NEWS





Zurück

Sein Horn gehört zu den markantesten Stimmen des Jazz. Chet Baker, der am 23. Dezember 1999 70 Jahre alt geworden wäre, spielte die Trompete so lyrisch und logisch wie keiner sonst. In seinem Leben ging es jedoch selten lyrisch zu. Ein Porträt der tragischen Figur Chet Baker.

Der Melancholiker

Chet Baker
Die sanfteste Trompete der Welt
(2000)

Von Hans-Jürgen Schaal

Wie James Dean mochte er schnelle Autos und schnelle Wettfahrten auf dem Highway. Passenderweise erklang Bakers Trompetenspiel 1956 sogar auf dem Soundtrack zur "James Dean Story". Und wer weiß: Hätte den vielversprechenden Jungstar Chet Baker damals ein ähnliches Schicksal ereilt wie den Schauspieler James Dean, Amerika hätte ihn womöglich für immer ins Herz geschlossen: als tragisches Genie, als Idol ewiger Jugend, als vergötterten Märtyrer des amerikanischen Traums von Freiheit. Doch es kam ganz, ganz anders.

Viel Talent für die Trompete schien er eigentlich nicht zu haben: Als 20-Jähriger besaß Chet Baker weder einen sicheren Ton noch eine saubere Technik. Sein Können genügte wohl für die Army-Bands, in denen er damals spielte, aber schwerlich für eine Laufbahn als Freelance-Musiker in der Jazz-Szene. Und doch muss schon irgendetwas Besonderes an ihm gewesen sein, denn der große Charlie Parker wählte - unter allen Trompetern von Los Angeles - ausgerechnet diesen unbekannten Jüngling zum Partner für sein Engagement im Tiffany Club. Das war im Mai 1952.

Baker konnte damals noch kaum ein fehlerloses Solo blasen, aber er besaß, was Newcomern gewöhnlich fehlt: Relaxtheit. Der Autodidakt spielte einfach nach Gefühl und Gehör - und dabei ist es für alle Zeit auch geblieben. Einen Monat später lernte Baker den Arrangeur und Baritonsaxophonisten Gerry Mulligan kennen, der immerhin schon mit Miles Davis gearbeitet hatte. Mulligan sollte im L.A.-Club "The Haig" die Hausband leiten und lud Baker ein mitzumachen. Weil das Klavier gerade von der Bühne geräumt worden war, versuchten es die beiden ohne Pianisten: nur zwei kühle Bläser, Bass und Schlagzeug. Der West Coast Jazz war geboren.

Der Aufstieg kam unerwartet und kometenhaft. Die kühle Noblesse und die improvisierte Kontrapunktik des Mulligan-Baker-Quartetts rissen nicht nur die Kritiker hin. Bald parkten auch Hollywood-Stars ihre großen Limousinen vor dem kleinen Haig-Club, und die Aufnahmen des Quartetts für Richard Bocks junges Label Pacific machten landesweit Furore. Der sanfte Trompeter mit der mangelhaften Technik fand sich plötzlich an die Spitze der Leser-Polls katapultiert.

Als Mulligan 1953 eine Gehaltserhöhung verweigerte, wurde Baker sein eigener Chef und war bald erfolgreicher als Miles Davis. Damit nicht genug: Er versuchte sich auch als Sänger. Die Jazz-Kritik blieb skeptisch, aber bei vielen Hörern rief Bakers romantische, jungenhafte Stimme eine angenehme Gänsehaut hervor. Wenn er "My Funny Valentine" oder "Just Friends" sang, fühlten sich Teenager erotisiert.

Dazu kam, dass Baker blendend aussah. Die Mischung aus Zart und Hart, aus Schuljunge und Draufgänger, aus Stupsnase und kräftigem Unterkiefer kam nicht nur bei Frauen gut an. Der Fotograf William Claxton sagt: "Baker wirkte auf mich wie ein äußerst attraktiver Preisboxer. Die kleine Nase, der engelhafte Blick, ein fehlender Zahn, die athletische Figur - gleichzeitig hübsch und brutal." Für eine seiner Verehrerinnen war der junge Baker schlicht ein "griechischer Gott". Bald schon wurde er zum Werbeträger, spielte kleine Filmrollen und schien auf dem Sprung zur Hollywood-Karriere. Doch wer hoch steigt, kann tief fallen.

