iren, Spanier und Juden, die Blaskapellen und Opern der Deutschen, Italiener und Franzosen. In diesem Schmelztiegel der Kulturen lernten europäische Instrumente schwarze Intonationen, afrikanische Trommeln westliche Taktformen...
Das New Orleans um 1900 vibrierte Tag und Nacht von Musik: Festtagsparaden und Massen-Picknicks, Musikkneipen und Tanzsäle, Ausflugsschiffe und Beerdigungen, Straßenmusiker und Bordelle sorgten für einen ganzjährigen Musik-Karneval. Der junge Louis Armstrong sang mit einem Vokalquartett auf der Straße, marschierte mit seiner Trompete in Paraden mit (zum Beispiel mit der bekannten Tuxedo Brass Band), spielte auf Mississippi-Dampfern (mit der Band von Fate Marable, in der er das Notenlesen lernte), trat an Feiertagen in öffentlichen Parks auf und nachts in zwielichtigen Kneipen. Er und der Jazz wuchsen in jenen Jahren Schulter an Schulter heran.
Ein abruptes Ende fand die multikulturelle Blütezeit der Stadt, als 1917 ihr kommerzielles Zentrum geschlossen wurde: der Rotlichtbezirk Storyville. Es war das Jahr der ersten Jazz-Aufnahmen (durch die weiße Original Dixieland Jass Band in New York), der Annektierung von Puerto Rico (die eine verstärkte Zuwanderung von Schwarzen zur Folge hatte) und des Kriegseintritts der USA. Wegen der steigenden Rate an Kriminaldelikten und Geschlechtskrankheiten schlug die U.S. Navy Alarm und erreichte, dass in New Orleans die Prostitution verboten wurde. Damit war das Nachtleben der Stadt gestorben und für viele Köche, Kellner, Dienstmädchen oder Musiker gab es nicht mehr genug Arbeit. Sie schlossen sich der großen Migrationsbewegung an, die besonders nach Kriegsende 1918 Zehntausende von Schwarzen aus dem ländlichen Süden in die nördlichen Städte brachte. Die schwarze Bevölkerung Chicagos hat sich zwischen 1910 und 1920 beinahe verdreifacht.
Auch die frühen Musiker des Jazz zog es nach Chicago: Sidney Bechet 1918, King Oliver 1919. Armstrong, noch immer ein Teenager, übernahm in New Orleans die besten Jobs seines Lehrers Oliver und zögerte die Reise damit noch etwas hinaus. Erst als im Sommer 1922 "Papa Joe" per Telegramm nach dem Schützling rief, setzte sich Armstrong in den Zug nach Chicago, jene Stadt, in der das Nachtleben unterm Protektorat der organisierten Kriminalität bestens gedieh. Mit dem Dreamland Ballroom, dem Lincoln Gardens Cafe, dem Plantation Cafe, dem Sunset Cafe und dem Apex Club ballten sich in Chicago die berühmten Jazz-Bühnen. Der 21-Jährige wirkte bei seiner Ankunft in dieser mondänen Nachtklub-Welt wie eine hoffnungslose Landpomeranze - mit altmodischem Gehrock, Strohhut, südlichem Akzent und 226 Pfund schwer.
Musikalisch aber fand sich "Little Louis" als zweiter Kornettist in Olivers Band sofort zurecht. Durch Armstrongs Hilfe wurde King Olivers Creole Jazz Band, diese unwahrscheinliche Zwei-Trompeten-Truppe, zu Chicagos größte Jazz-Attraktion. Jeden Abend saßen im Publikum die jungen weißen Musiker, die einige Jahre später den Chicago- und Swing-Stil dominieren sollten: Benny Goodman, Bix Beiderbecke, Hoagy Carmichael, Mezz Mezzrow, Paul Whiteman. Ganz besonders staunten sie, als die beiden Kornettisten ihre Zwei- oder Vier-Takt-Breaks zweistimmig improvisierten, als könnten sie die Gedanken des anderen lesen. Armstrong verriet später den Trick, den er mit Oliver schon am ersten Abend in Chicago erfunden haben will: Vier oder acht Takte vor dem Break beugte sich Oliver zu Armstrong herüber, "bewegte die Ventile seiner Trompete und spielte leise die Töne, die er spielen wollte, wenn der Break kam. Ich hörte zu und dachte mir gleichzeitig die Stimme aus, die ich dazu spielen wollte."
