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Sechs weiße Negerlein
Aufstieg und Niedergang einer Gesangsgruppe
Eine Würdigung der Comedian Harmonists
(1999)

Von Hans-Jürgen Schaal


Die Hauptdarsteller:

Harry Frommermann
geb. 1906 in Berlin, gest. 1975 in Bremen
Initiator der CH, Tenor-Buffo, Arrangeur
1928-1935: CH, 1935-1941: Comedy Harmonists

Robert (Bob) Biberti
geb. 1902 in Berlin, gest. 1985 in Berlin
Mitbegründer der CH, Baß
1928-1935: CH, 1935-1941: Meistersextett

Asparuch (Ari) Leschnikoff
geb. 1897 in Haskovo (Bulgarien), gest. 1978 in Sofia (Bulgarien)
Erster Tenor
1928-1935: CH, 1935-1939: Meistersextett

Roman Cycowski
geb. 1901 in Lodz (Polen), gest. 1998 in San Francisco (USA)
Bariton
1928-1935: CH, 1935-1941: Comedy Harmonists

Erwin Bootz
geb. 1907 in Stettin, gest. 1982 in Hamburg
Klavier, Arrangeur
1928-1935: CH, 1935-1938: Meistersextett

Erich Abraham-Collin
geb. 1899 in Berlin, gest. 1961 in Los Angeles (USA)
Zweiter Tenor
1929-1935: CH, 1935-1941: Comedy Harmonists

Einige Nebenrollen:

Theodor Steiner, Bariton (CH 1928)
Walter Nußbaum, Zweiter Tenor (CH 1928-1929)
Walter Joseph, Klavier (CH 1931)

Hans Rexeis, Erster Tenor (Comedy Harmonists 1935-1941)
Rudolf Mayreder, Baß (Comedy Harmonists 1935-1941)
Ernst Engel, Klavier (Comedy Harmonists 1935-1936)
Fritz Kramer, Klavier (Comedy Harmonists 1936-1941)

... Sengeleitner, Zweiter Tenor (Meistersextett 1935-?)
Alfred Grunert, Zweiter Tenor (Meistersextett ?-1941)
Herbert Imlau, Bariton (Meistersextett 1935-?)
Fred Kassen, Tenor-Buffo (Meistersextett 1935-1939)
Rudolf Zeller, Klavier (Meistersextett 1938-1941)


Im Dezember 1927 erschien im Berliner Lokal-Anzeiger folgende merkwürdige Anzeige.

Achtung. Selten.
Tenor, Baß (Berufssänger, nicht über 25), sehr musikalisch, schönklingenden Stimmen, für einzig dastehendes Ensemble unter Angabe der täglich verfügbaren Zeit gesucht. Ej. 25 Scherlfiliale, Friedrichstr. 136.

Mehr als 70 Menschen meldeten sich daraufhin, getrieben von der Not jenes Winters zwischen Inflationsjahren und Weltwirtschaftskrise - einer Zeit, als viele Firmen bankrott gingen, die Arbeitslosenzahlen stiegen und ein geheizter Raum ein wertvolles Gut war. Mehr als 70 Menschen, die schlicht Geld und Essen brauchten - und von denen kaum einer dem Anforderungsprofil der Anzeige entsprach.

Der Mann, der so selbstbewußt für sein "einzig dastehendes Ensemble" warb (das noch bloßes Hirngespinst war), hieß Harry Frommermann und war gerade erst volljährig geworden, 21. Er hatte im gleichen Jahr seine Mutter verloren (der Vater starb drei Jahre zuvor), hatte den Besitz seiner Eltern verkauft, stand plötzlich auf eigenen Füßen, schlug sich mehr schlecht als recht mit kleinen Schauspielrollen durch und drohte als drittklassiger Komiker zu enden. Sein Vertrag bei der Berliner Volksbühne lief aus, die Zeiten waren schwer, und er war ein Talent ohne Perspektive, ein Musiker ohne Instrument, ein Komiker ohne Publikum.

Zum klassischen Gesang besaß Frommermann ein eigentümlich gebrochenes und eher komödiantisches Verhältnis. Sein Vater, ein orthodoxer Jude, der aus Rußland nach Deutschland gekommen war, sang seinerzeit in Synagogen, wurde dabei vom Dirigenten Arthur Nikisch (1855-1922) "entdeckt", erhielt ein Stipendium in Leipzig, sang ein paar Arien auf der Opernbühne und eröffnete schließlich ein Privatkonservatorium für angehende Kantoren. Nikisch wurde ein Freund des Vaters, die beiden sangen gern Stegreif-Duette am Küchentisch, und der berühmte Dirigent nahm schon den 4-jährigen Harry mit zu Proben der Berliner Philharmoniker. Der witzig improvisierte Gesang der beiden Männer und die klanglichen Anregungen der Orchesterproben gingen an Harry nicht spurlos vorbei: Er begann bald, ganze Konzertpassagen nachzusingen und dabei den Klang der Instrumente zu imitieren. Sein komisches Talent zeigte sich früh.

Doch weder besaß Harry die große Stimme des Vaters noch die Hände eines Pianisten. Er verlor das Interesse an der musikalischen Ausbildung, entdeckte das Theater und inszenierte Schüler-Aufführungen. Klassenclown Harry wollte Schauspieler werden. Er lernte die bekannte Darstellerin Asta Nielsen kennen, kam so an ein Stipendium bei Leopold Jeßner an der Staatlichen Schauspielschule, konnte aber aus disziplinarischen Gründen nicht bleiben: Der geborene Komödiant Harry Frommermann blödelte zuviel und "dudelte" herum, und zwar "im Stil der Revelers", einer damals populären amerikanischen Gesangsgruppe. Er liebte es, mit Jester Nielsen, der Tochter der Schauspielerin, am Klavier Faxen zu treiben und sich für Jazz zu begeistern. Als ihm ein Agent sagte, die Revelers verlangten über 1000 Dollar pro Abend und es sei viel zu teuer, sie nach Deutschland zu holen, erkannte er plötzlich, was sein Talent wert war: Die "deutschen Revelers" mußten her. "Die Idee, so etwas zu machen, lag in der Luft", meinte Frommermann 50 Jahre später.

