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Er war der König in Harlems Cotton Club und hätte damit zufrieden sein können. Doch Edward Ellington, genannt "The Duke", kam aus einem stolzen schwarzen Bürgerhaus und träumte davon, den Jazz aus den Nachtklubs heraus auf die Konzertbühne zu bringen. Vor 70 Jahren stellte er sein erstes "extended work" vor, die achtminütige "Creole Rhapsody": die Antwort eines schwarzen Jazzmusikers auf Gershwins "Rhapsody In Blue". Die New York School of Music wählte Ellingtons ambitioniertes Jazz-Patchwork immerhin zur Komposition des Jahres.

Süßer Donner
Ein Gang durch Duke Ellingtons Jazz-Suiten
(2001)

Von Hans-Jürgen Schaal

Mehr als 30 größere Werke hat Duke Ellington in den folgenden Jahren und Jahrzehnten komponiert, die meisten in enger Zusammenarbeit mit seinem "alter ego" Billy Strayhorn. Ellingtons bevorzugte Form war die Suite: eine lose Folge von Einzelstücken, bei denen ein musikalischer Zusammenhang nicht immer gegeben war. Unter den frühen Suiten finden sich Hommagen an Amerikas ländlichen Süden ("Deep South Suite", 1946) und den urbanen Norden ("Harlem Suite", 1951), aber auch Raritäten wie die "Liberian Suite" zum 100-jährigen Bestehen der afrikanischen Republik Liberia (1947) oder die "Controversial Suite", die 1951 den Streit zwischen den Jazz-Moden von Dixieland und Cool Jazz zum Thema hatte. Dass die Ellington-Band in diesem Streit unbequem zwischen zwei Stühlen saß, bedrohte für einige Jahre ernsthaft ihre Existenz. Doch wie ein Phönix stieg sie 1956 wieder aus der Asche: Ihr Auftritt beim Newport Jazz Festival war ein überwältigender Erfolg - und natürlich hatte der Duke auch für diese Gelegenheit wieder eine Suite geschrieben ("Newport Jazz Festival Suite"). Sein neues Renommee als quasi seriöse amerikanische Kultur-Institution feierte Ellington in den nächsten Jahren mit deutlichen Bezügen zur etablierten Kunst - Shakespeare, Tschaikowsky, Grieg, Steinbeck. In eine dritte Phase trat Ellingtons Suiten-Schaffen Mitte der sechziger Jahre, als ihm internationale Tourneen eine globale Vision eröffneten - von der "Virgin Islands Suite" (1965) bis zur "Afro-Eurasian Eclipse" (1971). Einen Sonderfall bildet die "Togo Brava Suite": Sie entstand als Dankeschön für eine Briefmarke, die Ellingtons Aufstieg in die Hochkultur endgültig bestätigte. Die Republik Togo ehrte den amerikanischen Jazzmusiker nämlich in einem Markensatz zusammen mit Bach, Beethoven und Debussy.

Bereits zwei Jahre nach der "Creole Rhapsody" von 1931 hieß es, Ellington plane ein noch größeres Werk als musikalische Umsetzung der "Geschichte seiner Rasse". Einige Jahre später war daraus ein umfangreiches Opern-Libretto über eine zeitlose Figur namens Boola geworden. Die Form, die das Werk schließlich annahm, ähnelte einem Melodien-Patchwork: Ellington verwendete dafür erstmals das Wort "Suite", das nicht viel mehr bedeutete als "Kollektion" oder "Menü". Den entscheidenden Anstoß, die "Black, Brown & Beige Suite" zu vollenden, gab das Beispiel Billy Strayhorns, der seit 1939 Ellingtons engster Mitarbeiter war und mit seinen kompositorischen Ambitionen Ellingtons Musik ganz neue Klangwelten erschloss. Die ehrgeizige "Suite" sollte im Januar 1943 in der Carnegie Hall ihre Weltpremiere haben und Ellingtons Agent John Hammond rührte kräftig die Publicity-Trommel. Dessen ungeachtet wurden Teile des Werks in größter Eile zusammengeschustert: Viele Übergangspassagen wirkten nichtssagend und schwafelig, die Premierenkritiken waren verheerend. Doch trotz der lauen Rezeption hielt Ellington an dem Werk fest, straffte es mehr und mehr und dokumentierte es Ende 1944 schließlich im Aufnahmestudio in einer 18-Minuten-Version, die auf sechs, sieben Hauptmelodien komprimiert war, auf zwei 12-Inch-Platten passte und heute zu den epochalen Einspielungen im Ellington-Oeuvre zählt. Neben dem von Joya Sherrill gesungenen "The Blues" (übrigens kein Blues, eher ein Versuch, den Blues mit Worten zu definieren) ist "Come Sunday" das berühmteste Stück der Suite: eine schlichte Kirchgänger-Melodie, weitgehend in Viertelnoten gehalten, durch die Johnny Hodges' bittersüßes Altsaxofon auf unvergleichliche Weise hindurchgleitet. Ellington, dem Hodges' Spiel regelmäßig Tränen in die Augen trieb, verfügte, dass kein anderer Altsaxofonist jemals das Stück spielen dürfe. Die (italienische) RCA-Pressung aus den Siebzigern enthält noch weitere Highlights aus Ellingtons "Golden Era" Anfang der 40er Jahre - "C-Jam Blues", "Caravan", "Prelude To A Kiss" - und sogar ein zweites "extended work": die knapp 12-minütige "Perfume Suite" von 1945. Vier Charakterstücke - darunter die flotte Klaviernummer "Dancers In Love" - belegen hier Ellingtons und Strayhorns kontrastreiche Kolorierungskunst. Die vitale Wärme der Saxofonsätze dringt noch immer durch alles Knistern und Knacken.