Ein Star wird geboren
Olivers Versuch, Armstrong am kurzen Zügel zu führen, ging nicht lange gut. Als sich der Ältere einmal unwohl fühlte, musste er Armstrong das Gros der Soli überlassen und von da an war der Jüngere die eigentliche Sensation der Band. Olivers routiniertes Spiel galt bald als "alte Schule", während Armstrongs bewegliche, von Ideen sprühende Phrasierung von der Zukunft zu sprechen schien. Lil Hardin, die Pianistin in Olivers Septett, tat ein Übriges, um Armstrong vom Schatten des väterlichen Mentors zu emanzipieren: Die mondäne Künstlerin mit eigenem Auto und gehobenem Geschmack heiratete den jungen Trompeter Anfang 1924, lehrte ihn großstädtische Manieren und Geschäftssinn und forderte, dass er sich von Oliver trennte. Armstrong, der immer einen Vater vermisst hatte, fiel dieser Schritt sehr schwer.
Da half wiederum ein Telegramm. Fletcher Henderson, der New Yorker Bandleader, der später für Benny Goodman arbeitete, hatte Armstrong schon 1921 in New Orleans gehört und lud ihn ein, in sein Orchester zu kommen. Hendersons Band war eine disziplinierte Truppe, stand aber damals den Walzer-Potpourris der Tanzsäle näher als dem rebellischen Geist des Jazz. Zu Hendersons Überraschung akzeptierte Armstrong, fühlte sich aber im etwas steifen Ensemble zunächst unwohl. Eines Tages, als ein neues Arrangement geprobt wurde, blies er mit voller Kraft in seine Trompete, obwohl an dieser Stelle ein "pp" vorgesehen war. Henderson wies ihn auf die Vortragsbezeichnung hin und Armstrong antwortete mit entwaffnendem Charme: "Oh, ich dachte, das hieße 'pound plenty' (volle Pulle)."
Von da an war die Stimmung in der Band deutlich lockerer. Als wenig später auch noch eine Schlägerei zwischen dem Posaunisten und dem Bassisten drohte, begann sich Armstrong, aufgewachsen unter Zuhältern und Raufbolden, endlich wie zu Hause zu fühlen. Innerhalb von 14 Monaten krempelte er das Konzept der Henderson-Band völlig um, verpasste ihr den "modernen" Chicago-4/4-Beat und inspirierte ihren Arrangeur Don Redman, das Konzept des Big-Band-Jazz zu erfinden. Hendersons bester Solist, der Saxofonist Coleman Hawkins, entwickelte sich unter Armstrongs Einfluss zu einem heißen Swinger. Außerdem wirkte Armstrong in dieser Zeit bei zahlreichen Plattenaufnahmen mit - in Combo-Formationen oder als Begleiter der großen Blues-Sängerinnen. New Yorks Musiker und Produzenten akzeptierten ihn als den neuen König des Jazz. Der Trompeter Rex Stewart berichtete: "Ich wurde verrückt wie alle anderen auch. Ich versuchte, wie Louis zu sprechen, wie Louis zu gehen, wie Louis zu essen, wie Louis zu schlafen." Weil Henderson nicht bereit war, Armstrong auch als Vokalisten zu präsentieren, und weil Noch-Ehefrau Lil zu Hause in Chicago wieder die Weichen stellte, bewies der neue Star sein neues Selbstbewusstsein - und kündigte.
Eine Vision des Jazz
Zurück in Chicago wurde Louis Armstrong im November 1925 mit offenen Armen empfangen: Der Dreamland Ballroom warb für "The World's Greatest Trumpet Player". Sogar die Schulkinder in Chicago begannen Louis Armstrong nachzuahmen. Der junge Mann mit dem breiten Mund und dem ansteckenden Lachen war in Chicago omnipräsent: Er trat mit den Dreamland Syncopators auf, begleitete mit dem Carroll-Dickerson-Orchester die Shows im Sunset Cafe, trat dort auch selbst als Komiker, Tänzer und Sänger in Erscheinung und glänzte zudem als Solist mit dem Orchester des Vendome-Theaters. Diese Vorstellungen hatten nur noch wenig mit den Kollektiv-Improvisationen des New-Orleans-Jazz zu tun, der längst als altmodisch galt. Doch genau zu diesem Zeitpunkt setzte Armstrong mit seinen ersten eigenen Plattenaufnahmen im New-Orleans-Stil ein unüberhörbares Zeichen.