Was ganz sicher in der Luft lag, war der Jazz. Der Shimmy, der Charleston und der Black Bottom waren damals die führenden Modetänze Europas. 1925 und 1926 gastierte die schwarze Band von Sam Wooding in Deutschland, Kreneks Jazz-Oper "Jonny spielt auf" wurde Anfang 1927 in Leipzig uraufgeführt. Der Jazz galt als frisch und unsentimental, virtuos und erotisch, optimistisch und satirisch. Vor allem verstand man ihn in Deutschland als einen großen Spaßbringer. Der Komponist Hans Pfitzner, ein erklärter Jazz-Gegner, nannte den Jazz 1926 einen "Ohren- und Lachkitzel", verwies ihn in die "Sphäre des Circus, der Equilibristik, des Varieté" und brachte damit auch das Empfinden vieler Jazz-Begeisterter auf den Begriff. Die quäkenden Klarinetten, gestopften Trompeten und glissandierenden Posaunen, die ganz offenbar menschliche Stimmen nachahmten, empfand man vielfach als parodistisch, als musikalisches Kabarett. Diesen "vokalisierten" Klang wiederum stimmlich zu veralbern, lag nahe.

Genau dies taten die Revelers. Die amerikanische Formation - vier Sänger und ein Pianist - entstand um 1920, hieß anfangs Shannon Quartet, später auch Merrymakers oder Singing Sophomores, und kam aus der Tradition des Barbershop- und Vaudeville-Gesangs, wie er in den USA seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert populär war. Anscheinend mühelos verbanden die Revelers die neuen Rhythmen des Jazz mit virtuoser Komik, präziser Leichtigkeit und einer quasi instrumentalen Stimmführung. Zu ihrem Repertoire gehörten Melodien von Jerome Kern, George Gershwin, Cole Porter, Arthur Schwartz oder Vincent Youmans - Songs, die in den 20er Jahren zu Jazz-Standards wurden.

Für den amerikanischen Jazz blieben die Revelers dennoch unbedeutend und standen im Schatten anderer Gesangsgruppen. Insbesondere die Mills Brothers, eine schwarze Formation, die gezielt die Instrumente einer Jazzband nachahmte, werden gerne als Nachfolger und Vollender der Revelers genannt. Die Boswell Sisters, die zuvor auch als Instrumentalistinnen mit den Philharmonikern von New Orleans gearbeitet hatten, setzten schon 1925 nahezu unerreichbare Maßstäbe für jazzigen Ensemble-Gesang. Die Rhythm Boys um Bing Crosby machten 1927 wichtige Aufnahmen mit dem Orchester von Paul Whiteman. Alle diese Formationen waren den Revelers gesangstechnisch und in ihren Jazz-Qualitäten weit überlegen. Will Friedwald, heute der beste Kenner des amerikanischen Jazzgesangs, nennt die Revelers knapp und vernichtend "godawful".

In Deutschland jedoch, wo Männer-Gesangsgruppen bis dahin eine Angelegenheit steifer Heimatpflege waren, löste die jazzige, schlüpfrige Art der "Revellers" (so schrieb man sie hierzulande) Ende der 20er Jahre einen Sturm der Begeisterung aus. Hanns Eisler und Kurt Tucholsky gehörten zu ihren Bewunderern, und in einem Song von Friedrich Hollaender hieß es 1929: "Gefragt sind die Revelers, von wegen sexuell". Nicht nur Harry Frommermann war ein Fan der Gruppe: Auch Robert Biberti, der einzige akzeptable Sänger, der sich auf die Anzeige hin meldete, verstand sofort, was Frommermann plante. Kaum hatte er als Talentprobe die Mozart-Arie "O Isis und Osiris" geschmettert, ließ Frommermann auch schon den Namen "Revelers" fallen, und aus Biberti platzte es heraus: "Das ist das Unerhörteste, was es bisher im Gesang an Präzision, Ausgleich der Stimmen und rhythmischer Wirksamkeit gegeben hat. Das sind Artisten der Kehle."

1928 - Ein Ensemble formiert sich

Biberti wußte, wovon er sprach, denn tatsächlich war er ein Berufssänger, wie ihn die Anzeige forderte. Seine Mutter war Konzertpianistin, der Vater war als Kammersänger der 1. Bassist an der Königlichen Staatsoper in Berlin gewesen, nahm an den Richard-Wagner-Tourneen teil, die Angelo Neumann veranstaltete, und gründete selbst eine Gesangsgruppe, das Meistersinger-Quartett. Sohn Robert, genannt Bob, besaß zwar keine akademische Ausbildung, hatte aber die Stimme des Vaters geerbt und von der Mutter die zwei Sarastro-Arien gelernt, mit denen er gerne glänzte. Er half, obwohl nicht jüdisch, in der Synagoge aus, war an verschiedenen Bühnen Berlins als Chorsänger und in kleinen Rollen engagiert, sang in Opern und Operetten, in Berliner Hinterhöfen und Freiluftlokalen und zu Stummfilmen im Kino. Auch er war ein geborener Komiker und vermochte mit seiner Baßstimme groteske Wirkungen zu erzielen. Als er Frommermanns Anzeige las, war er gerade als Chorsänger im Großen Schauspielhaus engagiert.

