Seine Klangwelt scheint von weither zu kommen: Alte ungarische und rumänische Volkslieder gehören zu Ligetis frühesten Prägungen - eigenwillige Melodik, autochthone Mehrstimmigkeit, unregelmäßige Metren. Daß es da eine Brücke zur Moderne gab, lehrte ihn das große Vorbild Bartók: Ihn kennenzulernen war einer der Gründe, warum Ligeti gleich nach dem Krieg nach Budapest ging - vergebens, denn da lag Bartók bereits in New York im Sterben.
Ligetis spezifische Neigung zum vielstimmigen Experiment absorbierte über Jahrzehnte hinweg immer wieder neue Anregungen: strenge Kontrapunkt-Studien, mittelalterliche Polyphonie, 12-Ton-Musik, Studio-Elektronik, die Patterns und Pulse der Minimal Music, Conlon Nancarrow, afrikanische und andere Musikkulturen. "Ich habe eine Vision, kein Dogma, kein fertiges System", sagt Ligeti. "Ich möchte bei keinem Resultat stehenbleiben. Ich halte mich offen für Einflüsse, denn ich bin exzessiv neugierig."
Polyphonie in der High-Tech-Ära
Zum 75. Geburtstag von György Ligeti
(1998)
Von Hans-Jürgen Schaal
Einer der renommiertesten Filmkomponisten in Diensten Hollywoods war Alex North (1910-1991). North hatte bereits mehr als 30 große Kinofilme mit seiner Musik versorgt (darunter "Endstation Sehnsucht" und "Spartacus"), als er Mitte der 60er Jahre den Auftrag erhielt, für Stanley Kubricks Science-Fiction-Opus "2001 - Odyssee im Weltraum" den Soundtrack zu liefern. North lieferte auch, doch die fertige Partitur blieb liegen und wurde erst nach dem Tod des Komponisten - für eine CD-Aufnahme - zum Erklingen gebracht. Was war geschehen?
Für einen Probe-Durchlauf des ungewöhnlichen, philosophisch angehauchten, in jahrelanger Detailarbeit entstandenen und mit zahllosen Spezialeffekten ausgerüsteten Science-Fiction-Films hatte ein Assistent Kubricks die langen dialogfreien Passagen mit ein paar Musik-"Dummies" unterlegt - klassischen Stücken wie dem "Donauwalzer" von Johann Strauß oder dem Leitmotiv aus Richard Strauss' "Also sprach Zarathustra". Diese nur behelfsmäßig getroffene Auswahl fand der Regisseur so überzeugend, daß er auf Norths Original-Musik spontan verzichtete - und dies, obwohl sein Assistent einen in der amerikanischen Filmindustrie wohl eher abwegigen Geschmack bewies. Der Mann unterlegte nämlich die wichtigsten Teile des Films mit zeitgenössischen Werken eines europäischen Avantgardisten: György Ligeti.
Ligetis Atmosphères (für großes Orchester ohne Schlagzeug, 1961), das "Kyrie" aus Requiem (für Sopran, Mezzosopran, zwei gemischte Chöre und Orchester, 1963-65) sowie Lux aeterna (für 16stimmigen gemischten Chor a cappella, 1966) erklingen an den Schlüsselstellen des legendären SF-Klassikers: dort, wo die utopisch-metaphysische Begegnung mit dem ganz Anderen stattfindet, einer unheimlichen, unbegreiflichen Form außer- oder überirdischer Existenz. Nicht nur Kubricks Stab, sondern Millionen von Kinogängern haben Ligetis Musik so gehört: als fremdartige, fast technizistische Klangwelt, doch zugleich auch von archaischer Strenge und berührender Logik und daher seltsam vertraut - wie eine ewige, interstellare Botschaft, die der Entschlüsselung harrt. Der Erfolg dieser Klänge auch bei einem an Hollywood-Effekte gewöhnten Filmpublikum bestätigt, daß Ligetis Technik der Phantasie dient und nicht umgekehrt. Seine Musik wirkt - allem konstruktiven Avantgardismus zum Trotz - nicht hermetisch, sondern höchst emotional, beeindruckend und anregend.
