Das Altern des Rock und seiner Musiker
Eine Polemik
(1996)
Von Hans-Jürgen Schaal
Wunschkonzert im Seniorenheim. Eine Schülerband beendet "A Hard Day's Night" von den Beatles. Die Alten grölen, trommeln mit den Füßen und lassen ihre Kuchenteller klirren. In spontanen Sprechchören wird die Aufhebung des Rauchverbots gefordert, weißhaarige Damen schwenken ihre brennenden Feuerzeuge. Ein gebrechlicher Herr mit Glatze und schwarzem "Paint It Black"-T-Shirt steigt mühsam auf einen Stuhl und winkt mit der Krücke. Zwei lederbejackte Senioren im Rollstuhl stoßen laut mit Bierflaschen an. Von hinten ruft eine brüchige Frauenstimme: "Kinners, nu spielt doch endlich 'Sunshine Of Your Love'!"
Ein Alptraum? Nein, nur ein kleiner Sprung in die Zukunft, Titel: Altenheim 2010. Die Generation der Beatlemania ist endlich aus dem Verkehr gezogen und bezieht - wenn sie Glück hat - sogar Rente. Sie, die Ende der 60er Jahre mit Ho-Chi-Minh-Rufen durch die Straßen zogen und unterm Che-Guevara-Plakat ihren Joint kreisen ließen, sehen in Kürze der Vergreisung entgegen, zappeln und sabbern dann wie Joe Cocker und halten Jimi Hendrix noch immer für Gott. Die Rockkultur ist doch gewaltig in die Jahre gekommen.
Als unsere Omas noch die Schlager der 30er Jahre summten, "Nur ein Gigolo" oder "Ein kleiner grüner Kaktus", haben wir milde gelächelt. Wir wußten warum: Omas Nostalgie war ja bloß harmlos und niedlich, gemessen an der monströsen, zombiehaften Endlosigkeit der Rock-Ära. Eine Musik, in der einmal technischer Fortschritt, soziale Reformbewegung und jugendliches Aufbegehren kurzzeitig eins wurden, fordert heute mit seniler Sturheit das Recht auf ewiges Leben. Dabei ist die Technik von damals längst in jeder Garage verfügbar, die sozialen Reformen sind Schnee von gestern, und die wilden Dauerrocker auf der Bühne entpuppen sich als käsegesichtige, langweilige Opas. Jim Morrison, der LSD-Poet der Doors, starb mit 27 in einer Pariser Badewanne. Ray Manzarek, sein Keyboarder, spielt mit über 60 noch immer "Light My Fire" - inzwischen in den klassizistischen Prunksälen kalifornischer First-Class-Hotels.
Als die großen Bands eine nach der anderen abtraten, fanden wir das seinerzeit zwar bedauerlich, aber konsequent. 1968 gingen die Cream, 1970 die Beatles, 1971 Colosseum. Die Zeiten ändern sich ja, die Moden auch. Doch dann opferte der Rock drei seiner Kultheroen - Hendrix, Joplin, Morrison - und erkaufte sich beim Schicksal noch etwas Aufschub. Die Bands begannen zögerlicher zu sterben, formierten sich neu, machten Pause, kamen wieder. Manche gingen nie. Ab und an noch ein Schamanenopfer - John Lennon, Freddie Mercury -, und die Unsterblichkeit des Rock schien garantiert. Heute sind sie alle, alle wieder da: die Stones, Deep Purple, Emerson Lake & Palmer, Pink Floyd, Genesis, Yes, Jethro Tull, Santana, Uriah Heep, Black Sabbath, Manfred Mann, selbst King Crimson und die Led Zeppelin-Macher. Durchschnittsalter: satte 50.
Jon Lord, mit 55 der graubärtige Senior bei Deep Purple, sagte kürzlich in einem Interview: "Ich frage mich, warum eine ganze Musiksparte ausschließlich als Eigentum der Jugend angesehen wird." Gegenfrage: Was, wenn nicht die Jugend ihrer Akteure und Fans, war denn die Daseinsberechtigung dieser Musiksparte namens Rock? War Jugend nicht der Grund, daß ungefilterte Emotionen, Rhythmus und Lautstärke wichtiger schienen als raffinierte Harmoniewechsel und gute Instrumentaltechnik? Die Fans von damals haben längst ihren Frieden mit der Gesellschaft geschlossen, die Musiker sind durch sie Millionäre geworden. Was soll also das pubertäre Rumgehopse noch - in deinem Alter, Jon?