Biberti war es auch, der die andere Eckstimme des zukünftigen Ensembles beibrachte: den hohen Tenor Ari Leschnikoff, einen bereits 30-jährigen Kollegen aus dem Chor des Schauspielhauses. Der kleine Bulgare, der schon als Kind den 1. Sopran im Kirchenchor sang und später bei Opernsänger Ivan Vulpe studierte, kam 1922, von der Armut getrieben, nach Deutschland, wo er vorwiegend als Kellner sein Geld verdiente. Bei einem Wettbewerb für ein Stipendium am Stern'schen Konservatorium sang er die Zigeunerromanze Ugalok, die Arie des Lenski aus Eugen Onegin und eine Arie aus La Bohème und belegte damit unter Hunderten von Konkurrenten einen der heißbegehrten neun Siegerplätze. Beim Examen 1926 sang er wiederum Ugalok, seine Lieblings-Nummer. Für eine Solistenkarriere war seine Stimme sicherlich zu dünn, aber getragen vom Ensemble sollte sie berückende Wirkung entfalten. Ohne in den Falsett zu gehen, meisterte Leschnikoff das e (oder gar f) überm hohen c und hatte mit seinem Schmachtton vor allem bei Frauen einen enormen Erfolg. Biberti, der Bassist, sprach von einer "fast exotischen Silberfadenstimme von unglaublicher Höhe und Wärme".

Zusammen mit einem Bariton und einem 2. Tenor, die beide nach einiger Zeit ausgetauscht wurden, probten diese drei Sänger am 5. Januar 1928 zum ersten Mal für Frommermanns "einzig dastehendes Ensemble". Der Gründer, der - ohne Zuhilfenahme seines Klaviers - 15 Partituren für seine fiktiven "deutschen Revelers" fertiggestellt hatte, noch bevor er die Anzeige aufgab, sah sich als "spiritus rector" und wollte eigentlich im Ensemble gar nicht selbst mitsingen. Doch die humoristischen Elemente seiner Arrangements waren so eng mit seiner ureigenen Vokalkomik verknüpft, daß sich Frommermann rasch als "Tenor-Buffo" in die Gruppe integriert sah: Der fünfstimmige Gesang wurde ihr Markenzeichen und unterschied sie von ihren amerikanischen Vorbildern.

Tatsächlich war und blieb Frommermann die kreative Seele des Ensembles. Er schrieb - ohne akademische Ausbildung, aber mit originärer Musikalität - zwei Drittel aller Partituren und prägte mit seinem Komödiantentum und seinen Klang-Imitationen das Image der Gruppe. Für den bekannten Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt waren Frommermanns Faxen "Pfeffer und Salz des Ensembles". Frommermann über Frommermann: "Eigentlich bin ich weder Tenor noch Bariton noch Baß. Ich bin der kleine Mann, der die komischen Geräusche macht, also eine Art musikalischer Schauspieler. Ich kann meine Stimme in eine Trompete verwandeln oder in eine Tuba, in ein Waldhorn und, wenn es sein muß, auch in eine Kesselpauke."

Die Anfänge der Ensemble-Arbeit waren äußerst mühsam und verlangten von allen Beteiligten ein Höchstmaß an Idealismus und Zuversicht. Frommermanns Initiative barg zwar die vage Chance, in schweren Zeiten zu ökonomischem Erfolg zu kommen; sie verlangte jedoch gleichzeitig, daß die Sänger ihr wertvollstes Gut, die ausgebildete Stimme, auf nicht absehbare Zeit ohne Bezahlung in ein unsicheres Unternehmen investierten. Monatelang probte man mindestens vier Stunden täglich, ehe die ersten drei, vier Nummern standen. Hier wurde Pionierarbeit geleistet, denn der burleske Männergesang hatte in Deutschland wenig Tradition. Die nach dem I. Weltkrieg noch vorhandenen humoristischen Herren-Quartette, Tanzkomiker und Varieté-Ensembles waren der raffinierten Jazz-Mode nicht gewachsen gewesen, und für einen deutschen Charleston-Gesang gab es kein Vorbild.

Die klassisch ausgebildeten Sänger um Frommermann waren vielmehr daran gewöhnt, ein Orchester donnernd zu übertönen - und sollten sich nun in ein filigranes Ensemble-Klangbild einfügen. Frommermann berichtet: "Mühselig mußten wir die Tugend erlernen, Zurückhaltung zu üben, um hören zu können, was der Nebenmann sang. So begannen wir, fast im Flüsterton zu singen, und konzentrierten uns lediglich auf den Text." Das alles erwies sich als weit schwieriger als erwartet. Immer wieder hörten, studierten und imitierten die fünf Sänger die Schallplatten der Revelers, um deren flüssige Leichtigkeit zu erlernen. Ensemblekultur war gefragt, höchste Präzision in Rhythmus, Timing und Sprache - eine ungewohnte Komplexität, die aber gleichzeitig einfach, mühelos und wie selbstverständlich wirken sollte.

Die notwendige Tongenauigkeit im Zusammenklang machte bald eine Klavierbegleitung unumgänglich. Ari Leschnikoff, der 1. Tenor, vermittelte einen jungen Pianisten, Erwin Bootz, der damals noch an der Musikhochschule studierte. Bootz' Vater war Vertreter für Grammophone gewesen, seine Mutter baute ein Musikhaus in Stettin auf, und der Sohn ließ sich von all den Muster-Schallplatten inspirieren, zu denen er dort Zugang hatte. Am Klavier spielte er Foxtrot-Melodien nach, imitierte den Liszt-Schüler Eugen d'Albert, langweilte sich mit Clementi-Sonaten und trickste sich durch Webers "Aufforderung zum Tanz". Thomaskantor Günther Ramin in Leipzig wurde befragt, und der entschied: Der Junge muß Musik studieren. Mit Stücken von Bach, Beethoven und d'Albert bestand der 17-jährige 1924 die Aufnahmeprüfung zur Berliner Musikhochschule. Während des Studiums entdeckte er seine Liebe zu Theater, Kabarett und Musikkomik und entwickelte das Talent, aus klassischen Stücken auf Zuruf Schlager zu machen - aus einer Opernarie einen Tango, aus einer Bachkantate einen Foxtrot.