Für Baker, den verwöhnten, naiven Jungen, kam der Erfolg zu plötzlich. Er genoss das Leben bedenkenlos und in vollen Zügen: Mädchen, Autos, Partys - und Drogen. Am 23. Dezember 1952, seinem 23. Geburtstag, erhält er seinen ersten Eintrag ins Strafregister. Festnahmen wegen Besitzes von Narkotika oder wegen Alkohol am Steuer werden rasch zur Regel. Eine bis zu seinem Tod dauernde Heroinsucht nimmt ihren Anfang. Während der Europatournee 1955 stirbt Bakers Pianist Dick Twardzik (24) in einem Pariser Hotelzimmer an einer Überdosis. 1956 sitzt Baker seine erste Haftstrafe ab, 1959 muss er sogar für ganze vier Monate hinter Gitter und verliert seine Musikerlizenz für New York. Eine Traum-Karriere war in kürzester Zeit ausgeträumt. Daraufhin verließ Baker mit seiner zweiten Ehefrau Halema und Sohn Chesney die USA.

In Italien wurde Chet Baker mit Respekt und Zuneigung empfangen, aber sein Drogenproblem machte auch hier schnell alles zunichte. Zunächst zwangen ihn die Behörden zu einem Klinikaufenthalt, danach wurde er - wegen Drogenbesitzes, Schmuggel von Betäubungsmitteln und Diebstahl bzw. Fälschung von Rezepten - sogar zu sieben Jahren Haft verurteilt. Zwar kam er nach 16 Monaten wegen guter Führung wieder frei, nahm mit Ennio Morricones Orchester auf und sang sogar auf italienisch. Für die Journalisten jedoch gab es fortan nur noch ein Thema: die Drogen. Was Chet Baker als Künstler leistete, zählte nicht mehr - weil er ein Junkie war. Seine Musik galt mit einem Mal als form- und ziellos, sein Gesang als flach und weibisch, er selbst als verderbt und heruntergekommen.

In dieser Zeit lernte Chet seine spätere dritte Ehefrau kennen, Carol, die in Rom als Ansagerin bei der Shirley-Bassey-Show arbeitete. Zusammen verließen sie Italien, doch die Konflikte mit dem Gesetz fanden kein Ende. 1962 wurde Chet für drei Wochen in die psychiatrische Klinik in Haar bei München gesteckt und erhielt Auftrittsverbot in Deutschland. Italien und die Schweiz verweigerten ihm die Einreise, in England wurde er festgenommen und nach Frankreich ausgewiesen. Auch in Berlin wurde er verhaftet und musste daraufhin noch einen weiteren Klinikaufenthalt absolvieren. Der Mann mit der sanften Trompeter, der niemandem etwas zu Leide tat außer sich selbst, wurde in der Öffentlichkeit Schritt für Schritt kriminalisiert.

Jazzkritiker in den USA hielten ihn da längst für tot. Desto glänzender hätte Chet Bakers US-Comeback ausfallen müssen, als er 1965 - nun am Flügelhorn - unter den (unzuverlässigen) Fittichen von Produzent Richard Carpenter hervorragendes Material für fünf Platten aufnahm. Doch sein schlechter Ruf verhinderte Gerechtigkeit: Die Kritiker lehnten Chet Baker ab. Weil er eine Ehefrau und drei Kinder zu versorgen hatte, begann er daraufhin, bei kommerziellen Produktionen mitzuwirken, die er selbst als "grauenhaft" empfand. Das Geld legte er jedoch vorwiegend in Drogen an, und der Strudel zog ihn immer tiefer: 1966 verbüßte er wiederum eine mehrmonatige Haftstrafe, 1968 verlor er bei einer Auseinandersetzung im Dealer-Milieu fast das gesamte Gebiss. Nun war vorerst an Trompetespielen überhaupt nicht mehr zu denken.

