In den swingverrückten 30er Jahren war er der große Gegenspieler Benny Goodmans. Mit hoher Klarinettenkunst, erlesenem Geschmack und hervorragenden Solisten stieg Artie Shaw zum Swing-Millionär und Superstar auf. Der Mann hatte nur ein Problem: Er kam mit Medien und Fans nicht zurecht. Ein Porträt des rätselhaften Swing-Intellektuellen anlässlich seines 90. Geburtstags.
ARTIE SHAW
Der Fluch des Erfolgs
(2000)
Von Hans-Jürgen Schaal
Manche Musiker sterben früh und bleiben Idole für Generationen. Andere ackern sich ein Leben lang ab und sind nur Insidern bekannt. Manche geraten irgendwann in Vergessenheit und verdienen ihren Lebensunterhalt dann als Hausmeister. Andere kommen und gehen und verbringen ihr halbes Leben in Gefängnissen oder Entzugsanstalten. Wieder andere schlagen sich mehr schlecht als recht durch und steigen plötzlich mit 65 als "lebende Legenden" zu Weltruhm auf. - Die Jazz-Geschichte kennt viele seltsame Lebensläufe. Einer der seltsamsten ist der von Artie Shaw, dem Swing-Millionär, der nie Musiker werden wollte und dem der Erfolg an den Schuhsohlen klebte.
Im Frühjahr 1936, als die neue Swing-Mode ganz heiß und fiebrig war, wollte auch das Imperial Theater in New York nicht zurückstehen: Ein Swing-Konzert wurde organisiert. Einer derer, die eingeladen wurden, dort ihre Kunst zu präsentieren, war ein 26-jähriger Musiker namens Artie Shaw, den damals kaum jemand kannte. Shaw war 1929 nach New York gekommen, wo er sein Geld als fleißiger Studiomusiker verdiente. Sein Altsaxofon hörte man damals auf zahllosen Schellacks, aber nie in eigener Regie. Für den Auftritt im Imperial Theater musste er sich erst einmal eine eigene Band zusammenstellen und die fiel höchst ungewöhnlich aus: Sie bestand aus einem Streichquartett, einer Rhythmusgruppe (ohne Klavier) und Shaws Klarinette. Weil der junge Mann seinen Auftritt als Zwischeneinlage verstand, schrieb er dafür eine Komposition mit dem Titel "Interlude in B-Flat". Das Publikum reagierte erst verstört, dann begeistert - und forderte stürmisch eine Zugabe. Shaw spielte dasselbe Stück noch einmal: Er hatte mit seiner Ad-hoc-Band keine zweite Nummer im Repertoire.
Der Auftritt im Imperial Theater gab den Startschuss zu einer Blitz-Karriere. Schon drei Jahre später war Artie Shaw ein Superstar, wurde als der neue "King of Swing" gefeiert, hatte einen Riesen-Hit mit Cole Porters "Begin the Beguine" und verdiente seine 50.000 Dollar pro Woche - in heutigen Dollars gerechnet ein Vielfaches. Vergleichbar war dieser Erfolg nur mit dem von Benny Goodman, dem großen Konkurrenten. Die Parallelen sind offensichtlich: Wie Goodman stammte Shaw aus einer Familie ostjüdischer Einwanderer (er hieß eigentlich Arshawsky) und wuchs in ärmlichsten Verhältnissen auf. Wie Goodman kam er als junger Mann nach New York, arbeitete einige Jahre in den Aufnahmestudios und avancierte plötzlich zum Star-Klarinettisten, Bandleader und Swing-Giganten. Shaw bekämpfte die Rassentrennung im Jazz, leitete eine erfolgreiche Combo neben seiner Big Band, spielte klassische Klarinettenwerke. Alles wie Goodman.
Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden: Goodman sonnte sich im Ruhm und schätzte den Wert von Promotion. Shaw verfluchte die Publicity und versteckte sich (vergebens) vor dem Erfolg. Nach dem sensationellen Auftritt im Imperial Theater musste man ihn zur Karriere geradezu überreden. Shaw wollte nämlich nur eines: Schriftsteller werden. Die Musik betrieb er lediglich, um seine Studien an der Columbia University zu finanzieren. Doch kaum hatte er sich auf eigene Füße gestellt, begeisterte er ein Millionen-Publikum von Swing-Fans.
Shaw war ein exzellenter, ein unnachahmlicher Musiker. Sein Klarinettenspiel besaß die lyrische Balance eines Bix Beiderbecke, sein voller Ton kannte eine weite Palette von Farben, sein Glissando war berühmt und wundersam. Barney Bigard, der legendäre Klarinettist im Ellington-Orchester und in Louis Armstrongs All-Stars, nannte Shaw "the greatest player that ever lived". Ein anderer Musiker, Jerome Richardson, bekannte: "Ich war ein Benny-Goodman-Fan, bis ich Artie Shaw hörte, und dabei blieb es. Er machte Sachen auf der Klarinette, die keiner zuvor gebracht hat."