Bootz war durch sein Elternhaus finanziell abgesichert: Er mußte sich nichts hinzuverdienen und dachte in Fragen der Arbeitsdisziplin etwas großzügig. Dennoch war er für das im Entstehen begriffene Gesangs-Ensemble genau der Richtige. Seine pianistische Vielseitigkeit zwischen Liszt und Jazz ließ ihn immer wieder eine verblüffende Begleitung finden, die die witzigen Brüche in den Arrangements auffing und stützte. Wie die Sänger übte er sich in Zurückhaltung: Frommermann beschrieb Bootz' Spiel als "phantastisch leicht, wie mit Katzenpfötchen". Notiert wurde die Klavierbegleitung nie. Es erwies sich als wertvoll, daß Bootz eine akademische Ausbildung und praktische Varieté-Erfahrung mitbrachte. Er kürzte und korrigierte zuweilen Frommermanns Arrangements und begann selbst für die Gruppe zu schreiben.

Auch die beiden übrigen Ensemble-Mitglieder besaßen eine solide musikalische Schulung. Roman Cycowski, der Bariton, entstammte wie Ensemble-Gründer Frommermann einer orthodoxen jüdischen Familie. Mit 7 Jahren sang er schon in der Synagoge, trat dann die Ausbildung zum Rabbiner und Kantor an und studierte Kapellmeister bei einem jüdischen Komponisten. 1920 floh er aus seiner polnischen Heimat nach Deutschland und sang auch hier in den Synagogen. Schließlich stellte er sich beim Stadttheater in Beuthen vor: Er kannte weder Opern noch Operetten, sang aber den ihm vorgelegten Auszug aus dem Zigeunerbaron mühelos vom Blatt. Dem Engagement in Beuthen folgten Zoppot, Stralsund, Bad Oeynhausen, Guben, Cottbus, Rostock. Cycowski sang den Dr. Falk in der Fledermaus, den Wolfram im Tannhäuser, den Escamillo in Carmen, den Graf von Luna im Troubadour, Germont in La Traviata. Er studierte in Berlin bei Max Barth und in Mailand bei Stracciari, sein Vorbild als lyrischer Bariton war Heinrich Schlusnus. Cycowski sang in Kinos in der Provinz, wurde Kantor in Dresden, kehrte zur Oper zurück und gehörte Ende 1927 zusammen mit Robert Biberti und Ari Leschnikoff zum Chor des Großen Schauspielhauses in Berlin. Sein schöner, großer Bariton, in den Koloraturen des Tempelgesangs geschult, sollte Frommermanns Ensemble nicht nur harmonische Sicherheit geben, sondern auch klangliche Wärme und Kraft.

Aus großbürgerlich jüdischem Haus stammte dagegen Erich Collin, der 2. Tenor. Da ihm sein Vater, der Berliner Kinderarzt Dr. Paul Abraham (ein Freund Albert Einsteins), die Ausbildung zum Musiker verbot, studierte Collin Medizin und machte eine Banklehre. Erst 1924 - nach dem Tod des Vaters - schrieb er sich an der Berliner Musikhochschule ein. Er studierte Violine und Gesang, war in der Opernklasse, trat daneben in Operetten als Buffo auf und hatte ein ausgeprägtes Talent für Sprachen. An der Hochschule lernte er Erwin Bootz kennen, ebenfalls aus gutbemitteltem Hause, der ihn 1929 zur Frommermann-Truppe brachte, wo die Stelle des 2. Tenors neu besetzt werden mußte. Collin machte seine Sache hervorragend: Er besaß eine eher "flach temperierte Stimme" (Bootz), die Leschnikoffs Timbre nicht im Wege stand, verfügte aber zugleich über die musikalische Kultur und harmonische Sicherheit, die ein 2. Tenor für den Akkordaufbau mitbringen muß.

1932 - Die deutschen Revellers erobern die Philharmonie

Trotz Talent, Ausbildung und Probendisziplin war es ein weiter weg zur Ensemblekultur. Das erste Vorsingen im Varieté-Theater "Scala" Ende März 1928 endete noch mit einem Fiasko. Dennoch gab die Gruppe nicht auf: Jeder von ihnen hatte begriffen, daß hier etwas faszinierend Neues im Entstehen war, das man nicht einfach hinwerfen konnte. Am 1. April 1928 gründete das Ensemble eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts und gab sich den Gruppennamen "Melody Makers". Von nun an wurde nicht selten zweimal am Tag geprobt - und immer öfter in Asta Nielsens Musiksalon. Dort sang man auch im August dem Agenten Bruno Levy vor, der die Qualität der über Monate gereiften Gruppe sofort erkannte. "Die sind ja besser als die Revelers", so pries er sie dem damaligen Revue-König Eric Charell an. Charell gab ihnen das erste Engagement: Als "Zwischenmusik" einer Revue trat das Ensemble allabendlich vor etwa 3500 Menschen auf und kassierte dafür 3000 Mark im Monat - 500 für jeden. Charell war es auch, der dem Ensemble den endgültigen Namen gab: Comedian Harmonists. In diesen zwei Worten war bereits alles enthalten, wofür das Ensemble berühmt werden sollte: das Komödiantentum, der Harmoniegesang und eine ironisch gebrochene Förmlichkeit.

