Thelonious Monk erfand dem Jazz eine neue Ästhetik: kantig und schrill, logisch und mit Witz. Viele Jahre lang verspottet und unverstanden, wurde der bärenhafte Pianist Anfang der 60er Jahre plötzlich zum bizarren Jazz-Genie ausgerufen. Mit seinem Tod 1982 endeten die Berührungsängste: Monks Musik hat sich heute den Jazz auf breiter Front erobert. Eine Würdigung des sturen Einzelgängers, den die Zeit endlich eingeholt hat.
Thelonious Monk
Denksport mit Kanten
(2002)
Von Hans-Jürgen Schaal
Der Saxophonist Teddy Hill war ab 1940 der Pächter und musikalische Leiter in Minton's Playhouse, jenem Lokal in Harlem, wo der Bebop geboren wurde. Hills Wort hat also Gewicht, wenn er sagt: "Da gibt es diesen Typen, dem wir die Erfindung des Bebop verdanken. Er denkt wahrscheinlich, es sei sein Schicksal, anders als die anderen ruhmlos auszugehen. Doch Monk ist der Ursprung von allem gewesen. Dizzy hat das Produkt nur verpackt und konsumfähig gemacht." Auf die Frage, was er von Monk gelernt habe, erzählte Dizzy Gillespie begeistert von verrückten verminderten Sextakkorden, die sein musikalisches Verständnis verändert hätten, und von Monks inspirierendem Einfluss auf die Gillespie-Bigband. Deshalb ist Monks Bericht glaubhaft: "Dizzy und Bird haben mir nichts beigebracht. Im Gegenteil, sie haben mich besucht, um mir Fragen zu stellen, um etwas von mir zu lernen." Monk war der Hohepriester des neuen Stils. Möglicherweise geht sogar der Name "Bebop" auf ein frühes Stück von ihm zurück, das "Bip-Bop" hieß. Gillespies Komposition "Be Bop" entstand erst Jahre später.
Einen besonderen Ruf unter Insidern hatte Monk schon früh. Irgendwann in den 30er Jahren gewann der junge Pianist Woche für Woche den Talent-Wettbewerb im Apollo Theater, bis es den Veranstaltern zu viel wurde und er außer Konkurrenz starten musste. Als das Minton's eröffnet wurde, war Monk längst in allen Jazzclubs der Stadt zu Hause und experimentierte dort mit seinen schrillen Intervallen und "aufgeplatzten" Harmonien. Er hatte lange genug in der Baptistenkirche das Harmonium gespielt, um hungrig auf neue Akkordfolgen zu sein. Monk wurde bald ein Mythos, blieb aber eine Figur im Untergrund. Während der Bebop populär wurde, galt Monks Klavierspiel noch immer als unzugänglich, eigenbrötlerisch, eckig und falsch. Manche sagten, er könne überhaupt nicht Klavier spielen. Coleman Hawkins, der ihn dennoch engagierte, bekam jeden Abend die Frage gestellt: Wieso hast du keinen ordentlichen Pianisten? Und was macht dieser Monk da eigentlich? Gillespie und Parker, die Dioskuren des Bebop, wurden von einer Generation von Musikern kopiert. Monk dagegen blieb ein Original.
Es war schon seltsam, was dieser tolpatschige Hüne am Klavier veranstaltete. Mit flachen Fingern hämmerte er in die Tasten, laut, dissonant, aggressiv, während seine Füße den Beat kickten und manchmal ein kleines Ballett vollführten. Zuweilen spielten die Hände über Kreuz, der kleine Finger schlug gern zwei nebeneinander liegende Tasten gleichzeitig an, die Ellbogen drückten Cluster im Bass oder Diskant, mit eckigen Schulterbewegungen hebelte sich der schwere Mann selbst aus dem Sitz. Was er spielte, klang sperrig und schräg, als wären da nur noch die Eckpunkte der Phrasen übrig, die fleischlosen Knochen der Musik, ein bizarres Kinderlied, das durch ungewohnte Harmonisierungen in desto wilderen Farben leuchtete. Wo andere Bb7 drückten, griff Monk Bb7b9#11omit3 (b-f-as-h-dis). Man zeterte: Das sei kein Jazz, Monk sei kein Pianist, er habe keine Technik. Doch wer Monk spielen sieht oder nachzuspielen versucht, weiß, wie viel ungewöhnliche Virtuosität dafür nötig ist. Ganz bewusst wählte Monk einen Sonderweg in die künstliche, kubistische Eckigkeit. In späteren Jahren trug er sogar schwere Ringe an den Fingern, als wolle er sein Spiel damit noch kantiger und ungelenker machen.
