Kinder, Küche, Klavier und Bebop
Über die Jazz-Pianistin und Pianisten-Witwe Bertha Hope
(1997)
Von Hans-Jürgen Schaal
New York im September. Der Ausläufer eines Tornados über der Karibik bläst schwüle, gewittrige Luft in die Stadt. Es ist Freitagabend. Das West End Gate Café auf der Upper Westside ist vollgepackt mit jungen, lauten Menschen. Kaum einer von ihnen weiß, daß es hinter den Toiletten einen kleinen Saal mit Bühne gibt, wo heute abend ein Jazzkonzert stattfindet. Die Band: Jazzberry Jam, vier freundliche, schwarze Damen um die 60. Die Musik: gefälliger, swingender Mainstream. Nicht weiter aufregend, kämen da nicht immer wieder diese perlenden Bebop-Läufe vom Klavier, diese ingeniösen Tastenkombinationen, ein traumhaftes Akkordspiel. Der Grund, warum auch einige Musiker im spärlichen Publikum sitzen, heißt: Bertha Hope.
Üb die Skalen rauf und runter, Bertha!
"I am a late bloomer", sagt die zierliche Frau mit einem Lächeln. Der Satz stimmt und stimmt auch nicht. Wahr ist: Sie mußte 54 Jahre alt werden, bevor ihre erste Platte unter eigenem Namen erschien. Dennoch ist Bertha Hope alles andere als ein Spätstarter. Schon die Dreijährige kletterte auf den Klavierhocker und spielte Radio-Melodien und Brahms' Wiegenlied nach. Der Vater, ein Belcanto-Sänger, war von 1915 bis 1930 (im Zuge der Harlem Renaissance) in Europa engagiert, ein Zeitgenosse von Josephine Baker und Paul Robeson. "Wir spielten zu Hause viel klassische Musik. Ich spielte oft mit meinem Bruder vierhändig Klavier, und später begleitete ich meinen Vater bei Spiritual-Konzerten." Im High-School-Orchester lernte Bertha Klarinette, Violine, Bratsche und Cello, in der Marching Band auch Perkussion.
Den entscheidenden Jazz-Push erhielt sie 1951, als ihr ein Freund die Aufnahme "Un Poco Loco" des Bop-Genies Bud Powell vorspielte. "Ich spielte es nach Gehör nach und versuchte, diese ungewohnten Harmonien zu entschlüsseln, die verminderte Quinte und all das." Bertha Rosemond - so ihr Mädchenname - war da gerade 15 Jahre alt. Bald darauf verkehrte sie in den Jazzklubs von Los Angeles, hörte Wardell Gray und Dexter Gordon, übte mit Billy Higgins und Ornette Coleman. Mit 16 bekam sie einen Gig in einer Blues-Band: "Der Bandleader kam zu meiner Mutter und holte ihre Erlaubnis ein." Auch bekannte Jazzgrößen der Westküste wie Vi Redd, Teddy Edwards und Les McCann ermunterten und engagierten den Teenager.
Im Haus von Eric Dolphy, ihrem Nachbarn, probte manchmal das Quintett von Max Roach und Clifford Brown, eine der stilprägenden Bands der frühen 50er Jahre. Bertha saß dabei, hörte zu, wagte nicht, das Klavier zu berühren. Der Pianist der Band war Bud Powells jüngerer Bruder Richie, der ihr ein halbes Jahr lang Unterricht gab. "Richie war sehr schüchtern, er schien sich nur am Klavier daheim zu fühlen." 1956 kam er bei einem Autounfall zusammen mit Clifford Brown ums Leben, es war das Ende des Quintetts. Von Richie lernte Bertha die Jazz-Akkorde und -Skalen, von Eric Dolphy die Übungs-Disziplin: "Üb die Skalen vorwärts und rückwärts, rauf und runter, immer wieder", schärfte er der Nachbarin ein. Mit 21 wurde sie Solo-Pianistin in einer Bar in Los Angeles und spielte nach Gehör die Musik ihrer Vorbilder - Bud Powell, Thelonious Monk, Elmo Hope.