Obwohl die ersten Engagements und Plattenaufnahmen nicht immer erfolgreich verliefen, machte das Ensemble schnell Karriere. Die Popularität der Revelers hatte den Boden bereitet, die Novität deutschen "Jazz"-Gesangs war eine kleine Sensation, und die sängerisch hohe Qualität der Darbietung tat ihr übriges. Als "Einlage" in verschiedenen Revuen wurden die Comedian Harmonists schnell zum "Clou des Abends". Kritiker feierten "die besten Jazz-Sänger, die wir bisher gehört haben", "sechs weiße Negerlein", "Jazzgesang in Vollendung". Nur kurze Zeit sah sich das Ensemble gezwungen, mit schlüpfrigen Vaudeville-Einlagen in Nachtclubs sein Überleben zu sichern. Bereits Ende 1929 hatten die "deutschen Revellers" ihren ersten Rundfunkauftritt und schlossen einen Exklusiv-Plattenvertrag mit Electrola. Das Ensemble nahm in der Folgezeit mindestens 20 Titel pro Jahr auf und kassierte jährliche Platten-Tantiemen von rund 25000 Mark. Als die "echten" Revelers 1929 erstmals nach Berlin kamen, suchten die deutschen Herausforderer sogar den direkten Vergleich.

Die Comedian Harmonists konnten nicht länger "Zwischenmusik" bleiben: Sie sprengten bald den Rahmen jeder Revue. Im Januar 1930 präsentierten sie sich erstmals mit einem eigenen abendfüllenden Konzertprogramm, das 28 bis 30 Nummern umfaßte. Die Premiere im Leipziger Schauspielhaus brachte ihnen den endgültigen Durchbruch: Das Publikum schrie und trampelte wie beim Jazzkonzert, und die Presse erkannte, daß auch einfache Schlager zu kleinen Kunstwerken werden können. Im gleichen Jahr traten die Comedian Harmonists erstmals im Film auf - zehn weitere Filme sollten folgen. Bald füllten sie die Konzertsäle wie zuvor nur Enrico Caruso und fanden zunehmend auch die Anerkennung des etablierten Klassik-Betriebs. 1931 wurden sie vom Freundeskreis des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters eingeladen, einem ihrer erklärten Bewunderer ein Ständchen zu singen: dem Dirigenten Willem Mengelberg. Im Folgejahr krönten sie ihren Siegeszug mit einem Auftritt in der Berliner Philharmonie, dem Tempel der hohen Kunst, der bis dahin von keinem Schlager-Rhythmus entweiht worden war. Mit 2700 Besuchern war das Konzert nicht nur ausverkauft, es diente auch als Nachweis künstlerischen Werts: Das Kultusministerium stellte den Comedian Harmonists daraufhin den begehrten "Kunstschein" aus.

Die Konzertgagen beliefen sich auf bis zu 8000 Mark monatlich für jedes Ensemble-Mitglied. Das war ein enormer Betrag, wenn man bedenkt, daß eine gute Mahlzeit im Wirtshaus damals 2 Mark kostete und ein Einzelzimmer im besten Hotel einer mittleren deutschen Großstadt für 5 bis 8 Mark pro Nacht zu haben war. So viel Erfolg rief natürlich auch Nachahmer auf den Plan: Die Abels, die Kardosch-Sänger, die Harmonie-Sänger und die Harmonisten waren die bekanntesten Konkurrenten. Um überhaupt noch proben und neue Stücke erarbeiten zu können, mußten die Comedian Harmonists bereits 1931 ihrer Konzertaktivität Grenzen setzen. Fünfzehn Auftritte pro Monat sollten das Maximum sein, weitere fünf Tage im Monat waren für Film-, Rundfunk- und Plattenaufnahmen reserviert, die restliche Zeit diente den Proben. Am Ende hatte man ein Repertoire von über 200 Nummern zusammen, das von deutschen Volksliedern über leichte Klassik bis hin zu witzigen Schlagern und Jazz-Bearbeitungen reichte.

Ein Blick auf die Plattenaufnahmen zwischen 1928 und 1935 beweist die Vielseitigkeit des Ensembles. Die amerikanischen Jazz- und Broadway-Songs, die an der Wiege der Comedian Harmonists standen, bildeten nur etwa ein Viertel des Repertoires - vertreten durch Nummern wie "Tea for Two", "Whispering" oder den als (wortlose) Instrumenten-Imitation gesungenen "Creole Love Call". Manche dieser Stücke übertrug man auch ins Deutsche oder Französische: "Stormy Weather" hieß dann "Ohne dich" oder "Quand il pleut", "Night and Day" hieß "Tout le jour" oder "Tag und Nacht", aus "Close your eyes" wurde "Komme im Traum", aus "Varsity Drag" wurde "Anna hat Geld". Ganz im Gegensatz zu dieser modischen Internationalität standen die deutschen Traditionslieder wie "Am Brunnen vor dem Tore", "In einem kühlen Grunde", "Guter Mond, du gehst so stille" oder "Sah ein Knab' ein Röslein stehn". Dieser "volkstümliche" Sektor des Repertoires wurde vom Ensemble oft mit überraschender Würde und desto stärkerer Wirkung dargeboten.