Armstrongs legendäre Hot Five nahmen innerhalb eines Jahres 24 Stücke auf. Die Verantwortlichen der Plattenfirma OKeh riefen gewöhnlich beim Trompeter an, bestellten zwei oder vier Titel (Plattenseiten) und legten ein Datum fest. Aufgenommen wurde immer am Vormittag, weshalb Armstrong den Club, in dem er gerade spielte, mitten in der Nacht verlassen musste, um noch ein bisschen Schlaf zu tanken. Die Hot Five wurden eigens für die Aufnahmen ins Leben gerufen: Sie waren eine reine Studio-Formation, die kein einziges kommerzielles Konzert gab. Da noch akustisch aufgenommen wurde (jeder Musiker musste in einen eigenen Trichter hineinspielen), waren laute und tiefe Instrumente (Schlagzeug, Kontrabass, Tuba) schwer in Griff zu bekommen und daher verpönt. Armstrong beschränkte sich also neben den drei traditionellen Bläserstimmen des New-Orleans-Jazz (Kornett, Klarinette, Posaune) auf Klavier und Banjo. Eine Klangkombination, die im wirklichen Musikleben nicht vorkam.
Wie die Instrumentierung war auch die Musizierweise der Hot Five eine historische Fiktion. Während in Chicago und New York die kommerziellen Show- und Tanzbands angesagt waren, lieferte Armstrongs Quintett die akademisch-virtuose Vision eines New-Orleans-Jazz, wie es ihn nie gab. Das fragile Kunstprodukt vermischte echte Tugenden des frühen Jazz mit dem neuartigen 4/4-Beat, dem solistischen Konzept des Chicago-Jazz und einer kontrollierten, fast kammermusikalischen Spielhaltung. Das alles in konzentrierten Drei-Minuten-Häppchen: Mehr ließ das Schellack-Plattenformat nicht zu. Die Folgen dieses Retorten-Experiments waren unermesslich und widersprüchlich. Die Hot-Five-Aufnahmen konservierten den New-Orleans-Jazz und etablierten gleichzeitig den "modernen" Thema-Soli-Thema-Aufbau. Sie wiesen Louis Armstrong als den authentischen und zugleich als den zukunftweisenden Trompeter aus. Sie waren reines Studio-Spiel und wurden doch zum Modell der Wirklichkeit. Armstrongs Fiktion erfand den Jazz, wie wir ihn kennen.
Die Aufnahmen mit den Hot Five, den Hot Seven und den Savoy Ballroom Five, die bis Ende 1928 in Chicago entstanden, sind Klangdokumente aus einem geschützten Kunstraum. Der "West End Blues" zählt zu den berühmtesten Einspielungen der Jazz-Geschichte, der "Weather Bird Rag" gilt als erstes instrumentales Studio-Duett. Der Live-Jazz, den Armstrong zu dieser Zeit in Chicago bot, klang definitiv anders: Zeitzeugen versichern, dass er mit King Olivers Band schon mal ein 40-minütiges "High Society" spielte oder im Wettkampf mit anderen Trompetern auch 20 Chorusse über "Chinatown, My Chinatown" blies. Als die wirtschaftliche Rezession, der Kampf gegen das organisierte Verbrechen und die Entwicklungen von Rundfunk und Tonfilm weiter fortschritten, wurden die Auftrittsmöglichkeiten in Chicago jedoch knapp. Armstrong ging schließlich in die Metropole des Showbiz, New York, und war bereit, um alles oder nichts zu spielen. "Alles" hieß in diesem Fall: die Grenzen des Jazz zu überschreiten und ein Popstar zu werden.
