Gustav Mahlers 9. Sinfonie ist das letzte von ihm vollendete Werk und nach Meinung der Kenner sein Meisterwerk. Ein Meisterwerk freilich, das seiner Zeit weit voraus war und auch heute noch häufig sein Publikum verwirrt. Vielleicht hatte ein japanischer Kritiker Recht, der vor wenigen Jahren schrieb: Wir sind noch immer nicht reif genug, dieses Werk zu verstehen.
Dem Jenseits zu nahe
Mahlers Neunte - das rätselhafte Meisterwerk
(1997)
Von Hans-Jürgen Schaal
Das Jahr 1907 gilt in der Mahler-Forschung als Jahr der Krise. In diesem Jahr, in dem der Komponist seine populistische, gigantomanische 8. Sinfonie vollendete, veränderte sich sein Leben grundlegend. Unter dem Druck der Pressekampagnen gegen ihn, den Direktor der Wiener Hofoper, beschließt Mahler schon im Mai, von seinem Posten zurückzutreten. Im Sommer stirbt seine 5jährige Tochter, Maria Anna, an Diphtherie. Gleichzeitig erfährt er von seinem unheilbaren Herzleiden. Im Herbst kündigt Mahler nach 10 Jahren tatsächlich seinen Posten als Direktor der Hofoper und tritt einen Vertrag als Dirigent der Metropolitan Opera in New York an. Dort gibt er am 1. Januar 1908 sein erstes Konzert.
Diese Erschütterungen des Jahres 1907 hinterließen ihre Spuren in Mahlers nächster Komposition, dem resignierten, todesnahen "Lied von der Erde" (für Orchester und zwei Gesangsstimmen). Ursprünglich sollte dieses Werk seine 9. Sinfonie werden. Mahler jedoch schreckte vor dieser Benennung zurück, denn Beethoven, Schubert, Bruckner, Dvorak - alle waren sie über ihre 9. Sinfonie nicht hinausgekommen. Gustav Mahler fürchtete, mit der "Neunten" seinen Tod herbeizukomponieren.
Als er das "Lied von der Erde" 1908 vollendete, war Mahler - trotz seiner Krankheit - keineswegs ein alter, zermürbter Mann. Er war 48 Jahre jung und hatte klare, nüchterne Pläne. Er wollte ordentlich Geld verdienen in Amerika, um sich später ganz auf die Komposition und das Dirigieren ausschließlich eigener Werke konzentrieren zu können. Als Arturo Toscanini sein Konkurrent an der Met wurde, trennte er sich kurzerhand für immer vom geliebten Musiktheater. Ab März 1909 war Mahler nur noch als Konzertdirigent tätig - mit dem New York Philharmonic Orchestra.
Zum Komponieren jedoch kam Gustav Mahler im Sommer nach Europa, setzte sich wie seit Jahren in sein Komponierhäusl bei Toblach in Südtirol. Dort entstand im Sommer 1909 dann doch eine 9. Sinfonie, die er während der Konzertsaison in den USA fertig orchestrierte. Im April 1910 war sie vollendet, Gustav Mahlers Gesundheitszustand aber bereits bedenklich. Leider behielt sein Aberglaube, seine Scheu vor der "Neunten", Recht. Als das Werk veröffentlicht wurde, lebte er nicht mehr. Die Uraufführung leitete Bruno Walter am 26. Juni 1912 in Wien.
Das Prinzip Auflösung
Zusammen mit dem "Lied von der Erde" und dem Adagio-Satz zur nicht mehr vollendeten 10. Sinfonie bildet die 9. Sinfonie das eigentliche Spätwerk Mahlers, das sich deutlich gegenüber den vorangegangenen Werken - zumal der 8. Sinfonie - abhebt. Vieles an Mahlers letzter Sinfonie ist verwirrend. Die übliche Tempofolge der Sätze (die der Komponist immer schon gern variierte) ist nahezu in ihr Gegenteil verkehrt: Zwischen zwei langsamen Ecksätzen sind zwei rasche Scherzo-Sätze eingeschlossen. Eine Sonatenhauptsatzform findet sich nirgends mehr. Der harmonische Zusammenhang scheint aufgelöst: D-dur, C-dur, a-moll und Des-dur sind die Grundtonarten der vier Sätze.
