Ästhetik des Obszönen
Ein Nachruf auf die Band "Naked City"
(1995)
Von Hans-Jürgen Schaal
Der Mann heißt Zorn. Seine Inspirationen: Grausamkeit und Gewalt. Seine Wirkung: Provokation und Schock. Zu seinen geistigen Ahnen rechnet er den Marquis de Sade, der mit intellektueller Freude am Tabubruch die bürgerliche Moral bloßstellte. Oder Francisco de Goya, der die unmenschlichen Greuel des spanischen Bürgerkriegs zum Thema der Kunst erhob. Georges Bataille, der die Mysterien des Obszönen feierte. Edgar Allan Poe und Alfred Hitchcock, die die dunkle Seite der menschlichen Seele erforschten.
"Unsere Faszination durch Angst, Schrecken und das Böse wie auch durch den Tod selbst wohnt in unserem kollektiven Unbewußten", sagt John Zorn. "Nur durch ein gewaltsames Trauma oder die Erschütterung unserer Eingeweide durch künstlerische Visionen steigt diese Faszination an die Oberfläche und erinnert uns daran, daß sie in Wirklichkeit die ganze Zeit da war."
Künstlerische Visionen: Das ist wörtlich zu nehmen, denn die Welt des Musikers John Zorn ist eine Welt der Bilder. Bilder, die Abgründe aufreißen: Blut, Folter und Tod. Das erste Plattencover der Band Naked City zeigte das historische Foto eines Toten, auf der Straße erschossen, das blutverschmierte Gesicht auf dem kalten Stein, die Tatwaffe daneben. Es folgten Bilder von sadistischen sexuellen Praktiken und tödlichen Foltern, dann auch fotografische Dokumente aus der Geschichte der Anatomie: Leichenteile, ein Haufen Beinstümpfe, ein abgeschnittener Männerkopf auf einem Teller, die Augen offen, das Gehirn zur Hälfte freigelegt.
Manches Cover fiel da der Zensur zum Opfer, manches der Selbstzensur der Plattenfirmen. Auf Rückseiten und im Innenteil: grausame, perverse Zeichnungen, Heavy-Metal-Illustrationen japanischen Stils. Tiere, die aus Mund- und Augenhöhlen kriechen. Gewaltopfer unter rotgefärbten Kopfverbänden. Liebesszenen mit verwesenden Leichen. "Längst Gestautes löst sich, Verdrängtes wird anschaubar, der Endpunkt der Abreaktion, der sado-masochistische Exzeß wird erreicht. Der Rausch der Grausamkeit erlaubt das extrem Verbotene und endet im Töten" (Hermann Nitsch 1969).
Naked City ist eine musikalische Collage solcher Chocs: eine Art Filmmusik für die Visionen, die unsere Köpfe heimsuchen, zusammengesetzt aus musikalischen Signalen, wie sie Filmemacher lieben. Zorn, der Cineast: Nicht umsonst registriert er seine Stücke unter dem Verlagsnamen "Theatre of Musical Optics" - visuelles Musiktheater. Zorn verarbeitete Ideen von Filmkomponisten wie Henry Mancini, Bernard Herrmann, Ennio Morricone, Nino Rota, John Barry, Jerry Goldsmith und Carl Stalling. Er widmete seine Kompositionen Filmemachern und Schauspielern wie Jean-Luc Godard, Ishihara Yujiro, Harry und Jack Smith. Er machte Filmmusik für Sheila McLaughlin, Rob Schwebber, Raul Ruiz und für fiktive Streifen wie die sado-masochistischen "Jeux des dames cruelles" und die Gangsterfilm-Hommage "Spillane". The Naked City - wen wundert's - ist der Titel eines "film noir", der von einem mysteriösen Frauenmörder handelt. Jules Dassin drehte ihn 1948.