Visionen klingender Statik
Ligetis Bruder war ein begabter Geiger, daher sollte György in eine andere Richtung gehen: Der Vater sah ihn zur Naturwissenschaft berufen und genehmigte ihm erst mit 15 Jahren ein eigenes Klavier. Da träumte der Junge noch von einem Doppelleben als Forscher und Komponist, doch aus der Wissenschaft wurde dann nichts: "Nur ein einziger jüdischer Student durfte auf die Universität, und das war nicht ich." Die Lust an der exakten Forschung floß also ins Musikalische, in die Erkundung von Klangräumen und die Lösung künstlerischer Problemstellungen: "Ich komponiere, weil mich die Sache interessiert." Ligeti wurde zum Experimentator mit sich entwickelnden und einander überlagernden Strukturen. Nicht zufällig begleiten mathematische Muster von Organisation, Ordnung und Unordnung von Anfang an sein musikalisches Denken. Pendel, Metronome, mechanische Instrumente, Geometrie, arithmetische Strenge faszinieren ihn.
Als Fünfjähriger, so erinnert er sich, las er eine Erzählung von Krudy, in der "nichts geschieht". Es geht darin um das Haus eines verstorbenen Wissenschaftlers, vollgestopft mit arbeitenden Apparaten, tickenden Uhren, allerhand Meßgeräten, die sich mit gespenstischer Präzision zu einem stagnierenden Chaos verbinden: Die Welt steht still. Mit 23 Jahren hat Ligeti eine "akustische Vision", er hört Musik ohne Melodie, Rhythmus und Harmonie, ein statisches Kontinuum: "Musik, die immer da ist wie eine Landschaft. Wir öffnen ein Fenster auf die Landschaft und schließen es wieder. Die Musik, die ich höre, ist ewige Sphärenmusik." Er komponiert seine Vision, doch die Partitur von Vízíok geht verloren.
Eine Zeichnung von Paul Klee wird für Ligeti zum Schlüssel, wie ein klingendes Kontinuum zu gestalten sei: Klees Bild zeigt einen gleichförmigen Raum, gebildet aus zahlreichen individuell gewundenen Linien. Die statische Klangskulptur und die Verschiebungen in ihrem Innern: Mit solchen Fragen der Dialektik zwischen Gesamtwirkung und Feinstruktur beschäftigt sich Ligetis Musik bis heute. Bereits um 1950 befand der Komponist bei Studien der frühen Polyphoniker, daß kontinuierliche Polyphonie etwas Statisches habe. Nimmt man das Geflecht der Stimmen als homogenen Klangkörper, so sind sie bloße Innenarchitektur in einem unverrückbaren Gebäude: kleine Wellen eines kontinuierlichen Stroms; blinkende Rasterpunkte in einem stehenden Bild.
Verfremdung der Tradition
Ligetis Vater und Bruder wurden 1945 im Konzentrationslager ermordet. Nur für kurze Zeit, in den Jahren 1947 und 1948, flackerte in Ungarn die große Freiheit auf, dann folgte schon die nächste Diktatur. Für den experimentellen Komponisten Ligeti war da kein Platz: "Unter diesen Bedingungen konnte ich nicht leben. Totalitäre Systeme mögen keine Dissonanzen." Das rhythmische Klatschen tausendfacher Zustimmung, das die Partei-Veranstaltungen begleitete, wurde dem Polymetriker zum Ausdruck des Terrors. Er entzog sich ihm 1956 durch Flucht ins Ausland, die Partitur seines 1. Streichquartetts in der Tasche. Seitdem lebte Ligeti in Städten wie Köln, Wien, Berlin und Hamburg, doch ein Westeuropäer ist er - nach eigener Auskunft - nicht geworden. Vor fünf Jahren sah er einen Film über seinen Heimatort und fand alles sehr verändert. Dann hörte er die Kirchenglocken und war bestürzt: "Die Glocken sind die gleichen!" Ausgerechnet das Glockenläuten: polyrhythmische Kombinationsmuster von Zusammenklängen - wie ein Ur-Modell für Ligetis Musik!