Besonders deutlich wird der Kontrast zur überladenen 8. Sinfonie in der neuartig schlanken Instrumentierung, wie sie sich schon im "Lied von der Erde" ankündigt. Mahler verwendet ein für seine Verhältnisse kleines Orchester und vermeidet die spätromantischen Klangmassen. Seine Instrumente setzt er linear ein, in kühlen, vielfach ungewohnten Klangkombinationen und oft in freier Polyphonie. Der Bruch mit der spätromantischen Harmonik ist so stark, daß viele ihn als Selbstkritik des Komponisten verstehen wollten. Auch die Verwendung von nur vier Sätzen - bei Mahler nicht die Regel - wirkt wie eine gewollte Selbstbeschränkung.
Es scheint, als befinde sich in dieser Sinfonie die Mahlersche Orchestersprache in einer Art kontrollierter Auflösung. Die Klänge werden herb und schmucklos, die Melodien erstarren zu Motiv-Collagen, formale Prinzipien weichen einem spontaneren Zusammenhang. Mit solchen Auflösungstendenzen im Musikalischen stimmen die inhaltlichen Deutungen überein, die die Sinfonie über die Jahrzehnte hinweg erfahren hat. Die meisten Interpreten sehen sie im Zusammenhang mit dem "Lied von der Erde" als ein Abschiednehmen vom Leben, als Auseinandersetzung mit dem Tod. Dafür spricht auch, daß Mahler in allen vier Sätzen Motive aus den "Kindertotenliedern" und aus Beethovens Klaviersonate "Les Adieux" verwendet. Der erste Satz, so liest man gelegentlich, spreche von der Milde des Todes, der zweite von seinem Schrecken, der dritte sei ein Rückblick aufs Leben, der vierte ein endgültiges, aber nicht enden wollendes Abschiednehmen.
Vermeidung der Form
1. Satz: Andante comodo
Alban Berg schrieb 1912 in einem Brief an seine Frau: "Ich habe wieder einmal die 9. Symphonie Mahlers durchgespielt. Der erste Satz ist das allerherrlichste, was Mahler geschrieben hat. Es ist der Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, im Frieden auf ihr zu leben, sie, die Natur, noch auszugenießen bis in ihre tiefsten Tiefen - bevor der Tod kommt. Denn er kommt unaufhaltsam. Dieser ganze Satz ist auf die Todesahnung gestellt. Immer wieder meldet sie sich... am stärksten natürlich bei der ungeheuren Stelle, wo diese Todesahnung Gewißheit wird, wo mitten in die 'höchste Kraft' schmerzvollster Lebenslust, 'mit höchster Gewalt' der Tod sich anmeldet - dazu das schauerliche Bratschen- und Geigensolo und diese ritterlichen Klänge: der Tod in der Rüstung. Dagegen gibt's kein Auflehnen mehr...".
Die Todesthematik war auch für Alban Berg unzweifelhaft. Manche hören dieses Andante als einen traumartigen Nachklang des Lebens - so wie Mahler häufig triviale Melodien und Weisen derart verfremdet, daß sie wie aus der Erinnerung dunkel vertraut scheinen. Erwin Ratz, der große Mahler-Kenner, nannte den ersten Satz ein wehmutsvolles Todeslied der Natur. Adorno sprach vom "Abglanz unmittelbaren Lebens im Medium der Erinnerung".
Einzigartig in der Musikliteratur ist der Satz durch seine Form, an deren Analyse sich sämtliche Mahler-Forscher die Zähne ausgebissen haben. Zu erkennen sind Elemente der Sonate, jedoch verwoben mit einer Doppel-Variation und Anklängen von Rondo und Liedform. Dieses bewußte Ausweichen vor dem Formschema erscheint hier als die eigentliche formale Idee. Der Satz bewegt sich zwischen Auflösung und neuer Synthese, zusammengehalten durch ein Wechselspiel von verschiedenen Themen, das aus sich heraus kein Ende zu finden vermag. Mit extremen Umschwüngen in Dynamik, Tempo und Ausdruck werden die Themen quasi durchs Orchester gereicht und summieren sich zu einer einzigen, fast halbstündigen Melodie.
In Takt 7 setzt das Hauptthema ein, in der Grundtonart D-Dur. Sein Charakter ist vielfach beschrieben worden: als elegisch, als lyrisch, als Trauermarsch, als ein herbeigewehtes Lied, als früher Morgen mit verhangenem Sonnenaufgang. Schon hier klingt Beethovens Sonate "Der Abschied" an, "Les Adieux", ein erstes Morendo bereits in Takt 15, dieses den ganzen Satz durchziehende fis-e. Ab Takt 26 verdüstert sich die Färbung wie vor einem Gewitter, mit opernhafter Dramatik erregen und steigern sich die Stimmen, dann wieder Beruhigung, fast Stillstand, ein Neuanfang, bald neue Erregung.