"Ein klassischer Musiker bekommt keine Probleme, wenn er älter wird, für einen Jazzmusiker ist es geradezu ein Qualitätsmerkmal", sagt Jon Lord. "Ich bin ein wesentlich besserer Musiker als mit zwanzig." Soll er doch Klavierkonzerte spielen, bitte schön! Aber seit wann wären künstlerische Qualität und Erfahrung ein Kriterium der Rockmusik? Glaubt irgendjemand im Ernst, daß alte Musiker den besseren, härteren, intelligenteren Rock spielen? In die Jahre gekommene Beethoven-Pianisten, gut, die strahlen Weisheit aus, sind ins Geheimnis eingeweiht und mit dem Jenseits vertraut. Alte Jazzmusiker haben sich in ihre Musik verausgabt, stehen auch noch todkrank mit dem Saxophon auf der Bühne, weil der Jazz sie nicht losläßt. Aber Rockmusiker? Die gehen auf Welttournee, weil ihnen das süße Nichtstun hin und wieder zu langweilig wird. Seht sie euch doch an: Diese aufgeschwemmten Gesichter erzählen von nichts anderem als von Alkoholexzessen und Fettlebe. Ihre Stimmen meistern gerade mal noch eine Quart, in ihren Texten haben sie längst nichts mehr zu sagen, und an einer Melodie zu basteln käme ihnen kindisch vor. Es genügt eigentlich schon, daß sie ihren Namen liefern. Wahrscheinlich kommt das ohnehin alles vom Band, gespielt von ein paar 20jährigen Nobodys.
Keine Frage: Schuld sind wieder mal die Fans. Die wollen ihren Idolen treu bleiben bis in den Tod. Die stört es nicht, daß die Gestalten auf der Bühne fett, faltig, langweilig und weißhaarig sind und sich gleichzeitig aufführen wie besoffene Teenies. Hinter solcher Toleranz steckt ein besonders raffinierter psychologischer Mechanismus: Nichts war ja aufregender als die Träume der Jugend, und anstatt ihnen nachzutrauern, erhält man sich die Selbstachtung als infantiler Oldie. Bierbauch hin oder her: Im Innersten ist man noch immer derselbe wilde Rocker wie einst! Und all die Mittvierziger mit Toyota, Familie und Eigenheim pilgern wieder zum Open Air von Tina Turner und Mick Jagger, den gelifteten Sex-Symbolen aus dem Time Tunnel! Man stelle sich vor: Die gute, alte Tina mit ihrer Aerobic-Show, seit 1961 in den Charts, mehrfache Großmutter, gilt den biederen Büroangestellten mit Halbglatze (die ihre Schwiegersöhne sein könnten) noch immer als Inbegriff von Sex und Verführung! (Grusel!)
Wer sich selbst etwas mehr Niveau schuldet, gibt dagegen die "Melodien des Rock" gern als die "wahre Klassik des 20. Jahrhunderts" aus. Davon profitierte die Klassik-Rock-Masche der 80er Jahre, als das London Symphony Orchestra "Stairway To Heaven", "Hey Joe" oder "Nights In White Satin" spielte - so primitiv instrumentiert, daß die professionellen Orchestermusiker Ausschlag bekamen und im Gesicht blau anliefen. Immerhin habe ich erlebt, wie ein älterer Herr aus der Prä-Rockära eine Orchesterversion von "Paint It Black" für ein Stück von Rimsky-Korsakow hielt.
Weil Gitarrenriffs auf der Oboe aber doch etwas dünn klingen und die hohen Streicher nie der Phrasierung eines Robert Plant nahekommen, hat man dann einfach Orchester, Sänger und Rockband vermischt. Diese unappetitlichen Klangkörper tragen so geniale Phantasienamen wie Classic Metropolitan Orchestra, London Synphonic (sic!), London Rock oder gar Austria Pop Symphony Orchestra. Streicher und Chöre vermengen sich sirupartig mit einem trägen, toten Rock-Bums. Welch ein Glück, daß Jimi Hendrix das nicht mehr erleben mußte!