Elmo Hope schenkte ihr nur einen ungläubigen Blick
Ähnlich wie Monk oder Herbie Nichols gehörte Elmo Hope zu den großen Nonkonformisten am modernen Jazzklavier. Aus seiner stupenden, klassisch geschulten Technik heraus entwickelte er Kompositionen, die alle gängigen Jazz-Schablonen sprengten. Mit ihren gegenläufigen Linien, ungewohnten Akkorden und ungeraden Taktgruppen schienen seine Stücke für andere Pianisten nicht nachspielbar. Hope spielte mit den Größten seiner Zeit (Coltrane, Rollins, Clifford Brown), er machte eine Reihe von Platten für Blue Note, Prestige und Riverside, aber der große Erfolg stellte sich nicht ein. Anders als Monk, der in den 60er Jahren endlich in Mode kam, blieb Elmo Hope letztlich ein unverstandenes Genie.
"Elmos Musik war lyrischer als die von Bud Powell", sagt Bertha Hope heute. "Er hatte einen weicheren Anschlag, und seine Ideen kamen oft aus der Klassik, vor allem wenn er Balladen spielte. Manchmal lagen seine Hände beim Spielen ganz flach auf den Tasten - wie bei Monk. Was immer er spielte, er erfand ständig dazu. Dieser Erfindungsreichtum steckte auch in der Art, wie er komponierte: Er schrieb nie einfache A-Teile, sondern 7- oder 9taktige Abschnitte. Und er hatte diese Akkord-Konzeption, die ihn vielleicht eines Tages zur Atonalität gebracht hätte. Viele Leute halten ihn für einen Neobopper, aber er war eigentlich einer der Erfinder des Bebop. Bud Powell, Monk und Elmo waren eng befreundet, sie hatten viele Stunden miteinander verbracht und oft ihre Stücke gemeinsam analysiert und geübt."
1957 mußte Elmo Hope wegen Drogenbesitzes seine Cabaret Card für New York abgeben und außerhalb der Stadt nach Arbeit suchen. Er ging mit Chet Baker auf Tournee und ließ sich in Los Angeles nieder. 1958 trat er dort mit Sonny Rollins im Celebrity Club auf, und die 13 Jahre jüngere Bertha Rosemond stellte sich ihm vor. "Als ich ihm sagte, daß ich mich an seinen Stücken versuche und wie fasziniert ich von ihnen bin, schenkte er mir nur einen ungläubigen Blick. Am nächsten Tag habe ich ihm dann seine Komposition 'Dee-Dah' vorgespielt." Elmo Hope war offenbar beeindruckt. 1960 heiratete er Bertha Rosemond, und bald darauf eröffneten die beiden einen gemeinsamen Haushalt in New York.
Daß Bertha nicht nur eine talentierte Pianistin war, sondern musikalisch in mancher Hinsicht eine Seelenverwandte Elmos, entging auch den Musikerkollegen nicht. Als Elmo 1961 eine unbegleitete Solo-Platte aufnahm, fragte ihn der Saxophonist Johnny Griffin, ob er nicht ein paar Duette mit seiner Ehefrau spielen wolle. Die drei Duo-Stücke auf der Platte "Hope-Full" waren Berthas Aufnahme-Debüt und blieben fast 30 Jahre lang ihr einziges Schallplatten-Dokument. Das Cover zeigt sie neben ihrem Mann, eine schlanke, kühle 25jährige im modischen Kostüm, mit hochgestecktem Haar, Ohrclips und dunkler Brille.
1960 brachte Bertha ihr erstes Kind zur Welt: Monica. Und es kam wie in anderen Branchen auch: Die Frau opferte für Ehe und Familie ihren Beruf. "Eine Zeit lang wollte ich sogar das Klavierspielen ganz aufgeben, aber Elmo sagte: Tu's nicht." Elmo war inzwischen oft auf Jobs in Swing- und Traditional-Bands angewiesen, was ihn zunehmend frustrierte. Sagte ihm ein Engagement überhaupt nicht zu, ließ er sich gern von Bertha vertreten. 1967 starb Elmo Hope an einem Herzschlag, noch keine 44 Jahre alt. Bertha war eine 30jährige Witwe mit drei kleinen Kindern. An die Wiederaufnahme einer Jazz-Karriere war vorerst nicht zu denken.