Der Trompeten-Virtuose
Louis Armstrong erfand nicht nur die "Grammatik" des Jazz, er setzte auch viele Detail-Entwicklungen in Gang. Er war der erste schwarze Jazzmusiker, der Broadway-Songs ins Repertoire nahm und sie durch seine Aufnahmen zu Jazz-Standards machte. Darunter waren Stücke wie "I Can't Give You Anything But Love" (1929), "Ain't Misbehavin'" (1929), "Exactly Like You" (1930), "I Got Rhythm" (1931) oder "On The Sunny Side Of The Street" (1934). Selbst die alte Gospel-Hymne "When The Saints Go Marchin' In", heute die Erkennungsmelodie des Dixieland, wurde durch Armstrong für den Jazz entdeckt (1938). Er war auch der Erste, der das Crossover mit anderen populären Stilen versuchte, etwa mit Country-Jodlern, Gospel-Chören, Hawaii-Orchestern und Rumba-Rhythmen. Während viele der frühen Jazztrompeter (wie King Oliver oder Bunk Johnson) von der Weltwirtschaftskrise aus dem Business gedrängt wurden, passte sich Armstrong den Gesetzen der Unterhaltungsindustrie an, agierte immer öfter als Vokalist, Komiker und Entertainer und übernahm schlichte Rollen in Hollywood und am Broadway. 1935 verpflichtete er Joe Glaser, einen alten Freund aus Chicago-Tagen, als seinen Manager und sicherte sich so eine Spitzenposition im Massengeschäft der Swing-Ära.
Armstrongs Virtuosität auf der Trompete sorgte noch in den 30er-Jahren regelmäßig für Verblüffung. Seine Lautstärke war legendär: Schon bei den ersten Trichter-Aufnahmen mit King Oliver 1923 musste Armstrong vier bis fünf Meter vom Rest der Band wegrücken, um sie nicht zu übertönen. Die Höhen, die er auf seinem Instrument erklomm, erschienen vielen als nicht ganz geheuer. Der Trompeter Harry Edison zählte bei einem Konzert in Columbus 200 hohe C's in einem einzigen Stück, der Schlagzeuger Harry Dial 1933 sogar einmal 350. Bei Wettkämpfen mit anderen Trompetern glänzte Armstrong gerne mit hohen E's und F's, die er sogar als Anfangs- oder Endtöne eines Solos einsetzte. Einem Kollegen, der die hohen Töne relativ leicht hervorbrachte, riet er jedoch: "Lass die Leute glauben, dass es dir ein wenig schwer fällt. Du lässt es zu einfach aussehen."
Der Trompeter Rex Stewart erinnert sich: "In den 20er-Jahren war das hohe C als höchste Note eines Trompeters akzeptabel. Sie zu treffen oder noch höher zu spielen war schon außerordentlich. Das galt, bis Louis mit seinem starken Ansatz daherkam und Chorusse auf dem hohen F beenden konnte. Viele der Jungs ruinierten ihre Lippen und ihre Karriere, als sie versuchten, wie Satchmo zu spielen." Obwohl Armstrong in diesem Punkt von der Natur gesegnet war, bekam auch er ab 1932 Lippenprobleme. Die Lippencreme, auf die er später schwor, ließ er sich aus Deutschland schicken. Als er sie dem Kollegen Roy Eldridge empfahl, musste der jedoch eine erstaunliche Erfahrung machen: "Ich tat diesen Mist auf meine Lippe und ich konnte eine Woche lang nicht spielen!" Aus Angst, seinen phänomenalen Ansatz (seine "chops") zu verlieren, gönnte sich Armstrong nie einen Urlaub: Aus dem emsig bemühten Slum-Kind wurde ein global agierender Workaholic.
Immer wieder wurde in den 30er-Jahren der Verdacht laut, Armstrong spiele ein präpariertes, vorsätzlich beschädigtes Instrument. Bei seinen Gastspielen kamen gewöhnlich alle Trompeter des Orts zusammen, nicht zuletzt die der sinfonischen Orchester, um Armstrongs Trompete zu inspizieren und einige Töne darauf zu spielen. Etwas Besonderes war an dem Instrument jedoch nicht zu entdecken. Doch entscheidender als Technik, Lautstärke und Tonumfang war Armstrongs Ideen-Reichtum: Seine von melodischen und rhythmischen Einfällen sprühende Phrasierung hatte von Anfang an die Routine des New-Orleans-Jazz gesprengt und eröffnete der improvisierten Musik neue Welten. Der Trompeter Mutt Carey berichtet, wie er einmal den 12-jährigen Armstrong auf die Bühne holte: "Damals war ich der Blues-König in New Orleans, doch als Louis an dem Abend spielte, spielte er mehr Blues, als ich je in meinem Leben gehört hatte. Ich hatte nie gewusst, dass man den Blues auf so verschiedene Art interpretieren kann. Jeder Chorus war anders als der vorige." Der Musikverlag Melrose veröffentlichte schon 1927 ein Notenheft mit Armstrongs auf Platte festgehaltenen Soli und Breaks, die zur Grundlage der Jazz-Entwicklung wurden. Bis heute sind die Erfindungen Armstrongs das Rückgrat der Jazz-Sprache.