Die neueste Frischzellenkur für den altersschwachen Rock heißt: "Various Artists - A Tribute to...". Vorbild dieses Konzepts war ein Album des Produzenten Hal Willner, der Anfang der 80er Jahre Musiker unterschiedlichster Jazz- und Avantgarde-Couleur einlud, die Kompositionen des Pianisten Thelonious Monk neu zu interpretieren. Die Ergebnisse reichten vom Stride-Piano bis zur Noise-Collage und waren schlicht sensationell. Allerdings gehört bei Jazzmusikern das Covern zur täglichen Pflichtübung und heißt deshalb auch nicht so: Die immer wieder originelle Improvisation über einen Song ist geradezu die Essenz des Jazz. Wer von Jazz-Kollegen akzeptiert werden will, muß daher die 500 Standards des Real Book auswendig spielen können - so wie ein klassischer Pianist die Mondscheinsonate oder Chopins Trauermarsch.
Da es bei Rockmusikern nichts Entsprechendes gibt, endet das Nachspielen meist im bloßen Nachäffen jener Intonationen und Soli, die sowieso jeder schon kennt. Wirklich erstaunlich, wie geklont alle Bands klingen, sobald man sie bittet, Led Zeppelin, Genesis, Deep Purple, Jimi Hendrix, Yes, Peter Green oder Black Sabbath zu covern. Daß es anders geht, beweisen jene "Tributes", die aus schon vorhandenen Cover-Versionen zusammengestellt wurden: Da hört man, warum ein Musiker einen Song noch einmal hernimmt und wie er ihm seinen Stempel aufdrückt. Wenn Aretha Franklin "Bridge Over Troubled Water" singt. Oder Rickie Lee Jones "Up From The Skies". Oder wenn die Spooky Tooth zu "I Am The Walrus" greifen.
Dennoch: Die "Tributes"-Masche hat Methode. Vor zehn Jahren, als es der Branche schlecht ging, hat man den Überlebenden der Sixties den CD-Spieler aufs Auge gedrückt, und sie mußten sich ihre Lieblingsscheiben nochmals kaufen - als silberne Miniaturen. Jetzt geht's der Branche wieder schlecht. Aber wenn all die Retortenbands von heute die alten Nummern wiederkäuen, kann man den Ur-Rockern endlich ein paar neue Tonträger schmackhaft machen - und den Jung-Fans die Originale. Vom Feuerwasser des Rock hat sich die Plattenindustrie einen nie versiegenden Aufguß bereitet. Und der schmeckt bald nur noch nach Farbstoff.
Lieber möchte man der Rockmusik ein baldiges Ende wünschen, ein Ende mit Schrecken und Anstand. Vieles würde ihr dadurch erspart. Das Genesis-Medley beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Die größten Songs von Jethro Tull, interpretiert von der Kelly Family. John Lee Hooker mit Vangelis. Das ZDF-Fernsehballett tanzt Joe Cocker. Die Reunion von Deep Purple und Ritchie Blackmore im Jahr 2004. Sting & Madonna: A Tribute to Ike and Tina Turner. Andrew Lloyd Webbers Synthesizer-Musical "Pink & Floyd". Die komplette Zappa-Edition auf 100 CDs. Mike Oldfields Tubular Bells III. Die Wiedergeburt des Beat Club, moderiert von Peter Maffay. Phil Collins singt für die Deutsche Grammophon. Die Gen-Forscher klonen Mick Jagger...
Jim Morrison wäre heute 53. Er hätte eingefallene, faltige Wangen, blutunterlaufene Augen, graues, schütteres Haar und eine Menge reaktionärer Ansichten. Jeden Abend steht er in Las Vegas auf einer Transvestiten-Bühne, am Ende schreit er "Get out!", dann zieht er sich mit mehreren Flaschen Gin in den Puff zurück und schreibt im Vollrausch Gedichte an Bukowski und Timothy Leary. Rockmusik? In diesem Alter? Jim Morrison doch nicht! Nie. Niemals.
© 1996, 2002 Hans-Jürgen Schaal
© 1996 Hans-Jürgen Schaal |