Mit jahrzehntelanger Konsequenz meidet Ligeti die Tradition: Seine Musik entwickelt sich nicht in Abläufen motivischer Verarbeitung, sondern in technologisch gedachten Prozessen der Verdichtung, Eskalation, Desorganisation. Dennoch ist Ligetis Bruch mit der Tradition nicht undialektisch, sondern auch ein kritischer Reflex der Musikgeschichte und voller verschlüsselter Anspielung - etwa in der Verwendung streng polyphoner Techniken wie Spiegelfuge und Proportionskanon. Schon im Frühwerk, das noch in Ungarn entstand, wirkt Ligetis Ansatz zu einer neuen Tonalität halb archaisch, halb persiflierend. In der Kontrapunkt-Studie Invention (1948) erscheint die zweite Stimme im Krebsgang und frivolerweise im Tritonus - eine seltsame Verfremdung der Tradition. Das Capriccio No. 1 (1947) ist eine "halbbachsche" Kompositionsübung "im eigenen Stil", das chromatische Orgelstück Ricercare (1951) schlägt eine provokante Brücke von Frescobaldi zu Schönberg. Das 1. Streichquartett (1953/54) beruht "auf der totalen Chromatik", so Ligeti, "in formaler Hinsicht folgt es aber den Kriterien der Wiener Klassik": ein schriller Widerspruch zwischen Tonsprache und Form. In der Musica ricercata (1951-53) wird die Musik scheinbar neu erfunden - zunächst mit einem, dann zwei, drei, vier Tönen usw. Am Ende steht eine strenge Fuge mit allen 12 Tönen des Chromas: eine scheinbare Re-Definition von Tonalität, fundamental und karikierend zugleich.
Als er in den Westen kommt, findet Ligeti im Studio für elektronische Musik des WDR eine praktisch-theoretische Basis für sein individualistisches Musikdenken. Schon in Budapest wechselt er Briefe mit Stockhausen, hört dessen Gesang der Jünglinge im Radio, während die Sowjet-Panzer durch die Straßen rollen. Ligeti kommt nach Köln und findet sich "plötzlich im Paradies meiner Sehnsüchte": Drei Jahre lang arbeitet er im Kölner Studio neben Maderna, Stockhausen, Koenig, Evangelisti, experimentiert mit elektronischen Klängen - noch ohne Synthesizer und Computer. Man arbeitet manuell, mit Tonbandschnipseln, mit sprachähnlichen, künstlich erzeugten Lauten. Man erforscht den akustischen Raum, die Frequenzen zwischen den Tönen, Mikrotöne, Mikrointervalle, Cluster, Sinustonkomplexe, gefiltertes Rauschen. Am Schneidetisch entstehen elektronische Kompositionen wie Glissandi (1957) und Artikulation (1958).
Die neuen Möglichkeiten interessieren ihn als Inspiration: "Techniken sind für mich nie Selbstzweck, sondern dienen immer der Phantasie." Angeregt von der synthetischen Studioarbeit, notiert Ligeti bald bewegliche chromatische Cluster auch für großes Orchester. Er komponiert seine musikalische Vision neu (Vízíok), nennt sie nun Apparitions und bringt sie 1960 zur Uraufführung: flirrende polyphone Netzgebilde, stehende Klangballungen. Und es entsteht Atmosphères (1961), die vielbeachtete Umsetzung elektronischer Mikrotonalität ins Medium der Orchestermusik. "Atmosphères hätte ich nicht schreiben können ohne die Erfahrungen im Kölner Studio für elektronische Musik", bekannte Ligeti immer wieder. Das Werk scheint das Schwingen der Moleküle einzufangen, es ist stehende Akustik, Klang gewordene Atmosphäre, übersättigte Chromatik, statische Landschaft. Seine exakten Interferenzen wirken elektronisch - so wie Jahre später die Pulsationen in der Musik von Riley, Reich und Adams.