Baker zog mit seiner Familie zu seiner Mutter, lebte dort jahrelang von der Wohlfahrt und unterzog sich einer Methadon-Kur gegen seine Drogensucht. Erst 1974 versuchte er wieder ein Comeback in New York, nun mit künstlichem Gebiss. Doch wieder hatte er kein Glück: Zweimal mussten die Bakers umziehen, weil Nachbarn die "Junkie-Familie" nicht neben sich dulden wollten. Auch die Kritiker pflegten ihre Vorurteile: Nur Bakers frühe Aufnahmen zählten, und auch sie galten inzwischen vielfach als "Blendwerk". Der Trompeter hatte in den 60er und 70er Jahren mit den gleichen Anfeindungen zu kämpfen wie etwa auch Stan Getz: Die "weiße" Cool-Jazz-Ära galt nichts mehr, und wer damals Erfolg gehabt hatte, konnte nur ein Ausbeuter, Betrüger oder schlechter Nachahmer der schwarzen Bebopper sein.

Mitte der 70er Jahre verließ Baker seine Familie, ließ sich jedoch nie von Carol scheiden und hielt auch sporadischen Kontakt. Seine folgenden Beziehungen zu Ruth Young und Diane Vavra verstand er selbst wohl eher als dauerhafte Seitensprünge. Wieder zog es ihn nach Europa. Mit dem Aufwind einiger halbwegs erfolgreicher Platten für CTI und A&M im Rücken ging er im November 1978 endgültig über den großen Teich.

Damit begann Chet Bakers zweite Karriere als Jazz-Trompeter, die sich von der ersten so vollkommen unterschied. Schon rein äußerlich war da kaum mehr eine Ähnlichkeit mit dem smarten, romantischen Sunnyboy der 50er Jahre zu erkennen. Das Gesicht des 50-Jährigen war von Heroinkonsum und Appetitlosigkeit entstellt und vom Verlust der Zähne gezeichnet. Die Wangen waren eingefallen, von tiefen Furchen durchzogen. Es war das Gesicht eines Stadtstreichers, eines Heimatlosen auf der Suche nach seinem letzten Glück.

Trotz seines Rufs, ein verlebter Veteran, unzuverlässiger Junkie und mittelmäßiger Musiker zu sein, gab es für Baker in Europa genug Arbeit. Allein in den ersten beiden Jahren hier (1979/80) nahm er mehr als 20 Platten auf. Wann immer er schnelles Geld brauchte (meist für Drogen), war er für ein kurzfristiges Studio-Date zu haben. Viele dieser späten Aufnahmen enthalten jedoch großartige, ergreifende, intensive Musik - zweifellos die beste Musik, die Chet Baker je machte. Er selbst wusste das ganz genau: "Ich spiele heute zehnmal so gut wie früher", sagte er ein ums andere Mal. In Europa entstanden auch bleibende Aufnahmen mit amerikanischen Kollegen wie Duke Jordan, Paul Bley und Warne Marsh.

In diesen letzten Jahren war Baker meist ein Heimatloser, der von Land zu Land zog - damals gab es noch Grenzen in Mitteleuropa -, von Konzert zu Konzert. Ein alt und gebrechlich wirkender Mann, vornübergebeugt auf einem Stuhl, den Trompetentrichter beinahe übers Mikrofon gestülpt: So sah man Chet Baker am öftesten. In allen europäischen Ländern hatte er seine Vertrauten, seine bevorzugten Partner: etwa die Pianisten Michel Graillier und Enrico Pieranunzi, den Gitarristen Philip Catherine, den Vibraphonisten Wolfgang Lackerschmid.

Baker kam oft zu spät zum Konzert. Mancher Auftritt musste ausfallen, weil er Probleme mit Zoll oder Polizei hatte oder noch rasch weg musste, um Stoff zu besorgen. Wenn es zum Auftritt kam, konnte man eine Sternstunde oder ein Fiasko erwarten. Lackerschmid erinnert sich: "Es gab immer Zöllner, die stinksauer waren, wenn sie bei Chet keine Drogen fanden. Einer schüttete mal sein Gebiss-Klebemittel aus. Daraufhin hat Chet ein ganzes Konzert nur gesungen - beim Festival in Hannover." Was wie ein Malheur aussah, wurde in diesem Fall aber zu einem Riesenerfolg.