So, durch Reprisen, Variationen, Katastrophen, Leidenschaften, unfertige Episoden und Stockungen entwickelt sich dieser hochexpressive Satz der gebrochenen Formen und gebrochenen Klänge. Immer wieder drohen Blech und Pauken oder Celli und Fagott mit Schicksalsschlägen, immer wieder stürzt die Musik von höchster Erregung ins Nichts, kämpfen Weich und Hart gegeneinander. Passagen, die besonders im Gedächtnis bleiben: die furios gesteigerten Fanfaren (Takt 174, Mit Wut); eine verwirrende Nervenmusik (Takt 211; Leidenschaftlich); der beinahe an einen Tango erinnernde Marsch (Takt 327, Wie ein schwerer Kondukt). Das ruhige Schlußthema verklingt betont harmlos in B-Dur.
Tödliche Heiterkeit
2. Satz: Im Tempo eines gemächlichen Ländlers. Etwas täppisch und sehr derb
Nach dem teils ernsten, teils weichen, teils dramatischen Abschiednehmen im 1. Satz besitzt das folgende Scherzo in C-Dur eine Heiterkeit, die nicht ganz geheuer wirkt. Innerhalb der postulierten Todesthematik der Sinfonie bildet dieser 2.Satz - ein Durchführungs-Scherzo - den Totentanz: grell und unheimlich, eine Schrecken erregende Walpurgisnacht.
Der Anfang spielt deutlich auf den alpenländischen Tanzboden an: Klarinetten und Streicher streiten sich um einen schwerfälligen Ländler. Die Sechzehntelfigur von Fagott und Bratsche sorgt hier schon für einen Einschlag ins Groteske, schaurige Verzerrungen kündigen sich an. Mit Tempo II (Takt 90, Poco più mosso subito) weichen die bodenständigen Klänge einer mehr chromatischen Sprache, und gerade dieses Changieren zwischen Zünftigem und Wagnerton treibt den Tanz ins Un-Heimliche.
Tatsächlich handelt es sich nicht um einen einzelnen Tanz, sondern um eine mutwillige Montage oder Collage aus drei verschiedenen Tanzthemen. Frech springt der Satz zwischen dem Ländler in C-Dur, einem schnellen Walzer in E-Dur und einem sehr langsamen, fast zeitlupenartigen Walzer oder Ländler in F-Dur hin und her. Alle drei verweisen auf vertraute Muster des Dreivierteltakts, verfremden jedoch - mehr oder weniger stark - das Banale ins Beängstigende. Ritardandi und Accelerandi leiten in schattenhaft morbide Passagen oder durch grelle Klanghärten hindurch. Die Tödlichkeit des Trivialen und die Trivialität des Todes: Auch davon spricht diese Musik.
Übersteigerte Polyphonie
3. Satz: Rondo - Burleske. Allegro assai, Sehr trotzig
Auch der dritte Satz der Sinfonie hat Scherzo-Charakter, und hier kontrastiert der Name "Scherzo" noch stärker mit dem musikalischen Geschehen. Schon dieses "Sehr trotzig" in der Satz-Bezeichnung will ja nicht recht zum Charakter eines Scherzos passen. Auch daß der Satz in Moll steht, und zwar in a-moll, Mahlers traditionell tragischster Tonart, deutet schon an, daß mit dem Scherzhaften dieser Musik etwas ganz und gar nicht stimmt.
Der Satz ist eine Burleske, aber eine Burleske, die überm Abgrund balanciert: nicht witzig, sondern eher grimmig, ein verbissener, trotziger Geschwindmarsch. Die Mahler-Interpreten sahen darin gerne einen zynischen Rückblick auf das Leben, auf sinnlose, ziellose Geschäftigkeit, ein wirres Durcheinander. Es ist, als ob der Komponist bei dieser Gelegenheit auch sich selbst und seine lebenslangen Bemühungen verhöhnen wollte.