Der Flirt mit Fluxus
Atmosphères mochte auf manchen provozierend wirken, ist aber von tiefernster Absicht: Diese Musik macht die Schöpfung in ihrer akustischen Struktur hörbar. "Ich bin nicht gläubig", sagte Ligeti einmal, "und ich bin kein Atheist. Es gibt da noch andere Möglichkeiten." Dennoch: Anfangs der 60er Jahre scheint Ligeti für kurze Zeit das Image des Provokateurs zu genießen, wird (ungewollt) Mitglied der neo-dadaistischen Fluxus-Bewegung und läßt so manche Veranstaltung zum Happening und Skandal werden. Aufgefordert, über die Zukunft der Musik zu sprechen, hält er zum Beispiel 1961 eine Schweige-Vorlesung. Im gleichen Jahr schreibt er die Trois Bagatelles für Klavier, bestehend aus einem einzigen Ton und einer langen Stille; eine Fassung für mitteltongestimmtes Cembalo (!) wurde 1979 uraufgeführt. Als dann auch noch Ligetis Komposition Volumina an der Domorgel von Göteborg 1962 einen Schmelzbrand verursacht, kommt der - dieses Mal unschuldige - Komponist erst einmal in den Ruf des "enfant terrible".
Ligetis bekannteste Provokation ist der Poème Symphonique (1962) für 100 pyramidenförmige Metronome, dessen Partitur nur aus einigen Anweisungen besteht, "wie man die Metronome beschaffen, auf- und einstellen sowie aufziehen soll". Die Uraufführung fand im September 1963 im Rathaus von Hilversum bei der Abschlußveranstaltung einer Musikwoche statt. Der Kontrast zwischen dem steifen, feierlichen Zeremoniell und dem musikalischen Affront hätte kaum größer sein können und war typisch für die gesellschaftlichen Umbrüche der 60er Jahre. "Der Bürgermeister von Hilversum - im traditionellen dunkelblauen Festanzug mit einem silbernen Säbel am Gürtel - und der Botschafter Spaniens mit rot-gelb-roter Kokarde hielten jeder eine Festrede; beide sprachen über die hohen spirituellen Werte der musikalischen Kunst", erinnert sich Ligeti, der die anschließende Premiere selbst "dirigierte". Zehn Ausführende in Frack und Abendkleid enthüllten die 100 Metronome und setzten sie genau nach Vorschrift in Gang. Die Apparate tickten wacker los, ehe sie einer nach dem anderen verstummten, und nach etwa 20 Minuten, als der letzte abgelaufen war, gab es zunächst "beklemmende Stille", dann "bedrohliche Protestschreie". Die anwesenden Honoratioren waren entsetzt, der Hilversumer Senat verhinderte sogar die Sendung der Fernsehaufzeichnung.
Durch sein Szenario brachte sich der Komponist schon am Nachmittag desselben Tages in eine frappant passende, groteske Situation. Wie er im Beiheft der CD-Neuaufnahme von 1995 berichtet, kümmerte er sich vor der Uraufführung selbst um die frisch aus dem Allgäu nach Holland gelieferten "Instrumente". "100 Metronome befanden sich transportgerecht verpackt in zehn gut zugenagelten Holzkisten, die in einem entlegenen Gang des Rathauses lagerten. Ich stand einsam vor den Holzkisten, allerdings mit Hammer und Zange bewaffnet. Das Öffnen der Kisten war kinderleicht, doch die Metronome (alle nagelneu) wurden sämtlich in aufgezogenem Zustand geliefert, so daß sie zunächst geöffnet und in Gang gesetzt werden mußten, damit sie abliefen. Selbst auf die schnellstmögliche Pendelzeit eingestellt, dauerte das Ablaufen eines vollständig aufgezogenen Metronoms fast eine gute halbe Stunde, was ich aber damals noch nicht ahnen konnte. Dann gab es noch die Schwierigkeit, daß die Aufziehschlüssel mit einem Klebestreifen fest am Boden eines jeden Apparats hafteten. Ich mußte also die 100 Schlüssel erst befreien und dann jeden separat auf die Aufziehwelle aufschrauben. Es war zwar schon September, doch die Sonne verbreitete noch immer glühende Hitze. Ich war vollkommen durchgeschwitzt, allein und in Panik: Wie sollte diese ganze Vorbereitung bis zum Beginn des Empfangs beendet werden, wie sollten die 100 Metronome, noch bevor die Gäste eintrafen, im Festsaal des Rathauses auf Podeste gestellt und mit schwarzen Stofftüchern abgedeckt werden, damit das Publikum nicht ahnen konnte, welche Art von Musikstück zur Aufführung kommen würde?"
