How does this feel to you?
Pianistin, Tristano-Schülerin, Label-Präsidentin -
Eine Begegnung mit Connie Crothers
(2000)
Von Hans-Jürgen Schaal
Ihre ganze Liebe gehört dem Piano. Als Connie neun war, nahm ein ehrgeiziger Klavierlehrer in Kalifornien sie unter seine Fittiche, führte sie durchs klassische Repertoire, auf die Konzertbühne, zu Wettbewerbs-Preisen. Die kleine Connie spielte Beethoven-Sonaten, Bach-Fugen, Chopin, auch einmal eigene Stückchen. Mit zwölf gab sie bereits dreistündige Konzerte und konnte die öffentlichen Verpflichtungen kaum mehr bewältigen. Mit 15 lief sie der Dauer-Belastung davon.
Erst drei Jahre später wagte sie sich ins offizielle Reich der Musik zurück - und wurde erneut enttäuscht. "Ich studierte Komposition an der University of California in Berkeley. Ich wollte lieber komponieren als eine Konzertpianistin werden, doch ich lief gegen eine Wand. Damals, um 1960, zählte nur die serielle Musik: Kompositorische Strenge war gefragt. Ob die Musik schön war oder etwas bedeutete, interessierte damals keinen. Sogar in den Konzerten ging es nur um den intellektuellen Level der Musik. Das war nichts für mich."
Eine hochbegabte Pianistin, phantasievoll komponierend, aber allen strengen Exerzitien und Regelwerken abgeneigt - was blieb? Eines Tages im Jahr 1962 spielte ihr ein Freund, ein Blues-Gitarrist, eine ganz seltsame Aufnahme vor: Es war Lennie Tristanos "Requiem" auf einem Blues-Sampler von Atlantic. "Dieses 3-Minuten-Stück offenbarte mir meine Zukunft: den Weg, mein musikalisches Ich zu befreien. Das Stück verriet mir auch einiges über die Person Tristanos. Noch im Herbst desselben Jahres ging ich nach New York, denn ich wollte bei diesem Pianisten studieren. Ich kannte niemanden in New York, ich hatte kein Klavier und fand noch nicht einmal eine Unterkunft. Als ich schon begann, meinen Mut zu verlieren, rief ich Lennie einfach an. Er sagte: Jump on the subway, come on out! Also fuhr ich hinaus zu ihm nach Queens. Ich vergesse nie, wie der blinde Mann die Tür öffnete und mir mit diesem wunderbaren Lächeln die Hand entgegenstreckte."
Lennie Tristanos Aufforderung am Telefon klang bereits wie eine Einladung zur freien Improvisation: Mach den Sprung ins Unbekannte! Nur einige Jahre später wurden gänzlich improvisierte Auftritte zum größten Kick in Connie Crothers' Leben. "Du greifst nicht auf bekanntes Material zurück, sondern überläßt dich ganz dem Augenblick. Du weißt noch nicht, welches deine nächste Note sein wird, und das Publikum ist in diesem Augenblick ganz bei dir: Das ist eine unglaubliche Situation, eine ständige Neubegegnung mit Musik." Was immer dabei herauskommt - eine virtuose Klavieretüde, eine romantische Phantasie, eine bluesige Skizze mit starker Baßlinie, ein wildes pianistisches Action Painting -: Immer ist Connie Crothers' Musik hochemotional, ganz subjektiv und ungeplant. Musikalischer Expressionismus aus dem Augenblick.
Der Respekt vor dem persönlichen Ausdruck prägt auch ihre Arbeit als Klavierlehrerin, mit der sie ihren Unterhalt bestreitet. Die meisten Schüler kommen zu ihr, um das Improvisieren zu lernen - ohne System oder vorgefertigte Methode, sondern auf der Grundlage ihrer persönlichen Anlagen. "Die Frage ist: Kannst du alles spielen, was du hörst? Wie unterschiedlich kann ein Ton bei dir klingen? Über welche Sounds verfügst du? Ich lehre Klaviertechnik nicht isoliert, sondern als Teil des Improvisierens."
Auch als Pädagogin ist sie Tristano treu geblieben: Er sprach nie über sich und seine Musik, er war immer nur interessiert an seinen Schülern, ihren Möglichkeiten, ihren Problemen. "In meiner ersten Stunde spielte ich etwas, und er fragte: How did that feel? Das hatte mich noch nie ein Lehrer gefragt. Es war seine wichtigste Frage, sie kam immer wieder: How does this feel to you? Er sagte: Das ist das einzig wichtige Kriterium für dich."