Action-Movies in musikalischer Verdichtung, gewalttätig und geschwindigkeitsbesessen. Das typische Naked-City-Stück bietet ein stürmisches Wechselbad von Stilzitaten und -gesten, Tempi und Rhythmen, komprimiert auf eine oder zwei Minuten Länge, manchmal auf wenige Sekunden. "Meine Musik ist ideal für ungeduldige Menschen", sagt Zorn, "denn sie ist vollgepackt mit Informationen, die sehr rasch wechseln." Wie ein verwirrender alter Horrorkrimistreifen saust sie vorbei, mit Liebesszenen und Gewalttaten, Schreien in der Nacht und hilflosen Opfern, Skrupellosigkeit und Wahnsinn, Obsessionen und Phobien, Verfolgungsfahrten und dunklen Verliesen. Da werden die Figuren in trügerische Sicherheit gewiegt, in verstörende Situationen gestürzt, gedemütigt, am Boden vernichtet und wieder hochgezerrt. Tempo, Geschwindigkeit, Speed: Miniatur-Dramen ohne Worte. Diese Musik spielt kalt und berechnend mit der menschlichen Seele und ihren musikalischen Entsprechungen.
Zorn, der Miniaturist, komponiert nicht Abläufe, sondern musikalische Momente. Aus vielen solcher Augenblicke fügt er seinen Kurzfilm zusammen, dessen Angelpunkte Tempowechsel und überraschende Wendungen sind. Da begegnen uns die Stilmittel großer Filmmusikkunst, schwebende Orgelklänge, repetitive Pianosequenzen, dahinhuschendes Schlagzeug, Momente abgründiger Spannung, Klischees mit emotionalem Effekt. Die Zutaten kommen aus allen Bereichen musikalischer Stilistik: Bluegrass und Hawaii-Gitarre, Rock und Blues, Jazz und Heavy Metal, Japanisches und Jüdisches, selbst Klassisches, und dazwischen erlesene oder brachiale Kakophonie.
"In mir ist viel Jazz, aber auch eine Menge Rock", sagt Zorn. "Eine Menge klassischer Musik, ethnischer Musik, Blues und Filmmusik. Ich bin eine Mischung von alledem." Mit Naked City gelang es ihm, jeden beliebigen Stil in zwei Takten lebendig zu machen, um ihn durch das nächste Stilzitat oder ein markerschütterndes Gekreische umgehend zu dementieren. In "Spillane" (1986) und Bill Frisells "Hard Plains Drifter" (1988) kann man die Ursprünge von Naked City hören: die Zornsche Meta-Syntax, Postmoderne in Reinkultur. Dieses bis ins Absurde überzeichnete Simulationsspiel mit amerikanischer Realität hat seine Entsprechung im massenmedialen Angebot, dem Nebeneinander der verschiedenen Sender und Musikrichtungen. Die Naked-City-CD "Radio" machte das Zappen zwischen den Frequenzen zum Programm.
Ist John Zorn ein Jazzmusiker? "Als Altsaxophonist interessiere ich mich natürlich für Charlie Parker, Lee Konitz und Ornette Coleman, aber Jazz ist nicht die musikalische Tradition, in der ich einen wichtigen Beitrag leisten könnte, obwohl das Feeling des Jazz für meine Musik wesentlich ist." Bekanntgeworden ist Zorn in der Noise-Music- und No-Wave-Bewegung der späten 70er Jahre, aus der er bald improvisatorische Konzepte nach dem Vorbild der Computerspiele entwickelte: auch damals schon ein Musik-Dramaturg. Jazz-Begabung im herkömmlichen Sinn demonstrierte er erst später: als Saxophonist eines Sonny-Clark-Memorials, in den Blue-Note-inspirierten Trios mit Bill Frisell und George Lewis, als Partner des Hardbop-Organisten Big John Patton oder im aktuellen Quartett Masada, das Ornette Colemans Free Jazz mit jüdischer Folklore verknüpft.
Ist Zorn ein Tyrann? Was seine Musik angeht: ja. Er ist der selbstherrliche Regisseur seiner filmartigen Musikkurzdramen, die anderen agieren nach seiner Pfeife wie die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Aber diese anderen sind nicht irgendwer, sondern große Musik-Darsteller, die man aus zahlreichen Rollen kennt. Unter ihren Händen wurde der Sound von Naked City unverwechselbar.