Kurz nach der "Wiedergeburt" des Ellington-Orchesters 1956 in Newport folgte eine Einladung zum Shakespeare-Festival in Stratford - nicht Stratford-on-Avon, sondern Stratford, Ontario - in Kanada. Zur allgemeinen Enttäuschung spulte die Band dort nur ihr Routine-Programm ab - und Ellington versprach, im nächsten Jahr mit etwas Besonderem wiederzukommen. Sowohl er als auch Strayhorn, der wegen seiner literarischen Neigungen sogar den Spitznamen "Shakespeare" trug, verehrten den englischen Dichter und machten sich mit Feuereifer an das Projekt einer Shakespeare-Suite. Als Werktitel wählten sie "Such Sweet Thunder", ein Zitat aus dem "Sommernachtstraum" und gleichzeitig als Spiel mit dem Wort "Suite" zu verstehen. Musikalische "Parallelen" zu berühmten Shakespeare-Figuren zu schaffen, das war das Programm des 12-sätzigen Werks. Othellos schwarzer "sweet talk" klingt in Ray Nances sprechender Trompete an, Lady Macbeths innere Zerrissenheit spiegelt sich in Ragtime-Rhythmen, Clark Terrys Trompete bringt als Kobold Puck die Liebespaare durcheinander und Höhen-Trompeter Cat Anderson bläst wie verrückt Hamlets "madness". Zum Klassiker wurde Strayhorns Ballade "Star-Crossed Lovers", in der Johnny Hodges am Altsaxofon mit bewährter Ambivalenz von der Liebe zwischen Romeo und Julia erzählt. Seinen Erfolg verdankte "Such Sweet Thunder" sowohl den literarischen Vorlagen wie der puren Qualität der Musik: Die Ellingtonsche Menükunst scheint hier kühl-modern aufs Monaural-Wesentliche gebracht. Der 360-Hemisphere-Hifi-Sound der französischen Vinylpressung, in den Höhen so klar wie in den Tiefen kräftig, unterstreicht die Zeitlosigkeit eines Meisterwerks.

Bleiben wir im Land Shakespeares! Der Earl of Harewood sollte 1958 in der Stadt Leeds ein Kulturfestival organisieren und wünschte den Duke of Ellington samt orchestralem Gefolge dorthin einzuladen. Da amerikanische Künstleragenten der diskreten Art adliger Kreise aber gar nicht zugänglich sind, musste die Ehefrau des britischen Jazzkritikers Stanley Dance diplomatisch vermitteln. Der Duke kam, spielte auf und durfte sogar mit der Queen höchstselbst ein wenig plaudern. Als Dankeschön für das nette Weekend schrieb er der Monarchin eine eigene Suite, nahm sie auf eigene Kosten auf, ließ genau ein Exemplar davon auf Vinyl pressen und es der Adressatin in London zukommen. What a noble gesture! Zwar spielte die Ellington-Band die Suite in öffentlichen Konzerten, aber auf Platte zugänglich wurde sie für die Welt außerhalb des Buckingham-Palasts erst nach Ellingtons Tod: Da entdeckte dann die Jazz-Zunft staunend eines der schönsten, apartesten, charmantesten Ellington-Werke überhaupt. Die sechs farbenfrohen Stücke der "Queen's Suite" sind allesamt von speziellen Schönheiten der Natur inspiriert, wie sie auch ein Jazzmusiker auf ausgedehnten Konzertreisen zuweilen entdecken kann. Als da sind: eine Spottdrossel bei Sonnenuntergang in Florida; Glühwürmchen und Frösche in einem halbmondbeschienenen Baumgelände in Cincinnati; Polarlichter über Kanada. Letztere beschrieb Ellington als "die größte Bühnenshow, die ich je gesehen habe", und Strayhorn komponierte nach dieser Beschreibung das Stück "Northern Lights". Das Klavier-Feature "The Single Petal Of A Rose" gehört heute sogar zum Konzertprogramm etlicher klassischer Pianisten. Der königliche Leckerbissen wurde 1976 fürs gemeine Volk mit zwei weiteren zu Ellingtons Lebzeiten unveröffentlichten Suiten als Platte gekoppelt. Vom Sujet her passt die "Goutelas Suite" gut dazu, ist sie doch nach einem alten Schloss in Frankreich benannt. Ellington, der mit seinem Orchester 1966 den Musiksaal des restaurierten Châteaus einweihen durfte, schrieb die originelle, zum Teil schrille Miniatur-Suite als kleines Dankeschön an seine französischen Freunde und führte sie 1971 im Lincoln Center in New York auf. Fragment blieb dagegen die konventionellere "Uwis Suite", die der Duke 1972 an der University of Wisconsin vorstellte, wo man ihm ein ganzes, einwöchiges Festival widmete. Sogar die Titel der drei erhaltenen Big-Band-Sätze blieben nur Skizze: "Uwis" meint die Uni von Wisconsin, "Klop" eine Polka, "Loco Madi" eine Lokomotive, die nach Madison fährt. Im Vergleich zum 1:1-CD-Transfer (ohne digitale Nachbereitung) besticht die Vinylscheibe durch ihren satteren, lebendigeren Klang. In meinem Jazzherzen besetzt sie seit 25 Jahren ein ganz besonderes Fleckchen.