Sechs Jahre lang war Connie Crothers Tristanos Schülerin, und das Studium war kein Zuckerschlecken: Man wurde mit Arbeit reichlich eingedeckt, Connie saß jeden Tag vier bis zwölf Stunden am Klavier. Die Aufgaben bewegten sich auf allen möglichen Ebenen - von Studien mit gegenläufigen Rhythmen bis hin zum Mitsingen von historischen Jazz-Soli. "Ich habe stundenlang Soli von Schallplatten mitgesungen und nachgespielt und dabei ein sehr spezifisches Verhältnis zu den einzelnen Epochen der Jazz-Geschichte entwickelt. Nach sechs Jahren Studium bei ihm begann ich aber, immer mehr eigene Musik zu spielen, und beides zugleich wurde dann zuviel. Also stellte Lennie eine Art Examensprogramm zusammen, und als wir die ganze Liste absolviert hatten, entließ er mich. Ich blieb aber seine Mitarbeiterin und unterrichtete in seinem Auftrag."
In den frühen sechziger Jahren spielte Tristano noch regelmäßig mit seinem Quintett (mit Lee Konitz und Warne Marsh) im Half Note in Manhattan. "Ich habe ihn dort oft gehört, es war die größte musikalische Erfahrung meines Lebens. Doch gegen Ende des Jahrzehnts änderte sich alles, Jazzmusiker konnten fast nirgendwo mehr spielen. Max Roach erhielt damals von seiner Plattenfirma die Auskunft, er solle Rockmusik machen oder das Musizieren bleiben lassen. Max ließ es dann wirklich bleiben und unterrichtete für einige Jahre am College."
Als bei Tristano ein Lungenemphysem entdeckt wurde, kam ein Comeback als Pianist nicht mehr in Frage. Er unterrichtete aber weiterhin und begann, andere Musiker zu fördern und zu produzieren - zum Beispiel Connie Crothers. Im Jahr 1973 organisierte Lennie Tristano das erste Konzert seiner Ex-Schülerin als Improvisatorin - in der Carnegie Recital Hall. Ihr Platten-Debüt "Perception" (mit den Tristano-Schülern Joe Solomon und Roger Mancuso an Baß und Schlagzeug) folgte kurz danach. Tristanos Empfehlung zierte das Plattencover: "Connie Crothers is the most original musician it has ever been my privilege to work with."
Als Tristano 1978 starb, war dies für seine Schüler, die wie eine große Familie waren, auch menschlich ein schwerer Verlust. "Auch als ich nicht mehr bei ihm studierte, hörte ich nicht auf, von ihm zu lernen. Noch heute höre ich, was er zu mir sagte, und manche Lektion hat sich Jahr um Jahr vertieft. Lennie war ein sehr warmherziger Mensch, außerordentlich freundlich und fasziniert von anderen Menschen. Ganz wie Charlie Parker sagte: 'Lennie hat eine Menge Herz, und das hört man in seiner Musik.' Das Wort 'cool' hat Lennie übrigens für seine eigene Musik nie benützt. Im Gegenteil, er sagte immer: Turn it loose! Play what you feel, don't hold back."
Connie Crothers teilt mit Tristano die Bewunderung für Roy Eldridge, den Swing-Trompeter - gewiß kein "kühler" Musiker. Eldridge war in Chicago eine Art Adoptivvater für Tristano gewesen und kümmerte sich nach dessen Tod ebenso fürsorglich um Tristanos Freunde und seine Tochter Carol. "Roy kam einmal in eins meiner Konzerte, und die ganz freien Stücke gefielen ihm am besten. Er kam hinter die Bühne, sprach viel über meine Musik und sagte, er hätte solche Sachen schon in den 30er Jahren mit Chu Berry gemacht."
Nach Tristanos Tod erschien Connie Crothers als legitime Erbin seines künstlerischen Willens. 1980 spielte sie eine Woche lang mit Warne Marsh im Village Vanguard und trat als Solistin bei den Berliner Jazztagen auf. Mit Max Roach, der Tristano über viele Jahre verbunden war, machte sie das Duo-Album "Swish", das von Down Beat zweimal (als LP und als CD) vier Sterne bekommen sollte. "Max nahm das Band mit auf seine Europatournee, aber zu seiner eigenen Überraschung fand er keinen Produzenten, der sich dafür interessierte. Da er seit langem plante, selbst zu produzieren, schlug er mir vor, gemeinsam ein Label zu gründen: Der Name 'New Artists' war seine Idee. Doch dann erhielt Max das tolle Angebot, für Soul Note zu produzieren, das damals in den USA von Polygram vertrieben wurde. Also ließ er mich allein mit einem neuen Label, einer Aufnahme und ohne Geld."