Dagegen mußten sich etliche Melodien der "leichten Klassik" humoristische Färbungen und Klang-Imitationen gefallen lassen - etwa die Strauß-Werke "An der schönen blauen Donau" und "Perpetuum Mobile", Dvoràks Humoreske ("Eine kleine Frühlingsweise"), Brahms' Ungarischer Tanz Nr. 5, Boccherinis Menuett, Rossinis Ouvertüre zum Barbier von Sevilla, Offenbachs Barcarole, Suppés Leichte Kavallerie. Am bekanntesten wurden die Comedian Harmonists durch ihre flott-frechen Schlagermelodien. "Veronika, der Lenz ist da", "Mein kleiner grüner Kaktus", "Ein Freund, ein guter Freund", "Ich hab' für dich 'nen Blumentopf bestellt" oder "Wochenend und Sonnenschein" verbanden Jazz-Rhythmik mit komischem Varieté. Auch hier wirkten die Revelers inspirierend: Ihre Version von Herman Hupfelds "When Yuba Plays the Rumba on the Tuba" gab zum Beispiel das Modell ab für "Der Onkel Bumba aus Kalumba". Einige dieser Spaß-Nummern wurden so populär, daß die Comedian Harmonists sie für den ausländischen Markt sogar in der Fremdsprache aufnahmen. "Mein kleiner grüner Kaktus" verwandelte sich in "J'aime une Tyrolienne", und "Das ist die Liebe der Matrosen" wurde als "Les gars de la marine" fast zu einer zweiten französischen Nationalhymne.

Die Musik der Comedian Harmonists ist uns heute so vertraut, daß wir die historische Leistung der Gruppe gerne unterschätzen. Die einzigartige Kombination von fünf individuellen Stimmen und die stilistischen Pioniertaten zwischen Jazz und Klassik waren nur zwei Faktoren für den Erfolg der Comedian Harmonists. Eine wichtige Voraussetzung bildete auch die organisatorische Disziplin. Komiker sind bekanntlich Selbstdarsteller, und Rangeleien und Machtkämpfe können da nicht ausbleiben. Wenn eine solche Truppe über Jahre zusammenhalten will, muß jeder lernen, seine persönlichen Empfindlichkeiten dem Wohl des Ensembles unterzuordnen. Geschickt verteilte man die anstehenden Aufgaben auf alle Mitglieder: Frommermann (der Gründer) war der Haupt-Arrangeur, Bootz (der Pianist) der offizielle musikalische Leiter. Der hünenhafte Biberti vertrat das Ensemble in geschäftlichen Dingen, der sprachgewandte Collin führte die Korrespondenz und die Finanzen, der ehemalige Militärschüler Leschnikoff kontrollierte die Garderobe. Jeder übernahm einen Teil der Verantwortung.

Disziplin prägte auch die künstlerische Arbeit. Die peinlich genaue dynamische Abstimmung, Synchronität und Artikulation der Comedian Harmonists waren ohne Beispiel und übertrafen das Vorbild der Revelers bei weitem. Weil das Ensemble noch im größten Konzertsaal jedes Wort verständlich artikulierte, sind auch die rauschenden und knisternden Tondokumente der Comedian Harmonists heute noch mit Genuß anzuhören. "Dazu bedurfte es aber einer gewissen Entpersönlichung der Stimme", gab Harry Frommermann zu bedenken. "Keiner konnte voll aussingen. Der Gesang mußte so verhalten vorgetragen werden, daß er immer menschlich blieb, biegsam, nachgiebig und schnell wechselnd in Tonhöhe und Rhythmus." Andererseits war jeder der Sänger in der Lage, solistisch hervorzutreten und sein komisches Talent auszuspielen: Das Ensemble bildete nicht nur ein hochdiffiziles Vokalensemble, sondern zugleich eine flotte Komikertruppe. Man entwickelte witzige Choreographien und parodistische Qualitäten - Gesten, Bewegungen, Pantomime, Tanzschritte - und wußte diese mit der besonderen Vokalartistik zu verbinden. "Und wenn es keine Einmischungen von außen gegeben hätte", sagte Erwin Bootz 1975, "wäre die Gruppe bis in ihr Alter zusammengeblieben und hätte die Leute erfreuen können."

1935 - Der Konflikt mit der Politik

Die Comedian Harmonists waren nicht nur künstlerisch einzigartig, sie waren zugleich ein Symbol: Sie repräsentierten eine weltoffene, demokratische Haltung, sie verkörperten die amerikanische Erfolgs-Philosophie der "Self-made Men", sie standen für den neuen Geist der deutschen Republik. Ihre jazzigen Rhythmen, ihre verspielte Komik und ihre weiße Tenniskleidung strahlten eine modische, anglophile Lässigkeit aus, die mit preußischem Heldentum und steifem Kulturkonservatismus schwer vereinbar war. Wie zum Beweis füllte dieses Ensemble aus Berlin auch in Holland, Frankreich, Belgien, Skandinavien, Österreich, Ungarn, der Schweiz, Italien und der Tschechoslowakei die Säle. Mit ihren drei jüdischen und drei nicht-jüdischen Mitgliedern waren die Comedian Harmonists zudem ein lebendes Dokument für die Vitalität der deutsch-jüdischen Synthese. Den Nationalsozialisten war soviel "Undeutsches" natürlich ein Dorn im Auge. Bereits 1932 hörten rechtsgerichtete deutsche Veranstalter auf, das Ensemble zu engagieren, und immer mehr Förderer gingen auf Distanz.