Entertainment ohne Ende
Nicht nur Armstrongs Trompete wurde gehört, auch seine Stimme ging um die Welt. Schon bei seiner dritten eigenen Aufnahme-Session (im Februar 1926) kam es zu jenem Vorfall, der als die Erfindung des Scat-Gesangs in die Jazz-Annalen einging: Mitten in einem kleinen Gesangsvortrag fiel Armstrong im Studio das Textblatt aus der Hand. Der Toningenieur bedeutete "Go ahead" - und Armstrong fing an, die Melodie mit Fantasiesilben zu variieren und auszuschmücken, ganz in der Art, wie er Trompete spielte. "Wir hatten unsere liebe Mühe, nicht plötzlich laut loszulachen", erinnerte sich der Posaunist der Aufnahme, Kid Ory. "Natürlich sagte Louis später, er hätte den Text vergessen, aber ich weiß bis heute nicht, ob es wahr ist oder ob er es nicht vielleicht mit Absicht gemacht hat."
Natürlich war Armstrongs "Missgeschick" nicht wirklich die Erfindung des Scat-Gesangs: Das quasi instrumentale Improvisieren mit Silben war schon im Vaudeville und frühesten Jazz als komische Einlage bekannt. Armstrongs Talent wirkte jedoch so frappierend, dass "Heebie Jeebies" zum Schlager der Saison wurde und die weißen Chicago-Musiker Armstrongs Scat im Chor mitsingen konnten: "Eef, gaff, mmmff, dee-bo, duh deedle-la bahm, rip-bip-ee-doo-dee-doot, doo...". Daraufhin hat Armstrong nicht nur den Scat-Gesang immer mehr perfektioniert, sondern seine Vokaleinlagen überhaupt - nach dem Vorbild seiner Trompeten-Phrasierung - freier und spontaner gestaltet und mit improvisierten Worten und Silben bereichert. Die französischen Dadaisten sahen in ihm deshalb einen Geistesbruder, in Amerika wurde Scat-Gesang zu einem Teil des kulturellen Lebens - "wie Micky Maus und Coca-Cola", schrieb der Klarinettist Mezz Mezzrow. Nicht umsonst finden sich die Nonsense-Silben in vielen Gedichten des afroamerikanischen Lyrikers Langston Hughes wieder.
Ohne seine unvergessliche, charakteristische, heiser-kehlige Stimme, deren Vortrag er mit komischer Mimik, gefletschten Zähnen und rollenden Augen begleitete, wäre Louis Armstrong schwerlich zur Ikone des Massen-Entertainments aufgestiegen. Er spielte in mehr als 20 Filmen mit, trat in Hunderten von Fernsehshows auf. Er hatte Vokaleinlagen zusammen mit Bing Crosby, Hoagy Carmichael, den Mills Brothers, Ella Fitzgerald, Jack Teagarden, Velma Middleton, Louis Jordan, Barbra Streisand und vielen anderen. In seinen späten Jahren, als er das Trompetespielen aus gesundheitlichen Gründen reduzierte, sang er erfolgreich Schlager wie "Blueberry Hill", "La Vie En Rose", "Hello Dolly", "Cabaret", "What A Wonderful World" oder "C'est Si Bon". Der kommerzielle Erfolg solcher Aufnahmen überraschte ihn manchmal irgendwo auf Tournee: Als "Hello Dolly" 1964 in die US-Charts stieg, gastierte Armstrong gerade in Puerto Rico. Keiner in seiner Band konnte sich mehr an das Stück erinnern, die Noten blieben unauffindbar. Die Band musste ein Exemplar der Schallplatte aus New York einfliegen lassen, um das Stück für ihre Konzerte einzuüben. "Hello Dolly" wurde zum größten Hit in Armstrongs gesamter Karriere.