Auch musikalisch war das seltsame Happening keineswegs harmlos. Das Werk vermittelt Hör-Erfahrungen, die gleichermaßen mit Ligetis frühen Visionen und Inspirationen wie mit seiner späteren Entwicklung im Zusammenhang stehen. Die extreme Polytempik der 100 durcheinander schlagenden Metronome läßt an die Geschichte von Krudy denken, die der Fünfjährige las: ein Haus voller tickender Apparate, ein Übermaß an Bewegung, das in Stillstand resultiert. Maximale Entropie, weißes Rauschen, statische Unordnung. Mit dem allmählichen Ausdünnen der Schlaggeräusche entstehen jedoch faßbare, wenn auch zufällige polymetrische Muster: "Mir schwebten zahlreiche sich überlagernde Gitter vor, Moiré-Gebilde, die dann wechselnde rhythmische Strukturen ergeben würden." Ähnliche Tempo-Schichtungen hat Ligeti später auskomponiert, etwa in Monument (1976) oder Automne à Varsovie (1985).
Die Mikropolyphonie
Bis weit in die 60er Jahre hinein fühlt sich Ligeti der "Köln-Darmstadt-Pariser Avantgarde" zugehörig, einer Gruppe "serieller" Komponisten um Stockhausen und Boulez, allesamt beeinflußt von Webern und Adorno. Man bildete schon 1956 "eine sehr gute Mafia", förderte und studierte einander, hielt sich vorübergehend für den personifizierten Fortschritt in der Musik und kümmerte sich recht wenig um das Verständnis des Publikums. Angeregt von dieser seriellen Clique, aber auch von der mittelalterlichen Musik und den Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung, entsteht schon in den späten 50er Jahren Ligetis "eigene Kompositionstechnik", die Mikropolyphonie. "'Mikropolyphonie' bedeutet ein so dichtes polyphones Gewebe, daß die Einzelstimmen unhörbar werden und nur die resultierenden ineinanderfließenden Harmonien als Gestalt wirken", so Ligeti. Seine polyphonen Techniken greifen bis in mikrotonale Bereiche: In Werken wie Requiem, Volumina oder Harmonies wird streckenweise die temperierte Stimmung außer Kraft gesetzt. Im Streicher-Stück Ramifications (1968/69) sind die Instrumente mit 13 Hertz Differenz gestimmt, streben aber natürlicherweise zur Angleichung und erzeugen so eine unsichere, verschwimmende Tonordnung. Dichte, mehrstimmige Abläufe drohen in übersättigter Chromatik oder fluktuierender Harmonik zu verklumpen, die Maschine gerät durch Über-Determinierung ins Stocken: Da ist sie wieder, Ligetis Vision einer statischen Musik. Und sie wirkt nun zuweilen, als wollte sie die Idee der seriellen Durchformung ins Extrem und ins Absurde treiben.
Den elektronischen, "sprachähnlichen" Experimenten folgen die Phonem-Kompositionen Aventures (1962) und Nouvelles Aventures (1962-65), die Chorstücke Requiem (1963-65) und Lux aeterna (1966). Die Verwendung menschlicher Stimmen besitzt bei Ligeti eine verblüffende Wirkung: Sie gibt den oszillierenden, elektronisch wirkenden Mikroton-Wolken eine fast religiöse Aura von Archaik und ewigem Geheimnis. Besonders deutlich macht dies Ligetis Requiem - keine versöhnliche Totenmesse, sondern ein Werk, in dem Todesangst und Höllenstrafe und die Dämonen und Monstren der Unterwelt Klanggestalt gewinnen. Wie ein korrigierendes Gegenstück dazu wirkt Lux aeterna: Hier sieht man ein mildes, harmonisches Licht direkt aus der Ewigkeit strömen, wahrhaftiger als alle Liturgie. Die A-Cappella-Stimmen zerfließen in Nebentönen, die Polyphonie verschwimmt in schwebenden Klangfarben. Musik vom anderen Ende der Welt.