Als die Nazis 1933 an die Macht gekommen waren, feierten die Comedian Harmonists zunächst ihre größten Erfolge: Die Konzertsäle waren übervoll, der Konzertbesuch wurde zum harmlosen Protest gegen die Nazi-Politik. Doch Schritt für Schritt beschnitten die neuen Machthaber dem Ensemble die Freiheit. Ab Mitte 1933 nahmen die Nazi-Behörden die Vergünstigungen, die der Kunstschein garantierte, nicht mehr zur Kenntnis. Mit willkürlich festgesetzten Zwangsabgaben machten sie Veranstaltern, die die Comedian Harmonists buchten, das Leben schwer. Nach einem erneuten Auftritt in der Berliner Philharmonie im November 1933 mischte sich auch zunehmend Nazi-Demagogie in die Konzertkritiken: Von "widerlichem Gequäke" und "plärrender Jazztechnik" war die Rede. Obwohl das Ensemble zu Kompromissen bereit war und mehr deutsche Volkslieder ins Programm nahm, wurden im März 1934 einzelne Konzerte von den lokalen Behörden kurzfristig verboten. Der Grund: Ein neuer Erlaß erlaubte nur noch Mitgliedern der Reichsmusikkammer den öffentlichen Auftritt, und über die Aufnahmeanträge der Comedian Harmonists war noch nicht entschieden worden.

Auch das Konzert in der Tonhalle in München am 13. März 1934 wurde zunächst untersagt, durfte dann aber doch unter strengen Auflagen stattfinden. Unter anderem mußte sich das Ensemble verpflichten, danach nie mehr in München aufzutreten. Ein Abgesandter der Münchner Gauleitung sprach vor dem Konzert zum Publikum, warnte es vor dem "entarteten Kunstgenuß" und forderte es auf, die Eintrittskarten an der Kasse zurückzugeben. Stattdessen kam es zu einer beispiellosen Demonstration der Unbotmäßigkeit: 1700 Menschen erhoben sich und empfingen das Ensemble mit orkanartigem Jubel, Getrampel und Bravo-Rufen.

Nach den Vorkommnissen im März 1934 konnten die Comedian Harmonists nicht mehr in Deutschland auftreten. Sie lebten weiterhin in Berlin und reisten in deutschen Eisenbahnen, gaben aber alle ihre Konzerte im Ausland. Immer öfter sangen sie in den Sprachen der Gastländer und hatten in Paris mit einem rein französischen Programm einen großen Erfolg. Im Juni 1934 wurde das Ensemble sogar nach New York eingeladen. Die Comedian Harmonists gaben dort 30 bis 40 Radioauftritte sowie auf einem Flugzeugträger der U.S. Navy ein Konzert, das in alle Schiffe der Flotte übertragen wurde: 85000 Marinesoldaten hörten zu. Dennoch war die Amerika-Reise ein Mißerfolg: Die Presse schwieg die Besucher aus Nazi-Deutschland tot, eine Tournee kam nicht zustande, und vage Pläne, in die USA zu emigrieren, zerschlugen sich. Man kehrte nach Deutschland zurück, wo die Nazi-Politik den Keil immer tiefer zwischen die jüdischen und die nicht-jüdischen Mitglieder des Ensembles trieb. Im Februar 1935 erging der Bescheid, daß die "Nichtarier" nicht in die Reichsmusikkammer aufgenommen würden, daß sie somit ihr Recht auf Berufsausübung verlören und das Ensemble in seiner bisherigen Zusammensetzung verboten sei. Eine Woche nach dem Verbot machten die Comedian Harmonists dennoch eine letzte Plattenaufnahme. Dann emigrierten Frommermann, Cycowski und Collin mit ihren Ehefrauen, während sich Biberti, Leschnikoff und Bootz zu diesem Schritt nicht entschließen konnten. Beide Parteien wollten unter dem Namen "Comedian Harmonists" neue Ensembles aufbauen.

Um vor deutschsprachigem Publikum arbeiten zu können, ließen sich die Emigranten in Wien nieder. Sie hatten ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren, alle Besitztümer waren in Deutschland geblieben. Man mußte Darlehen aufnehmen und begann daher sofort mit der Suche nach einem neuen 1. Tenor, einem Baß und einem Pianisten. Vier Wochen lang dauerte das Vorsingen und Vorspielen, dann folgten monatelange Proben. Ihre ersten Auftritte hatten die neuen Comedian Harmonists (später: Comedy Harmonists) in Pariser Nachtklubs, ihre ersten Platten besangen sie auf französisch. Der Macht der Nazis waren sie dennoch nicht entkommen: Auf Tourneen mußten sie einen Bogen um Deutschland schlagen, in Italien wurden Konzerte abgesagt, weil Hitler auf Staatsbesuch kam, und im März 1938 marschierten die deutschen Truppen schließlich auch in Wien ein. Das Ensemble emigrierte nach London und ging mit Nansen-Pässen für Staatenlose auf Welttournee - bis nach Südamerika, Südafrika und Australien. Doch der Schatten Hitlers blieb: In England, Kanada und den USA richtete sich die deutschenfeindliche Stimmung (trotz eines englischsprachigen Programms) gegen das Ensemble. Nur in Australien fanden Frommermann & Co. ein offenes Ohr: Drei Jahre in Folge (1937-1939) feierte man dort ihre Tourneen und bot ihnen schließlich einen langjährigen Rundfunk-Vertrag an. Aber da war das Ensemble gerade in den USA und saß fest: Wegen Hitlers U-Boot-Krieg ging kein Dampfer mehr nach Australien. Anfang 1941 löste sich die Gruppe auf.