In der Zeit des Kalten Krieges waren internationale Tourneen von Jazzmusikern ein wichtiges Propaganda-Werkzeug des amerikanischen Außenministeriums. Louis Armstrong galt damals als Amerikas stärkste diplomatische Waffe und auch das Ellington-Orchester operierte in den 60er Jahren weltweit im Auftrag des State Department. 1963 führte die Auslands-Tournee in den Nahen und Mittleren Osten: Ägypten, Indien, Ceylon, Pakistan, Iran, Irak und andere Länder standen auf dem Reiseprogramm. Die Tournee endete leider vorzeitig: Als Präsident Kennedy im November ermordet wurde, zog Amerika seine musikalischen Agenten umgehend zurück. Doch im Folgejahr war das Ellington-Orchester wieder unterwegs, diesmal im jazzverrückten Japan. Unterm Eindruck dieser beiden Reisen entstand die "Far East Suite" - keine Nachahmung östlicher Musikformen, sondern das Destillat vielfältiger Impressionen, übersetzt in Ellingtonsche Tonsprache. Das bekannteste Stück daraus, Strayhorns bewegende Ballade "Isfahan", gespielt von Johnny Hodges, war sogar vor der Tour von 1963 schon geschrieben worden und hieß damals noch "Elf". Die wichtigste Solostimme der Suite ist allerdings Jimmy Hamiltons Klarinette: Kein anderes Instrument des Orchesters konnte diese dezent östlich-islamische Färbung besser ins Spiel bringen. Ellingtons klangliche Ost-Erweiterung war für das Jazz-Magazin Down Beat die Platte des Jahres und kassierte sogar einen Grammy. Ganz klar: Orientalisches lag im Trend - das verraten auch John Coltranes Aufnahmen aus derselben Zeit. Für die 1988er Reissue der Suite (auf Vinyl und CD) restaurierte Ray Hall ein kraftvolles Klangbild.

Doch die späten Ellington-Suiten schweiften nicht nur in exotische Fernen, sie versicherten sich auch der Wurzeln des Jazz. Am überzeugendsten tat dies die "New Orleans Suite", die für das New Orleans Jazz Festival von 1970 entstand. Dem Festival-Auftritt des Orchesters ging dabei ein längeres Engagement in der Bourbon Street voraus, wo die Besucher Abend für Abend den Fortschritt der Suite verfolgen konnten. Zur Premiere waren immerhin die fünf Haupttitel fertiggestellt: Hommagen an die Stadt, ihre Geschichte, ihr Umland, ihre Jazzkultur. Für die Plattenaufnahme in New York schrieb der Duke noch vier weitere Stücke, die große New-Orleans-Musiker porträtieren: Louis Armstrong, Mahalia Jackson, Wellman Braud (von 1926 bis 1935 Ellingtons Bassist) und Sidney Bechet. Letzterer war Ellingtons besonderes Idol: Bechets "I'm Coming Virginia" von 1921 nannte der Duke einmal sein größtes Musikerlebnis überhaupt. Als Solist der Hommage an Bechet war natürlich dessen einstiger Schüler Johnny Hodges vorgesehen, der dafür sein lange Zeit unbenutztes Sopransaxofon entstauben sollte. Doch der Magier der raffinierten Zwischentöne, der als 21-Jähriger der Ellington-Band beigetreten war, starb zwei Tage vor der Aufnahme im Alter von 62 Jahren. So blieb das Altsaxofon-Feature im langsamen "Blues For New Orleans", dem Eröffnungsstück der Suite, Johnny Hodges' Schwanengesang. Wild Bill Davis, sein langjähriger Partner, befeuerte ihn dabei an der Hammond-Orgel, der Duke selbst dirigierte die Einsätze des Solisten. Ein großer, würdiger Abgang.

© 2001, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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