Im 2. Streichquartett (1968) reduziert Ligeti das Wechselspiel zwischen verwobenen Linien und stehendem Klang auf nur noch vier Instrumente. Die Stimmen, polyrhythmisch gebündelt, erzeugen Strukturen, die noch etwas anderes sind als nur die Summe der Einzelstimmen: Architektur und Zersplitterung gleichzeitig. Das Ergebnis sind "klingende Gewebe, manchmal zerfasert, fast flüssig, ein andermal körnig, maschinell": Ligeti vergleicht sie mit der Malerei Cézannes, in der Licht- und Farbwirkungen die Gegenstände vergessen lassen. Berühmt wurde der 3. Satz mit der Überschrift: "Come un meccanismo di precisione". Hier hat Ligeti eine polymetrische Pizzicato-Maschine komponiert, die allmählich kaputtgeht: eine deutliche Anspielung auf den Poème Symphonique für 100 Metronome. Eine ähnlich "mechanistische" Erfindung ist der 3. Satz im Kammerkonzert (1969/70), "Movimento preciso e meccanico".
Techniken der Illusion
Neben Cézanne fällt immer öfter der Name eines anderen bildenden Künstlers, wenn von Ligetis Musik die Rede ist: M.C. Escher. Einige von Eschers Werken fanden den Weg auf Ligetis CD-Covers, so "Circle Limit IV" (ein Ineinander von Teufels- und Engelsfiguren, zum Globus geordnet) und "Concave and Convex" (ein paradoxes Spiel mit der Perspektive gezeichneter Architektur - Treppen, Leitern, Bögen und Gängen). Der Holländer gilt als Meister der Paradoxie und Zweideutigkeit: Seine Werke sind Vexierbilder, Sinnestäuschungen, hintergründige Konstrukte, die man auf die eine oder andere Weise sehen kann. Da schlagen Perspektiven um, Körper und Raum verkehren sich ineinander, die Teile und das Ganze widersprechen einander und bedingen sich doch wechselseitig.
Das hat in der Tat Parallelen zu Ligetis Musik: Auch in ihr sind die Spannungen zwischen den Einzelstimmen und der Struktur wesentlich. Zwischen das tatsächlich Komponierte und den resultierenden Höreindruck tritt ein Moment der kalkulierten Illusion oder akustischen Täuschung: Übermaß hebt sich selbst auf, Polyphonie wird Stillstand, der Hintergrund wird Vordergrund und umgekehrt. Ein "Interesse für Vexierbilder, Paradoxa der Wahrnehmung und Vorstellung", bescheinigt sich Ligeti selbst. Sogar explizit von Escher inspiriert ist das Orgelstück Harmonies (1967), eine Art Etüde über einen Cluster aus 10 Tönen. Das Stück arbeitet (durch verminderten Winddruck) mit Mikrointervallen und entwirft dabei ein illusionistisches Vexierbild temperierter Harmonik.
Das Schlüsselwerk für diese Illusions-Tendenz in Ligetis Schaffen ist das knapp vierminütige Stück Continuum (1968) für Cembalo solo. Auch hier spielen wieder mechanistische Vorstellungen eine Rolle: Das Stück klingt wie das Porträt einer Präzisionsmaschine, die sich selbst zerstört. In rasender Geschwindigkeit werden Einzelrhythmen übereinandergeschichtet, bilden ein flirrendes Gitter motorischer Abläufe und erzeugen dabei - quasi durch die Trägheit des Ohrs - die akustische Illusion stehender Flächen. Der Effekt ist einer sich drehenden Stroboskopscheibe vergleichbar: Man hört eine klingende Landschaft (oder Architektur), bekommt sie tatsächlich aber nur portionsweise geliefert.
Von Continuum führt ein konsequenter Weg zu den Illusions-Wirkungen in Drei Stücke für zwei Klaviere (1976). Im 1. Satz ("Monument") koppelt der Komponist bestimmte Lautstärken mit bestimmten Tonhöhen und täuscht dem Ohr eine Art Klangplastik vor: Klingende Gegenstände scheinen im Raum verteilt wie die Holzpuppen in den surrealistischen Welten de Chiricos. Das Stück entwickelt sich, indem es die leeren Räume zwischen den Hör-Gebilden "auffüllt": Dieser Vorgang wiederholt sich - in "verflüssigter" Form - im 3. Satz ("In zart fließender Bewegung"). Von besonderem Interesse ist der Mittelsatz ("Selbstportrait"): Hier treten die illusionistische Wirkung und das Spiel mit polymetrischen Rastern in eine neue Bedeutungsphase. Durch die Überlagerung zweier relativ simpler Verläufe entsteht komplexe Polyrhythmik und erweckt die Vorstellung (so Josef Häusler) "eines ganzen Räderwerks von unterschiedlicher Drehzahl und imponierender Nutzlosigkeit des Funktionierens". Wieder fühlt man sich an die Erzählung von Krudy erinnert, aber auch an Bilder von Tinguely. Das "Kaputtgehen" ist der Maschine gleich mitgegeben: Präzision und Inpräzision sind musikalisch verschränkt - eine synthetische Textur mit Webfehlern. Daß zwei Pianisten unabhängig voneinander zu Werke gehen, hilft der Genauigkeit des Geschehens, aber zusätzlich verwendet Ligeti hier eine Technik der blockierten Tasten. Diese erlaubt, gleichmäßige Abläufe zu spielen und dabei doch schwierige unregelmäßige Rhythmen hervorzubringen.