Denn Monk konnte auch anders. Schon als Winzling hatte er das Klavier für sich entdeckt, bekam konventionellen Unterricht, wölbte die Hände richtig, konnte über Nacht ein Rachmaninoff-Konzert einstudieren, lernte Stride-Piano und imitierte täuschend echt Art Tatum, damals das Nonplusultra virtuosen Jazzklaviers. Weil Monk Akkorde und Fingersatz bei einem Juilliard-Lehrer lernte, brüstet sich sogar die Juilliard School heute mit dem Namen des viel beschimpften Anti-Pianisten. Monk wollte gezielt anders sein: unverkennbar. In eine Band war er daher nur schwer zu integrieren. "Ich höre ihn gern spielen, aber ich kann ihn in einer Rhythmusgruppe nicht ertragen", sagte Miles Davis und gebot dem Pianisten, während des Trompetensolos auszusetzen. Einen weichen, harmonischen Teppich durfte kein Solist vom Begleiter Monk erwarten: Der lieferte vielmehr strenge, eckige Phrasen, unerwartete Akkorde, klirrende Gegenstimmen, die dich aus der Bahn zu werfen drohen. John Coltrane sah das positiv: Monks Begleitung erzeuge "eine Spannung, die den Bläser zum Überlegen zwingt, statt ihn in die üblichen Klischees fallen zu lassen."
Thelonious Monk schuf dem Jazz nicht mehr und nicht weniger als eine eigene Ästhetik. "Vergiss das Kreischen, die billige Virtuosität. Bleib bei der Melodie", so wies er gerne seine Bläser an. Sein Improvisieren war eine Art mathematisches Vexierspiel mit der Ausgangsphrase, die er hin- und herdrehte, zerpflückte, anders akzentuierte, mit endloser rhythmischer Erfindungskraft durchs Labyrinth der Akkorde zerrte. Dieser reflexhafte Musikdenksport besitzt so viel Humor wie Logik. Monks Sohn, der Schlagzeuger T. S. Monk, beschrieb dieses Insistierende in Monks Spiel am besten: "Er nimmt eine kleine Melodie und dreht sie herum. Jedes Mal, wenn er ihr einen neuen Sinn gibt, sagt man sich: Genau das ist es! Er macht sie rund, er macht sie eckig, er macht sie schraubenförmig, mit Gewindegang, er packt sie in eine ganz kleine Schachtel und breitet sie in den Weltraum hinaus."
So wie Monk improvisiert, komponiert er auch. Seine konsequentesten Stücke sind aus ein, zwei Phrasen gebaut, die er in produktiver Spannung zu einem 12- oder 32-taktigen Akkordgerüst fortspinnt. Nehmen wir "In Walked Bud", das Thema, das er seinem Protegé Bud Powell widmete und das auf den konventionellen Changes des Standards "Blue Skies" beruht. Die Ausgangsfigur ist ein boppiges Drei-Ton-Signal (f-c-f), das - in Spannung zur Akkordbewegung - chromatisch tiefer wandert und schließlich in eine bluesige Bogenphrase mündet. Der B-Teil des Stücks greift diese letzte Phrase auf und führt sie mit Konsequenz zurück zur Ausgangsfigur. Bei Monk ist die "Bridge" eines Themas nie ein lockeres Kontrastprogramm, sondern eine Art Qualitätskontrolle: Monk nannte sie gewöhnlich "the inside", den Kern. Wie man das obsessive Jonglieren mit einem Motiv in Einklang bringt mit einer sinnvollen Akkordfortschreitung: Das demonstrieren Monks Stücke immer wieder neu. Dabei wird die Hauptphrase allerdings ordentlich durcheinander geschüttelt und rhythmisch immer wieder anders formuliert - wie etwa im Blues "Straight No Chaser", wo das Grundmotiv f-b-c-cis-d so ziemlich an jeder Stelle im Takt mal auftaucht.