Was immer Baker spielte: Er drückte dem Material seinen Stempel auf, seinen Ton, seine Emotionalität - diese unverwechselbar nüchterne Tristesse. Nach einigen Jahren war er in Europa wieder ein lebender Mythos, wurde in Amsterdam nahezu heimisch und schien auch sein Drogenproblem in den Griff zu bekommen: In Holland bekam er den Stoff nämlich auf Rezept. Dennoch sah seine Familie wenig von dem vielen Geld, das er verdiente - am Ende seines Lebens rund 20.000 Mark im Monat. Seine jungenhafte, manchmal charmante Verantwortungslosigkeit bewahrte er sich bis zum Schluss.

1987 glaubten alle schon, Chet Bakers beispielloser Fall ins Bodenlose sei gebremst, seine Lage stabilisiere sich. Bruce Weber drehte damals über Baker den Dokumentarfilm "Let's Get Lost", Baker hatte einen festen Wohnsitz, und die NDR-Big-Band lud den Trompeter zu Solisten-Konzerten ein. Die Zeit für überfällige Anerkennungen schien endlich gekommen. Doch nur 15 Tage nach dem zweiten Big-Band-Konzert im Frühjahr 1988 geschah das Entsetzliche: Chet Baker wurde in Amsterdam tot auf der Straße gefunden, heruntergestürzt aus dem 2. Stock eines Hotels. Ein Unfall im Heroinrausch, hieß es im Polizeibericht. Doch die Gerüchte um einen Mord sind bis heute nicht verstummt.

***

LYRIK UND LOGIK
Über Chet Bakers Trompetenspiel

Chet Baker war an der Trompete weitgehend Autodidakt und gewiss kein Virtuose. Sein Leben lang verfolgten ihn Zahn- und damit Ansatzprobleme. Schon als Teenager verlor er den oberen linken Schneidezahn, mit Ende 30 - nach einer Auseinandersetzung mit Schlägern - fast das ganze Gebiss. Seine Lautstärke auf der Trompete war gering, der Tonumfang ebenfalls, die hohen Töne selten: Es konnte auch gar nicht anders sein. Doch früh lernte Baker, aus der Not eine Tugend zu machen. Er kultivierte seinen Trompetenton - besonders in den Tiefen - und wandelte ihn zu einem unwiderstehlichen Zaubermittel. Weicher und romantischer als Bakers Trompete kann kein Flügelhorn klingen.

Auch mit dem Notenlesen haperte es bei ihm gewaltig. Eine für die Trompete notierte Linie (in Bb) konnte Baker zwar vom Blatt spielen, aber selbst Akkordsymbole blieben ihm ein Rätsel. Er spielte gewöhnlich nach Gehör und wusste selten, in welcher Tonart er sich befand. "Ich brauche keine Changes, ich kenne ja das Thema", sagte er in seinen späten Jahren. Der Saxophonist Herb Geller meint: "Er konnte einfach nur spielen. Von allem anderen hatte er keine Ahnung." Baker komponierte nicht. Aber er blies seine Chorusse mit verblüffender kompositorischer Logik, entwickelte sie nicht aus der Harmonik, sondern aus der Melodie des Songs.

Das war sein eigentliches Geheimnis: die Verbindung aus Empfindung und Architektur, Lyrik und Logik. Wenn er seinen Mitspielern ein Stück vorschlug, das sie nicht kannten, konnte er ihnen nur die Melodie vorsingen. Aber wenn er es dann spielte, war die Akkordbegleitung kein Problem mehr: "Er spielt so logisch melodisch, dass man die Changes spürt", sagten die Kollegen. Wie er spielte, so sang er auch: leise, weich, präzise. Beim jugendlichen Chet Baker wirkte das romantisch. Beim alten wirkte es manchmal seltsam androgyn und ewigkeitsnah.

© 2000, 2002 Hans-Jürgen Schaal


Bild

10.11.2024
Neue Features auf der Startseite: JAZZ-PORTRÄTS (2) und FACETTEN DES PROGROCK (2)

09.11.2024
NEU bei Adrian Teufelhart: BLACK SABBATH

26.10.2024
China im Konzertsaal (Neue Musikzeitung)

24.10.2024
Über den Bildungsfetisch PISA (Brawoo 10/24)

mehr News

© '02-'24 hjs-jazz.de