Shaws Hang zum Exquisiten beschränkte sich nicht auf die Klarinettentechnik. Das Streichquartett seines Theater-Auftritts von 1936 übernahm er in seine großen Swing-Bands und erweiterte es zuweilen sogar zu einer 16-köpfigen String Section. Gleichzeitig verfiel er auf die Idee, in seine Combo, die "Gramercy Five", ein Cembalo zu integrieren. Shaw hatte eine Schwäche für Kammermusik, liebte Debussy und Strawinsky, sah in der Big Band eine Art Sinfonie-Orchester und arbeitete nur mit den gewieftesten Arrangeuren. Bei einem kurzen Comeback in den 80er Jahren rührte er die Klarinette gar nicht mehr an, sondern erklärte das Jazz-Orchester zu seinem Instrument. Er verstand seine Musik als Kunst, nicht als Tanzunterhaltung: "Ich habe mich nie dem Entertainment zugehörig gefühlt."
Im Gegenteil: Artie Shaw unterzog die Musikbranche einer sarkastischen Kritik. Er hasste ihren Kommerzialismus und er floh den Erfolg, der ihm seine Privatsphäre raubte. "Du bist ein Ding geworden, ein Objekt, und die Öffentlichkeit denkt, du gehörst ihr": So beschrieb er im Rückblick seine Erfahrungen mit Medien und Fans. Allerdings leistete er den Schlagzeilen auch immer wieder Vorschub: Mindestens acht Mal war er verheiratet, unter anderem mit Elizabeth Kern, der Tochter des Komponisten Jerome Kern, und mit Hollywood-Diven wie Lana Turner und Ava Gardner. Dass Shaw keine Lust hatte, für seine verrückt gewordenen Fans den Hampelmann zu spielen, legte man ihm als Arroganz aus. Offenbar tat er alles, was der Vernunft des Business widersprach: Er lehnte Autogramm-Wünsche ab, löste erfolgreiche Bands auf, stieg einfach aus dem Geschäft aus. Aber damit sorgte er erst recht für Aufmerksamkeit. Trickreiche Absicht?
Artie Shaw hatte die Mechanismen des amerikanischen Show-Business durchschaut, er kritisierte sie und er spielte mit ihnen. Der Erfolg schien so selbstverständlich zu sein, dass er sich alles erlauben konnte. Schon in seinen frühen Jahren als Studiomusiker zog er sich einmal ganz von der Musik zurück, um ein Buch zu schreiben - was er dann gar nicht tat. Seine Laufbahn als "ernsthafter Musiker" beendete er - so Shaws Selbstdarstellung - mit 31 Jahren beim Kriegseintritt der USA. Nach dem Krieg trat er in den Halb-Ruhestand, gab aber in der Carnegie Hall noch das eine oder andere klassische Konzert. Den endgültigen Schlussstrich zog er 1954, als ihn der McCarthy-Wahn nervte: Shaw legte die Klarinette für immer aus der Hand und floh nach Spanien.
Der Mann war einfach zu kompliziert und zu gescheit fürs Business. Für Helen Forrest, Sängerin in seiner Band, war Shaw "der intelligenteste Mensch, den ich je getroffen habe". Seine Belesenheit ist Legende: Der Musiker Shaw kannte alles von Sokrates bis Thomas Mann. 1952 veröffentlichte er sein erstes Buch, "The Trouble with Cinderella", teils Autobiographie, teils Roman, teils Essay - eine geniale Abrechnung mit dem amerikanischen Ruhm- und Erfolgsmythos, unter dem er sein Leben lang litt und der ihn zum Millionär machte.
Kaum eine Success Story liest sich eindrucksvoller als die des Erfolgsverächters und rebellischen Sonderlings Artie Shaw. Seine Versionen von "Begin the Beguine" (1938), "Frenesi" und "Star Dust" (beide 1940) wurden Mega-Hits. Seine Kompositionen "Concerto for Clarinet", "Nightmare", "Summit Ridge Drive" und "Back Bay Shuffle" sind Klassiker der Swing-Ära. Mehr als 400 Aufnahmen hat er hinterlassen. Von seinen fünf erfolgreichsten Platten verkaufte er allein bis 1965 zusammen 65 Millionen Stück.
Schließlich gelang ihm die Flucht - in das zurückgezogene Dasein eines alternden Dollar-Krösus. Mitte der 50er Jahre hat er noch ein zweites Buch veröffentlicht, danach war vom Schriftsteller Artie Shaw nichts mehr zu hören. Zwischendurch besaß er eine Waffenfabrik, leitete einen Filmverleih, unterrichtete am College. Mit 72 wirkte er noch frisch, gesund und gut erhalten wie ein 55-Jähriger. "Ich habe mir selbst geschworen", sagte er damals, "dass ich dreierlei nie sein werde: arm, abhängig und krank." Vielleicht lebt er heute in Kalifornien oder Florida, auf Hawaii oder den Bahamas. Vielleicht ist er zum zehnten oder zwölften Mal verheiratet. Eines steht fest: Das Jahrhundert, das ihm Schlagzeilen widmete, hat er ausgetrickst und überlebt.
© 2000, 2003 Hans-Jürgen Schaal
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