Connie Crothers sprang erneut auf den fahrenden Zug auf und ins kalte Wasser der Improvisation hinein: Sie führte das Label weiter und veröffentlichte als zweite Platte ein eigenes Solo-Konzert. Als dann ein Freund und Schüler, der Saxophonist Richard Tabnik, anfragte, ob er für New Artists eine Platte aufnehmen könne, schlug sie ihm vor, Teilhaber zu werden. "Ich hielt es für unfair, daß er sein Geld in die Produktion steckt und ich dann seine Musik besitze. So kam ich auf die Idee, das Label jedem Musiker zu öffnen, der bereit ist, Verantwortung für die Firma zu übernehmen. Alle Musiker auf dem Label sind Mitbesitzer und gleichberechtigte Partner."
Der Katalog von New Artists umfaßt inzwischen rund 30 Produktionen. Unter den Musikern sind ehemalige Tristano-Protegés wie die Pianistin Liz Gorrill, Schlagzeuger Roger Mancuso oder Saxophonist Lenny Popkin. Unter den Begleitern finden sich namhafte Jazz-Bassisten wie Red Mitchell, Cameron Brown und Calvin Hill. Nicht alle Musiker sind von Lennie Tristano oder Connie Crothers geprägt, aber allen gemeinsam ist das Konzept freien und kompromißlosen Improvisierens, so unterschiedlich es im Endeffekt ausfallen mag.
Die interessanteste und dauerhafteste Formation auf New Artists ist zweifellos das gemeinsame Quartett von Connie Crothers und Lenny Popkin - eine Band, die unüberhörbar der Tristano-Ästhetik verpflichtet ist, unermüdlich die Abenteuer der freien, multilinearen Improvisation erforscht und dabei in ihren konventionelleren Momenten an die Zusammenarbeit von Tristano mit Warne Marsh denken läßt. Fünf CDs hat das Quartett bereits veröffentlicht: "In Motion" wurde vom "Jazz Magazine" unter die 50 besten CDs von 1992 gewählt, "Love Energy" galt einem Kritiker vom "Wire" sogar als beste Platte des Jahres.
Am ersten Montag im Jahr spielt das Crothers-Popkin-Quartett in New Yorks "Blue Note" - und füllt das Lokal regelmäßig, da sich die Band ansonsten rar macht. "Wir geben selten Konzerte, aber wir spielen die ganze Zeit Sessions in meinem Studio, jede Woche. Die Idee der Jazz-Session ist es, ein künstlerisches Konzept zu entwickeln - so wie damals bei Minton's. Heutzutage proben die jungen Musiker zwar andauernd ihre Arrangements, aber das Session-Spielen ist ziemlich in Vergessenheit geraten. Was sie dann im Konzert bringen, ist meistens ziemlich berechenbar und risikolos."
Tristanos Segen ist dem Quartett gewiß. "Alle seine Kompositionen sind inzwischen eingespielt, soviel ich weiß. Auf 'Love Energy' haben wir erstmals auch 'It's You' aufgenommen, ein Stück, das viele Jahre lang verschollen war. Wir haben überall gesucht, endlich einen Mitschnitt gefunden, wir haben es dann transkribiert und geprobt. Lennie hat mir seine Tunes nie beigebracht, aber ich habe sie alle gelernt: Ich mag sie, weil sie wie improvisiert klingen."
Der Name des Meisters lebt sogar in der Besetzung des Quartetts fort, denn am Schlagzeug sitzt niemand anderes als Carol Tristano, seine Tochter, die seit dem Tod ihres Vaters sein eigenes Label "Jazz Records" weiterführt und darauf historische Aufnahmen Tristanos und seiner Schüler veröffentlicht. "Ich kenne Carol, seitdem sie vier Jahre alt ist. Lennie wollte, daß sie Schlagzeug lernt, um mit ihm Sessions zu spielen, aber sein Tod kam dem zuvor. Sie hat dann einige Jahre lang bei mir studiert und weiß inzwischen auch als Musikerin genau, was sie will. Bei unserem letzten Konzert im Blue Note kam Max Roach in der Pause zu ihr, sah ihr intensiv in die Augen und sagte nur: You are doing something different."
© 2000, 2003 Hans-Jürgen Schaal
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