Man lernt Jazz, indem man ihn spielt, sagte Art Blakey
Immerhin gelang es Bertha, neben ihren Aufgaben als Mutter und Hausfrau ein Studium zu beginnen. Sie erwarb einen College-Abschluss und gab Klavierunterricht. "Ich hatte eine 'Telefon-Band' in den 70er Jahren, wir arbeiteten etwa sechs Jahre lang in und um New York. Auch spielte ich viel mit Frauen zusammen: Es war die Zeit, als die Frauen in alle traditionell männlichen Bereiche drängten. Ich mußte damals ein Angebot von Art Blakey ablehnen, der dann JoAnne Brackeen für die Tournee engagierte; sie hatte zwar auch Kinder, aber ich glaube, sie nahm sie einfach mit auf Tour. Art ermutigte mich oft, meine Karriere fortzusetzen. Er sagte: 'Man lernt Jazz, indem man ihn spielt, nicht indem man ihn unterrichtet'."
Erst Jahre später, als auch das jüngste Kind zum Teenager geworden war, beherzigte Bertha Blakeys Rat. Sie lernte Walter Booker kennen, den legendären Bassisten Cannonball Adderleys, und begann eine enge Zusammenarbeit mit ihm. "1982 fing ich an, die Musik neu zu erforschen, gab das Unterrichten für eine Weile auf und arbeitete an meiner Technik." Einer der Musiker, mit denen sie häufig spielte, war der Tenorsaxophonist Junior Cook (1934-1992), der in den 50er Jahren in der Band von Horace Silver bekannt wurde. "Junior machte 1989 eine Platte für SteepleChase, hatte aber nicht genug Material. Damals wechselte man gerade vom LP- zum CD-Format und brauchte plötzlich für eine Plattensession viel mehr Stücke als bisher. Deshalb rief er mich an und bat mich um eine Komposition für seine Aufnahme."
Berthas Stück "You Know Who" machte Cooks dänischen Produzenten auf die Pianistin aufmerksam, und innerhalb von zwei Jahren konnte Bertha drei CDs bei europäischen Plattenfirmen veröffentlichen. Die Jazzwelt staunte: Eine Pianistin, die man längst vergessen hatte, war im Geheimen zu einer unumstößlichen musikalischen Persönlichkeit gereift, die an die Bop-Innovatoren der 50er Jahre erinnert. Berthas individuelle Klavier-Sprache zwischen Bebop, Elmo Hope und ihrem ganz eigenen Formkonzept gehört heute zu den originellsten Spielarten des modernen Mainstream-Pianos. "Mein Stil entspringt einer Art ökonomischem Denken", sagt sie bescheiden, "denn ich habe kleine Hände und könnte nicht die Akkordfolgen greifen, die Oscar Peterson spielt. Natürlich hat mich Elmo Hope in mancher Hinsicht beeinflußt. Einfach durch Zuhören habe ich ihn in mich aufgesogen."
Bertha spielt häufig Stücke ihres verstorbenen Mannes, arbeitet auch konzentriert an einer Notenausgabe seiner Kompositionen. Den Schwerpunkt ihrer Musik bilden aber ihre eigenen Stücke, die so seltsam unberechenbar und überraschend daherkommen wie ihr Klavierspiel. "Ich könnte nicht Jazz-Komposition unterrichten. Ich habe das Stückeschreiben nicht gelernt, ich habe dafür auch kein Rezept. Ich bringe einfach nur meine eigene Ausdrucksweise zu Papier. Viele dieser Songs beginnen ganz fragmentarisch, wie wenn man Stoff für eine Flickendecke sammelt. In mein Notizbuch trage ich Ideen und Fragen ein und setze dann die Fragmente aneinander. Meine Stücke beginnen mit einem Rhythmus, einer Stimmung, dann arbeite ich am Sound - ganz eklektisch, ganz subjektiv."
Manche dieser Kompositionen wuchsen im Tempo von Jahrzehnten. "Between Two Kings", Titelstück der jüngsten CD, verwendet unter anderem ein Motiv, das Bertha schon mit 15 oder 16 Jahren schrieb, als sie gerade die Jazzklubs von Los Angeles zu erkunden begann. Damals ahnte sie noch nicht, daß sie Elmo Hope begegnen würde, seine Frau, die Mutter seiner Kinder, seine Witwe würde und viele Jahre später zum Jazz zurückkehren sollte. Man lernt Jazz, indem man ihn spielt. Manche lernen ihn, indem sie einfach nur ihr Leben leben.
© 1997, 2002 Hans-Jürgen Schaal
© 1997 Hans-Jürgen Schaal |