Musikalisch ist dieses sinnlose Treiben umgesetzt in kompromißlose Polyphonie, die nichts Gefälliges, nichts Melodiöses mehr hat. Das motivische Material ist fast komplett aus dem 2. Satz von Mahlers 5. Sinfonie übernommen, die Dissonanzen allerdings sind diesmal bis an den Rand zur Atonalität getrieben. Offenbar zieht Mahler hier Konsequenzen aus seinen Bach-Studien, indem er fugierte Mehrstimmigkeit bis zu dem Punkt fortführt, wo sie in Entropie umkippt. Der Satz ist hoch virtuos - sowohl was das Kompositorische betrifft wie die Leistung, die dem Orchester abverlangt wird.
Mitten in die strenge, enge Stimmführung platzt eine Operettenmelodie (Takt 394, Mit großer Empfindung) - ein Abgrund des Wahnsinns tut sich da auf. Solche dämonischen Gegensätze begegnen uns erst wieder in den Werken von Prokofieff und Schostakowitsch. Nach dem lyrischen Thema in D-Dur kommt das wilde Getöse des a-moll-Teils um so grotesker, mit beinahe jazzigem Effekt zurück. Die Phantastik der 9. Sinfonie erreicht hier ihren Gipfelpunkt.
Letzter Ausdruck
4. Satz: Adagio
Der Schlußsatz heißt einfach Adagio, als sei damit alles gesagt. Ein Adagio zur Beendigung aller Adagios? Der Mahler-Kenner entdeckt hier so manche Anspielung auf Todes- und Abschiedsmotive aus früheren Werken. Unerwartet kommt die Tonart Des-Dur. Der Aufbau jedoch ist wie im vorhergehenden 3. Satz rondoartig: Der Hauptteil kehrt in sich wandelnder Form mehrmals wieder, unterbrochen von kontrastierenden Episoden, z.B. der von Holzbläsern geprägten Passage ab Takt 88, Stets sehr gehalten.
Der Anfang ist feierlich und erhaben, ein Choral für Streicher, extrem langsam. Ein schauerlicher, einsamer Einwurf des Fagotts bzw. Kontrafagotts (erstmals Takt 11/12) wurde als "Verheißungsmotiv" gedeutet. Aus dem getragenen Anfang steigert sich der Satz zu immenser Expressivität, ohne das langsame Tempo zu verlieren. Die Streicher sind einmal mehr Mahlers Medium höchsten Ausdrucks: Im Wechsel von kleinsten und größten Intervallen, aber auch von Tutti und Solostimme spricht sich emotionale Erschütterung aus. Ist hier der Todeskampf, das Sterben, die Verzweiflung der Hinterbliebenen gemeint? Solche inhaltlichen Deutungsversuche sind legitim, meinte doch Mahler selbst, alle Sinfonik seit Beethoven sei Programm-Musik. Und in einem anderen Zusammenhang schrieb er, er höre in der Musik ganz bestimmte Antworten auf alle seine Fragen.
In der Mahler-Deutung überwiegen freilich die Fragen. Nehmen wir also an, dies ist das Sterben: Trauer, leidenschaftlicher Todeskampf und ein nicht enden wollender Ausklang. Auflösung im Adagissimo, Pianissimo. Am Schluß sind die Streicher wieder allein, aber da ist Versöhnliches, Zartes im Spiel: Eine Vision himmlischen Lebens? Auch Beethovens "Les Adieux" zielten ja auf ein Wiedersehen. Zum Ende hin ein Zitat aus den Kindertotenliedern - wohl in Erinnerung an Mahlers Tochter Maria Anna.
Nachklang
Die Rätselhaftigkeit der 9. Sinfonie hat mythische Elemente. Fast scheint es, als würde mit diesem Werk aus dem Geist der Romantik die Schärfe, Strenge und Atonalität der Moderne geboren. Schon im Jahr der Uraufführung, im Jahr nach Gustav Mahlers Tod, bezeichnete Arnold Schönberg die Neunte als "höchst merkwürdig. In ihr spricht der Autor kaum mehr als Subjekt. (...) Dieses Werk ist nicht mehr im Ich-Ton gehalten. Es bringt sozusagen objektive, fast leidenschaftslose Konstatierungen, von einer Schönheit, die nur dem bemerkbar wird, der auf animalische Wärme verzichten kann und sich in geistiger Kühle wohlfühlt. Was seine Zehnte (...) sagen sollte, das werden wir so wenig erfahren wie bei Beethoven und Bruckner. Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muß fort. (...) Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe."
1997, 2002 Hans-Jürgen Schaal
© 1997 Hans-Jürgen Schaal |