Die in Deutschland gebliebenen Mitglieder der Comedian Harmonists scheiterten ebenfalls an der Politik der Nazis. Auch in Berlin sangen wochenlang die Bewerber vor, ehe man einen neuen 2. Tenor, Bariton und Tenor-Buffo gefunden hatte: Fünf Monate Proben folgten. Da die Alt-Mitglieder alleinige Inhaber der Gruppe blieben und die Neulinge bloße Lohnempfänger, stellte sich der alte Ensemble-Geist nicht ein. Es kam zu zahlreichen Umbesetzungen und sogar zu politischen Denunziationen innerhalb des Sextetts. Zudem verboten die Nazis dem Ensemble nicht nur alle fremdsprachigen Lieder, sondern auch jede als "jüdisch" verdächtige Musik: Weder die Urheber noch die Verleger durften Juden sein. Außerdem wurde dem Ensemble untersagt, den Namen "Comedian Harmonists" oder irgendeinen anderen englischen Namen zu führen. In der Not erinnerte sich Biberti an das Meistersinger-Quartett seines Vaters und wählte den Namen "Meistersextett", was von den Nazis als "anmaßend" empfunden wurde. Das Ensemble gab dennoch bis zu 140 Konzerte im Jahr, ehe es Anfang 1941 endgültig verboten wurde. Die Nazi-Propaganda befand, die Musik des Meistersextetts klinge "wimmernd" und "verweichlicht" und sei nicht geeignet, "den Wehrgedanken des deutschen Volkes zu stützen".

Nachklang

Erich Collin, der vornehme 2. Tenor und Fremdsprachen-Experte, versuchte in den USA sein Glück als Verkäufer - für Wein, Lexika, Damenbekleidung. Sein väterlicher Freund Albert Einstein verschaffte ihm kurzzeitig ein Lektorat für altdeutsche Musik an der NYU, eine Weile leitete Collin auch ein neues Vokal-Ensemble. Er arbeitete in einer Plexiglas-Fabrik, bei einem Flugzeughersteller und als Plastik-Designer. Er starb mit 61 Jahren bei einer Blinddarmoperation.

Roman Cycowski, der herrliche Bariton rabbinischer Schule, übernahm einen US-Nachtklub und verlor damit viel Geld. Dann fand er zu seiner ursprünglichen Bestimmung zurück und wurde Kantor in Los Angeles. Sechs Jahre lang sang er jeden Abend im Gottesdienst, leitete den Chor und unterhielt nebenbei ein Gesangsstudio in Hollywood. 1947 übernahm er den Beth-Israel-Tempel in San Francisco, gründete einen Kinderchor, brachte Opern, Jazz und alte liturgische Gesänge in den Tempel. Mit über 70 Jahren zog er sich nach Palm Springs zurück und übernahm dort die Kantorenstelle. Er starb mit 97 Jahren.

Harry Frommermann, der Arrangeur, Tenor-Buffo und Klänge-Imitator, änderte seinen Namen in Frohman, wurde US-Staatsbürger und im Mai 1943 zur Army eingezogen. Nach dem Krieg arbeitete er in Deutschland als Dolmetscher bei den vorbereitenden Verhören zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß und als Radio Control Officer beim RIAS Berlin. Immer wieder versuchte er sein Glück mit Vokalgruppen, zuletzt in Rom ("Harry Frohman and his Harmonists"). Er ging in die USA zurück, verdiente sein Geld als Aufnahmeleiter, Hafenpacker, Fließbandarbeiter, Buchhalter, Taxifahrer, Verkäufer. Harry James' Aufnahme von Rimsky-Korssakows "Hummelflug" brachte ihn auf die Idee, ein vokales Orchester auf die Beine zu stellen - ganz allein per Playback. Später stellte er einen Antrag auf Wiedergutmachung und ging 1962 nach Deutschland zurück. Dort experimentierte er weiterhin mit Tonbändern und verschiedenen Apparaturen. Er starb mit 69 Jahren.

Robert Biberti, der wohlklingende und komische Baß, wurde 1941 in Berlin zur Luftschutzwarnzentrale eingezogen. Später wurde er in ein Forschungslabor in Zoppot abkommandiert, machte Fotoarbeiten und stellte sich selbst am Ende des Krieges gefälschte Papiere aus. Er bewarb sich nach dem Krieg beim RIAS Berlin und kam dort in Konflikt mit dem Kontrolloffizier Harry Frohman (Frommermann). Er richtete sich später eine Werkstatt ein, widmete sich der Holzschnitzerei, der Feinmechanik, dem Antiquitätenhandel und seinem Fotoarchiv und machte Rundfunksendungen. Er starb mit 83 Jahren an einem Nierenversagen.

Erwin Bootz, der Kleinkunst-Pianist, machte in Chanson- und Kabarettprogrammen mit, bevor er 1942 eingezogen wurde. Nach einem Auftritt im Wunschkonzert wurde er zur Truppenbetreuung abgestellt, kam aber 1945 zum Volkssturm. Nach dem Krieg trat er mit Kleinkunst im Rundfunk auf und leitete die Gesangsgruppe Singing Stars. Er begann amerikanische Komiker zu synchronisieren, schrieb Dialogbücher für Filme und führte Dialogregie. 1959 wanderte er nach Kanada aus, arbeitete dort als Barpianist, schrieb Sketche und Szenen fürs Fernsehen und hatte eine eigene kleine TV-Show, in der er auf Zuruf Melodien pianistisch bearbeitete. 1971 kam er nach Deutschland zurück und übersetzte einen Roman. In Bochum war er 7 Jahre lang Peter Zadeks musikalischer Leiter. Er starb mit 75 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts.

Ari Leschnikoff, der hohe Tenor mit dem sanften Schmelz, ging nach Sofia zurück und wurde 1942 zur bulgarischen Armee eingezogen. Ab 1944 war er Mitglied einer künstlerischen Truppe, die im Auftrag des Kulturministers Baubrigaden, Kinos u.a. betreute. Er trat mit Zigeunerorchestern auf und war später Hilfsarbeiter, Lagerverwalter und Gärtner. In einem bulgarischen Nachruf hieß er "die goldene Nachtigall, der Ritter des hohen f". Er starb mit 81 Jahren.

© 1999, 2002 Hans-Jürgen Schaal


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