Der volle Titel dieses Mittelsatzes lautet: "Selbstportrait mit Reich und Riley (und Chopin ist auch dabei)". Schon diese Überschrift verrät, daß Ligetis Klang-Vision durch neue Einflüsse bereichert wurde: durch die Phasenverschiebungen, Patterns und Pulsationen der amerikanischen Minimal Music - und übrigens auch durch die Experimente eines Harry Partch. Ligeti begegnet diesen amerikanischen Anregungen 1972 als "Composer in Residence" an der Universität von Stanford (Kalifornien) und erkennt sofort die musiktechnische Verwandtschaft zu seinen eigenen Interessen. Ohne daß er sich der Neotonalität anbequemt oder auf komplexe Polymetrik verzichtet, stärkt ihn der Einfluss der Minimal Music auf seinem individuellen Weg abseits serieller Orthodoxie. Nur vorübergehend wird da ein spielerisches Tendieren ins Postmoderne spürbar - etwa in der Oper Le Grand Macabre (1974-77) oder in den Cembalo-Pastiches von 1978, Passacaglia ungherese und Hungarian Rock.
Nancarrow und Afrika
Dann, erst in den 80er Jahren, begegnet Ligeti der Musik eines weiteren Amerikaners, Conlon Nancarrow (1912-1997). Der große Einzelgänger, dessen Vorliebe für polyrhythmische Komplexität so ungewöhnlich war, daß er glaubte, lebende Interpreten könnten seine Musik nicht aufführen, wurde Ende der 60er Jahre durch seine Studies for Player Piano bekannt. Diese Musik für mechanisches Klavier - so Ligeti über Nancarrow - "verbindet Bach mit Jazz und mit einem sehr komplexen rhythmisch-metrischen Denken". Ligeti entdeckt bei Nancarrow zahlreiche verwandte Wesenszüge: experimentelle Polyphonie, polymetrische Schichtungen, mathematische Inspirationen, Faszination des Mechanischen. Und er entdeckt Nancarrows Interesse an afrikanischer Musik und Jazz: Einflüssen, die in den 80er Jahren zunehmend auch bei Ligeti zum Tragen kommen.
Es ist im Rückblick erstaunlich, daß Ligeti nicht schon viel früher der Musikethnologie begegnete. Musikkulturen in Bali, Java oder Lateinamerika, aber vor allem solche in Schwarzafrika bieten mit ihrer ausgeprägten Polyrhythmik eine Menge Berührungspunkte und Anregungen für einen Musiktechnologen wie Ligeti. Gerade das afrikanische Denken in Perioden (den "Patterns" der Minimal Music nicht unähnlich) wird ihm in den 80er Jahren Bestätigung und neuer Anreiz: In der afrikanischen Xylophon- und Lamellophonmusik schichten sich über einem superschnellen Grundpuls verschiedene rhythmische Abläufe und bilden so ein polymetrisches Ereignis-Gitter. Dieses hat illusionistische Züge, denn aus der Gleichzeitigkeit der Stimmen, die unabhängig voneinander von verschiedenen Spielern gespielt werden, entstehen für das Ohr melodisch-rhythmische Konfigurationen, die so, wie sie gehört werden, eigentlich gar nicht "vorhanden" sind.