Da ist Wayne Horvitz an Klavier, Orgel, Synthesizer: Zorns Wegbegleiter seit Noise-Music-Zeiten, ein beachtlicher Jazzpianist, ein ironischer Klangkulissen-Schieber, ein fröhlicher Avantgardist, fleißig im Ausverkauf musikalischer Sonderangebote, und zusammen mit seiner Frau Robin Holcomb Leiter des wegweisenden New York Composers Orchestra. Da ist Bill Frisell, der stille Revolutionär der Gitarre, bestens zu Hause in Country, Blues und Jazz, ein kompetenter Partner für Jan Garbarek wie für John Scofield, ein behendes Chamäleon in allen Verzweigungen der Soundpalette. Da ist Fred Frith, bei Naked City ausschließlich am E-Baß zu hören: hervorgegangen aus der britischen Experimental-Szene, ein selbsternannter Alleskönner, der mit seinem Dilettantismus kokettiert, in Europa eine Kultfigur seit "Step Across The Border", dem Film, der zu seiner Musik "komponiert" wurde. Da ist Joey Baron am Schlagzeug: der vielseitigste Drummer, der je an der Schießbude saß, spielt sanft den Jazzbesen und schlägt die lautesten Speed-Breaks. Da ist zudem (zumindest zeitweise) Yamatsuka Eye, der japanische Vokalist, ein mit Schauern gehörter Gast bei vielen Dada-Thrash- und Avant-Punk-Bands: Seine Spezialität ist das Kreischen, der Entsetzens- und Todes- und Kampf- und Schmerzensschrei, der das Blut gefrieren läßt und die Nerven zerrüttet - Inkarnation menschlicher Unmenschlichkeit.
Als Hardcore-Band verknüpfte Naked City die kompromißlosen Formen eines freien Jazz mit den Lärm-Varianten eines punkigen und metalligen Thrash. Diesen Brückenschlag zelebrierte Zorn schon 1988, als er mit "Spy Vs. Spy" Jazz-Ikone Ornette Coleman ver-thrashte. Seine Zuneigung zu diversen Spielarten der Heavy-Metal-Richtung (sprich: Death Metal, Thrash Metal, Speed Metal) hat ihm die prüde Jazz-Gemeinde am wenigsten verziehen.
Dabei fing alles ganz harmlos an - mit ein paar beiläufigen Lobesworten für Bands wie Metallica und Hüsker Dü. Dann kam eine sporadische Zusammenarbeit mit Hardcore-Formationen wie Blind Idiot God und Friction, es folgten eigene Trios dieser Art, Slan und Painkiller, die Zusammenarbeit mit Faith-No-More-Sänger Mike Patton. Bei Naked City wurden Thrash-Breaks und Speed-Riffs zu integralen Bauteilen der Musikregie. Hardcore-Bands wie The Accüsed, Septic Death, Hellfire, Extreme Noise Terror, Agnostic Front, Corrosion of Conformity, Massacre oder Napalm Death standen als Ideen-Lieferanten gleichberechtigt neben Jazzern wie Charles Mingus und Ornette Coleman, Klassikern wie Stravinsky und Webern, Filmkomponisten und harmlosem Pop.
Zorns Affinität zu den verrufenen Scheußlichkeiten des Death Metal geht übers Musikalische hinaus - in jene Ideologie hinein, mit der sich solche Musik gern schmückt. Nicht umsonst zieren Bluttat und Folter Zorns CD-Covers. Die Naked-City-Stücke nennt er: Razorwire. The Vault. Poisonhead. Shock Corridor. Blood Duster. Demon Sanctuary. Fuck The Facts. Graveyard Shift. Blood Is Thin. Numbskull. Hellraser. Torture Garden. The Ways Of Pain. Sack Of Shit. Victims Of Torture. Pigfucker. Stücktitel wie diese könnten jeder Metal-Band zur Ehre gereichen - Rituale der Grausamkeit.