Die einen fühlten sich von Monks klirrender, verbohrter Musik auf den Arm genommen, die anderen witterten darin einen sanften Wahnsinn. Und Monks Verhalten bestärkte beide Meinungen. Auf der Bühne begann er zuweilen, unterm Klavier herumzusuchen, das Pedalbrett abzubauen oder den Kipp-Punkt des Klavierhockers zu erforschen, während er spielte. Während der Soli seiner Nebenleute liebte er es aufzuspringen und tapsig und kreiselnd über die Bühne zu tanzen, um dann mit einem unsicheren Schlenker zum Klavier zurückzukehren. Mancher kommentierte, Monk sei wohl eher ein Tanzbär als ein Pianist. Später hatte Monk öfter Probleme damit, überhaupt ein Konzert anzufangen: "Mad Monk" stand dann in der Kälte vorm Club und beobachtete das Gebäude gegenüber oder kam hoffnungslos verspätet ans Klavier, spielte einige Töne, sprang wieder auf, lief fort, kehrte Minuten später von der anderen Bühnenseite zurück. Mitunter schienen ihn Halluzinationen zu plagen, dann heulte sich der große Mann an der Schulter seiner kleinen Frau Nellie aus oder bat, die Ratten von der Bühne zu verscheuchen.
In der heißen Zeit des Bebop hatte der Pianist heftig Drogen und Alkohol konsumiert; in den 60er Jahren bekam er hohe Dosen an Beruhigungsmitteln und musste regelmäßige Klinikaufenthalte einlegen. Seine Mäzenin, die Baronin Nica von Koenigswarter, sprach von einem chemischen Ungleichgewicht in seinem Körper. Monk wirkte auf seine Umwelt manisch-depressiv, konnte stundenlang unermüdlich herumrennen (auch im Flugzeug), rätselhaft erregt und Selbstgespräche führend, um dann in ein dumpfes Brüten zu verfallen, in tiefe Erschöpfung oder plötzlichen Schlaf. Monk war manchmal 72 Stunden am Stück auf Hochtouren und schlief anschließend 48 Stunden durch. Auch ohne Musik liebte er es zu kreiseln: Auf der Straße, in Treppenhäusern, auf dem Flughafen, in Hotelhallen breitete er die Arme aus und drehte sich schwindlig. Sein beunruhigendes Verhalten besaß deutlich autistische Züge. Selbst Freunde und Familienangehörige erkannte er zuweilen nicht - und sprach sie dann unerwartet an, als hätte er sie gerade entdeckt. Saß Monk am Klavier, konnte er sich tagelang in ein einziges Stück vertiefen und war unansprechbar. Verließ er das Instrument, wirkte er verloren wie ein Kind, konnte sich weder eine Krawatte noch die Schnürsenkel binden und war völlig auf die Hilfe seiner Frau angewiesen. Auch eine seltsame Eitelkeit plagte ihn: Er hatte Dutzende von Kopfbedeckungen, Krawatten, Schuhen, Anzügen im Fluggepäck und blickte hundertmal in den Spiegel, bevor er auf die Bühne ging.
Als Gesprächspartner war Monk bei den Journalisten mehr gefürchtet als begehrt. Scheu, unzugänglich, seine Zigarette rauchend, mit ausdruckslosen Augen: So konnte er minutenlang stur schweigen oder antwortete in gekrächzten Silben, undeutlichen Rätselsätzen. "Die Stille ist der schrillste Ton." Kryptische Signale aus dem Nirwana, dann schloss sich Monks Kokon wieder. Keiner wurde so recht schlau aus ihm: Verstand er die Frage nicht, nahm er die Situation nicht wahr, spielte er Theater, machte er Witze, wollte er provozieren, wollte er die Welt an der Nase herumführen oder einfach seine Ruhe haben? Wurde er im Studio nach dem Namen eines Stücks gefragt, murmelte er zum Beispiel "Denk dir einen aus" oder "Nennen wir dieses..." oder gab nur einen Grunzlaut von sich. So entstanden Stücktitel wie "Think Of One", "Let's Call This" und "Humph".