Ambassador Satch
Der Zweite Weltkrieg veränderte die Jazz-Szene grundlegend: Der Bebop war erfunden und spaltete die Fans in Modernisten und Traditionalisten. Nachdem die Swing-Big-Bands zehn Jahre lang die Geschicke des Jazz bestimmt hatten, entdeckten die Traditionalisten nun ihre Liebe zum frühen Jazz. Die Dixieland-Nostalgie gipfelte 1947 in dem Film "New Orleans", in dem natürlich Louis Armstrong musikalisch im Zentrum stand, und in dem Song "Do You Know What It Means To Miss New Orleans". Um die Stimmung der Fans zu testen, gab Armstrong im gleichen Jahr ein Doppelkonzert mit seiner Big Band und einer kleinen Dixieland-All-Star-Besetzung. Das Ergebnis war eindeutig: Louis Armstrongs All Stars wurden die fleißigste, disziplinierteste, erfolgreichste Dixie-Band der Geschichte. Mehr als 20 Jahre lang und fast ohne Unterbrechung - bis zu seinem Tod - reiste Armstrong mit dieser Hochleistungs-Besetzung durch alle Kontinente. In Tausenden von Konzerten wurde der Mann mit dem weißen Schweißtuch und der explosiven Bühnenpräsenz zu Amerikas "Botschafter des guten Willens" in der Zeit des Kalten Kriegs.
Die Zeitschrift Down Beat wählte Armstrong 1952 zur bedeutendsten musikalischen Persönlichkeit aller Zeiten. Die New York Times schrieb 1955: "Amerikas Geheimwaffe ist eine Blue Note in Moll. Gerade jetzt heißt sein effektivster Botschafter Louis (Satchmo) Armstrong. Der amerikanische Jazz ist eine Weltsprache geworden." Der Pianist Dave Brubeck machte Armstrongs Botschafter-Funktion 1961 zum Thema eines Musicals: "The Real Ambassadors". Die ständigen Tourneen der All Stars wurden vom US-Außenministerium, dem Radiosender Voice of America und von Limonaden-Konzernen gesponsert. Besonders in Afrika, wo in diesen Jahren ein Land nach dem anderen in die Unabhängigkeit trat, spielte "Ambassador Satch" als schwarzer Amerikaner eine wichtige politische Rolle. Auf ihrer ersten Afrika-Tournee 1956 traten die All Stars in Accra vor mehr als 100.000 Menschen auf.
Doch die kontinuierliche Welttournee und das hohe Bühnentempo kosteten ihren Preis. 1959 erlitt Armstrong bei einem Auftritt in Italien einen schweren Zusammenbruch nach akutem Herzversagen. Ein chronisches Lungenemphysem wurde diagnostiziert, eine typische Trompeter-Krankheit: die Blählunge. Zehn Tage später stand er schon wieder auf der Bühne. Die langjährige Vokalistin der Band, Velma Middleton, erlag den ständigen Strapazen und starb 1960 auf Konzerttournee in einem Krankenhaus in Sierra Leone. Ab 1964 wurden Armstrongs Klinikaufenthalte immer länger, im Herbst 1968 und Frühjahr 1969 lag er wochenlang auf der Intensivstation und musste künstlich beatmet werden. Doch er hörte nie auf, Musik zu machen: Während eines Gastspiels der All Stars im Waldorf Astoria erlitt er im März 1971 erneut eine Herzattacke. Vier Monate später starb er.
Eine politische Rolle spielte Louis Armstrong nicht erst in seinen letzten Lebensjahrzehnten. Als schwarzer Amerikaner, der von Menschen aller Länder und Hautfarben geliebt wurde, konnte er viele Barrieren niederreißen. Er war der Erste, der mit einer aus Weißen und Schwarzen gemischten Band aufnahm (1929). Er war der erste schwarze US-Künstler, der sich selbst im Radio ansagte (1931) - weil sich der weiße Moderator weigerte. Armstrongs komödiantisches Temperament, diese raffinierte Naivität, täuschte häufig darüber hinweg, dass er politisch bewusst handelte. Auch als Friedens-Botschafter und Vorzeige-Amerikaner, der sich vom Lumpensammler zum Millionär hochgearbeitet hat, war Armstrong kein willfähriges Werkzeug der US-Politik. Als der Gouverneur von Arkansas 1957 schwarzen Schülern den Besuch einer High School verbot, sagte Armstrong eine Good-Will-Tour nach Russland kurzerhand ab. Uncle Sams "Onkel Tom" war er nie.
© 2001, 2004 Hans-Jürgen Schaal
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