Antonin Artaud forderte ein Theater, "in dem körperliche, gewaltsame Bilder die Sensibilität des Zuschauers (...) zermalmen und hypnotisieren". Wenn Zorn mit Yamatsuka Eye um die Wette kreischt, die Baßtrommel und der E-Baß Maschinengewehrsalven mit Erdstößen kombinieren, lacht der Wahnsinn aus dieser Musik. Der verzweifelte Wunsch des Folteropfers, seinen Körper zu verlassen. Und der Rausch des Tötens. Auf der CD "Absinthe" erleben wir einen nicht endenwollenden Alptraum: eine fremde Klanglandschaft, die nur im Zeitlupentempo mutiert, das radikale Gegenteil von Speed, als sensuelle Erfahrung ebenso extrem.
Blitzlichter in den Kosmos des Bösen. Im zentralen Stück von "Radio" wird Stravinsky zitiert - natürlich das Kopfthema aus "Le Sacre du Printemps", dem Ballett mit dem barbarischen Ritualmord an einer Jungfrau. Die CD "Grand Guignol" heißt nach dem legendären Theater des Schreckens, das von 1897 bis 1962 dem Pariser Publikum das Grauen beibrachte. "Absinthe" ist den französischen Symbolisten gewidmet - unter besonderer Erwähnung von Baudelaires Gedichtsammlung "Les Fleurs du Mal", die den Tabubruch - Perversion, Verwesung, Folter, Satanskult - zum lyrischen Sujet erhob. Die CD "Leng Tch'e" versucht eine halbstündige Umsetzung der gleichnamigen chinesischen Todesfolter in einen Klangtrip.
Und neben China immer wieder: Japan. Dort verbringt Zorn die meiste Zeit des Jahres, dort produziert er seine Musik, läßt seine exklusiv grausigen Covers gestalten, speist seine ästhetische Phantasie aus Filmen und Musik. Grausamkeit hat einen besonderen Stellenwert in Japan. Die Folter avancierte dort im Mittelalter zur hohen Kunst, das Ertragen von Schmerz ist Ehrensache, die Seele der Samurais und Kamikazes ein dunkler Abgrund. In Japan blüht die Hardcore-Szene.
Das Verstörendste, Verzweifeltste an Zorns Obsession ist das, was sie verschweigt: Auschwitz. Erst mit seinem Projekt "Kristallnacht" lüftete er ein wenig den Schleier: Da konfrontierte er im CD-Booklet das ästhetische Nazi-Ideal (eine Frauenskulptur) mit der barbarischen Nazi-Realität (einem KZ-Opfer). Dieses Foto eines zu Tode gemarterten Menschen im Hinterkopf, die Naked-City-Covers vor Augen, gerät man ins Stocken: Ist der Holocaust etwa Zorns ewiges, heimliches Thema? Das Leiden der Kreatur und die Lust der Täter? Jene "Faszination durch Angst, Schrecken und das Böse wie auch den Tod selbst"? Liefert Naked City dem Zuhörer nicht "der Wahrheit entsprechende Traumniederschläge" (Artaud), "in denen sich sein Hang zum Verbrechen, seine erotischen Besessenheiten, seine Wildheit, seine Chimären, sein utopischer Sinn für das Leben und die Dinge, ja sogar sein Kannibalismus auf einer nicht bloß angenommenen und trügerischen, sondern inneren Ebene Luft machen"? Ist Naked City Tabubruch und Psychoanalyse, Choc und Katharsis in einem?
Mit seinem jüngsten Projekt "Masada" scheint Zorn sein wahres Thema einzukreisen: Masada ist sein Symbol für die Vertreibung, Ghettoisierung und Vernichtung der Juden. Ohne Naked City hätte er es wohl nicht gefunden.
Diskographie: Naked City
- Naked City (Elektra Nonesuch)
- Heretic (Jeux Des Dames Cruelles) (Avant 001)
- Grand Guignol (Avant 002)
- Radio (Avant 003)
- Absinthe (Avant 004)
- Leng Tch'e (Toy's Factory)
- Torture Garden (Sampler aus 1. und 3.) (Earache)
© 1995, 2002 Hans-Jürgen Schaal
© 1995 Hans-Jürgen Schaal |