Ligeti will nicht afrikanischer Musik nacheifern, sondern Erfahrungen dieser Art für seine eigenen Klang-Visionen nutzbar machen; dabei hilft das Modell Nancarrow. Im Klavierkonzert (1985-88) entwirft Ligeti Klangmelodien, die aus der Addition eigenständiger Stimmen entstehen: das Resultat ineinandergreifender Zahnräder mit unterschiedlicher Übersetzung. Im Violinkonzert (1990-92) steigert sich Polyrhythmik bis zu einem Punkt labyrinthischer Komplexität, an dem die Schichtungen und Gewebe in eine neue Art von Polyphonie umschlagen. Neben Nancarrow und außereuropäischer Musik sind es Anregungen aus dem Mittelalter, aber auch Computerbilder der Fraktalgeometrie, die Ligeti dabei inspirieren.
Études pour piano
Die Bilanz seiner Entwicklung bis hin zu diesen neuesten Einflüssen zieht Ligeti seit 1985 in den Études für Klavier. Zweifellos ist der Versuch, die - auch illusionären - Wirkungsweisen von Polyphonie und Polyrhythmik in kurzen Klavierstücken konzentriert zu handhaben, von Nancarrows mechanisch gespielten Stücken angeregt. "Aus seinen Studies for Player Piano habe ich rhythmische und metrische Komplexität gelernt", sagt Ligeti bescheiden. Auch für seine eigene Étude 14 (Coloana infinita) sah er in der Erstfassung (14 a) ein mechanisches Klavier vor, und einige der anderen Études wurden inzwischen ebenfalls mit Player Pianos eingespielt. Für die György Ligeti Edition entstand daraus sogar eine ganze CD mit mechanischer Musik, Bearbeitungen von Klavier- und Cembalostücken, und zwar nicht nur für Player Piano, sondern auch für lochstreifengesteuerte Drehorgel. Ligetis Visionen von Musik-Maschinen treten hier in eine neue Phase der Wirklichkeit.
Anders als Nancarrow schreibt Ligeti seine Etüden jedoch für den lebendigen Interpreten. Ihm erfindet er pianistische oder fingermotorische Techniken, um komplexeste Polyrhythmen zu meistern. Aus der Not spieltechnischer Grenzen entwickelt er Tricks, das Ohr zu überlisten - wieder ähnlich einem Cézanne, der statt der Gegenstände die Farben zum Sprechen bringt. Étude 1 (Désordre) jongliert mit der Illusion metrischer Ordnung und Unordnung: Durch Akzentverschiebungen entsteht der Eindruck rhythmischen Nachhinkens, das Stück strebt scheinbar zunehmender Verwirrung entgegen. In Étude 6 (Automne à Varsovie) hören wir bis zu vier verschiedene Geschwindigkeitsebenen, deren Melodien sich scheinbar völlig unabhängig voneinander entwickeln. Weder avantgardistisch noch traditionell seien seine Etüden, sagt Ligeti, "nicht tonal und nicht atonal". Die Form ist spontan oder organisch: Aus einer einfachen Ausgangs-Konstellation wächst Hochkomplexes - eine Kettenreaktion, manchmal auch eine Eskalation. Hier hat ein Komponist zu sich selbst gefunden.
Ligetis Musik scheint von weither zu kommen, aus vergessenen Quellen. Von seinem Trio für Violine, Horn und Klavier (1982) sagt der Komponist, der 2. Satz sei "ein Tanz, inspiriert durch verschiedene Volksmusik von nichtexistierenden Völkern, als ob Ungarn, Rumänien und der ganze Balkan irgendwo zwischen Afrika und der Karibik liegen würden". Wir kennen den Namen dieses imaginären Landes: Es heißt Kilviria, ähnelt ein wenig dem alten Osteuropa und liegt irgendwo zwischen Draculas Siebenbürgen und Kubricks Weiten des Weltraums. In seiner Jugend entwarf Ligeti Stadtpläne dieser utopischen Weltgegend Kilviria, er beschrieb ihre geologischen Formationen und die Sprache ihrer Bewohner. Auch im Musikalischen hatte seine Phantasie stets nachvollziehbare Struktur - vielleicht fremdartig, vielleicht eigenwillig, aber von strenger Konsequenz. "Ich bin nie ein Westeuropäer geworden", sagt der Komponist.
© 1998, 2003 Hans-Jürgen Schaal
© 1998 Hans-Jürgen Schaal |