Seine ersten eigenen Aufnahmen machte Monk erst 1947: Da hatten seine berühmten Kompositionen wie "Round Midnight", "Blue Monk" und "Ruby My Dear" schon einige Jahre auf dem Buckel. Die Kritiker empfanden Monks schrille, eckige Musik damals als lächerlichen Tingeltangel, die Verkaufszahlen der Platten waren verheerend. Während der fünfjährigen Vertragszeit mit Blue Note ließ man Monk daher nur etwa 30 Stücke aufnehmen, doch der Pianist verkündete selbstbewusst: "My time for fame will come." Beim Label Prestige erging es ihm nicht besser. Daher näherte sich Orrin Keepnews, der Riverside-Produzent, dem Fall Monk mit kommerziellem Kalkül: Er ließ den schwierigen Pianisten zunächst zwei Standards-Alben machen ("Thelonious Monk Plays Ellington" und "The Unique") und kombinierte ihn dann mit so unwahrscheinlichen Partnern wie Gerry Mulligan und Clark Terry. Die Strategie hatte Erfolg. Im Down-Beat-Poll stimmte 1955 erst ein Kritiker für Monk, in der Leserumfrage lag er auf Platz 28; Oscar Peterson erhielt 20-mal so viele Stimmen. Drei Jahre später wählten die Kritiker Monk auf Platz 1, die Leser immerhin unter die ersten drei. Monk hatte seine Filmauftritte in "The Sound Of Jazz" (1957) und "Jazz On A Summer's Day" (1958) und wurde Anfang der 60er Jahre plötzlich als das überragende Jazz-Genie gefeiert: Er erhielt einen Vertrag mit dem Branchenriesen Columbia, ging auf Welttourneen, kam auf die Titelseite des Magazins "Time", wurde in die "Hall of Fame" gewählt und erntete auch im Ausland höchste Auszeichnungen. Doch der Jubel hielt nicht lange: Nach wenigen Jahren hatten die Medien von Monks Unzugänglichkeit genug. Man beschimpfte seine Auftritte als esoterische Selbstzelebrierung und Affentheater und apostrophierte ihn als boshaften Menschen, chinesische Statue oder skandalösen Dorftrottel. Seine Musik sei müde und abgestumpft, schrieb die Presse. Anfang der 70er Jahre hörte Monk fast über Nacht mit dem Spielen auf. Der kranke Mann geriet in Vergessenheit, fiel vollends in Apathie und Aphasie und dämmerte vor sich hin bis zu seinem Tod 1982.
Doch Monks Einfluss wuchs unaufhaltsam wie eine Lawine. Miles Davis ließ sich von Monks Raum-Konzept inspirieren, John Coltrane von seiner Harmonik, Sonny Rollins von seiner an der Melodie orientierten Improvisations-Strategie. Die Avantgardisten des Free Jazz wie Don Cherry, Eric Dolphy, Ornette Coleman, Steve Lacy, Roswell Rudd oder Grachan Moncur entdeckten in den 60er Jahren Monks Radikalität. Aber der Meister musste sterben, bevor sich seine Musik vom Menschen Monk ablösen konnte, um die ganze Jazzwelt zu erobern. Sein Tod öffnete der Hommage alle Schleusen: Arthur Blythe, Chick Corea, Tommy Flanagan, das Kronos-Quartett, Steve Lacy, Don Pullen, Sphere, Bennie Wallace, der Produzent Hal Willner und andere waren alle schon in den ersten drei Jahren nach Monks Tod mit kompletten Tribut-Alben zur Stelle. Und bis heute ist kein Ende in Sicht: Kaum eine Jazz-CD erscheint mehr ohne ein Monk-Stück darauf, kein Piano-Virtuose kommt noch am Anti-Pianisten vorbei, Monk ist zur Sucht geworden. 20 Jahre nach seinem Tod ist der kranke, verrückte Tanzbär der meistgespielte aller Jazz-Komponisten.
© 2002, 2004 Hans-Jürgen Schaal
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