Nun singen sie wieder. Trällern, schmettern, tirilieren, zwitschern, flöten und tschilpen. Im April und Mai hat das Vogellied bei uns Hochsaison. Wenn es abends dämmert, sitzen die samtig-schwarzen Amselmännchen auf den Dachfirsten und demonstrieren ihr Improvisations-Talent. „Der Gesang der Amsel übertrifft an Fantasie die menschliche Einbildungskraft“, schrieb der französische Komponist Olivier Messiaen (1908-1992). Er glaubte nicht, dass irgendeine Menschenmusik jemals „die souveräne Freiheit des Vogellieds“ erreichen könne.
Alle Vöglein, alle
Den Erfindern der Klangkunst
(2004)
Von Hans-Jürgen Schaal
Komponisten aller Epochen haben sich vom Vogelgesang inspirieren lassen, von seinen Intervallen, Rhythmen, Motiven und Skalen. Und mehr als das: Ohne die Vögel gäbe es vielleicht überhaupt keine Musik auf diesem Planeten. Im Vogellied ist alles angelegt, was wir als Musik definieren: Melodie und Phrase, Strophenform und Takt, Improvisation und Mehrstimmigkeit, Vorschlagsnote und Ritardando, Duett und Transposition. Alles in hohen Tempi, hohen Frequenzen, hoher Ereignisdichte. Vögel leben schneller und kürzer.
Ob in Persien, auf Samoa oder bei den Indianern Mexikos: Die Mythen erzählen, wie die Menschen von den Vögeln das Sprechen lernten, das Singen, die Musik. Ein Lernprozess in beide Richtungen, denn Vögel hören auch zu. Manche ahmen andere Arten nach, imitieren Hundebellen, das Geräusch von Kreissägen, piepsende Handys – oder eben Menschenmusik. Vögel haben eine individuelle Musikerlaufbahn. Vögel haben auch eine kollektive Musikgeschichte. Die Amsel, dieser improvisierende Fantast, war vor 200 Jahren noch ein scheuer Waldvogel. Zwischen 1820 und 1850 eroberte er die süddeutschen Städte als Nistplätze, eine nach der anderen. War das Pianoforte schuld, das aus allen Bürgerhäusern tönte? Letztes Jahr entdeckten Ornithologen, dass holländische Stadtmeisen in eine höhere Tonlage gewechselt sind. Man vermutet: um den Autolärm zu übertönen.
Olivier Messiaen sah im Gesang der Vögel die Ur-Musik der Schöpfung. Er hat sie in seinen Kompositionen für eine Nachwelt dokumentiert, die eines Tages vielleicht die Vögel zum Verstummen gebracht haben wird. Diese Ur-Musik war für Messiaen zugleich ein Modell der Avantgarde. Mikrointervalle? Nicht oktavierende Modi? Leitmotive? Aleatorik? Der Komponist klaute sie von den Vögeln.
Selbstgebrannt
Alle Vöglein, alle
1 – Olivier Messiaen (1992); Plusiers Oiseaux des arbres de Vie, vom Album Éclairs sur l’Au-Delà... (Orchestre de l’Opéra Bastille unter Myung-Whun Chung, 1994), Deutsche Grammophon. Vorsicht, Avantgarde! So jedenfalls erscheint uns das, was in der Natur ein Morgendämmerungskonzert in unseren Gärten sein könnte. Messiaens Vermächtnis.
2 – Fleetwood Mac (1969); Albatross, vom Album The Hits, Columbia. Unter den letzten Piccoloflöten des Orchesterstücks sollte schon Peter Greens Gitarre hörbar sein. Crossfade. Da strömt tropische Luft, darin die Vision vom weißen, eleganten, weltentrückten Schweben. Ein zerbrechlicher Traum, denn haben Sie schon mal einen Albatros landen sehen? Auch davon handelt dieses Stück.
3 – Love Sculpture (1970); Seagull, vom Album Forms and Feeling, EMI. Wir bleiben im Stil. Schön, dass Musiker wenigstens ein schlechtes Gewissen haben, wenn Vögel leiden. Hier: eine Möwenmutter als Opfer der Ölpest. „And she danced the dance of death, my friend...“ Das Familiendrama geht hart an die Grenze zur melodramatischen Tränennummer, packt mich aber immer wieder.
4 – Charlie Parker (1947); Bird’s Nest, vom Album Genius of Bebop, Giants of Jazz. Sie nannten ihn Bird. Diese lichtschnellen, intervallreichen, hüpfenden, lebensfrohen, beboppenden Läufe auf dem Altsaxofon lassen keinen anderen Schluss zu: Charlie Parker war in einem früheren Leben ein Wiedehopf. Oder eine Feldlerche. Auch Erroll Garner hat hier einen Vogel im Klavier.
5 – Jean-Philippe Rameau (1724); Le Rappel des Oiseaux, vom Album Harpsichord Music, Vol. 1 (Gilbert Rowland, Cembalo, 1994), Naxos. So klangen Vogelkonzerte in den französischen Gärten des 18. Jahrhunderts. Die Übersetzung aufs Cembalo gelingt hervorragend: zwitschernd in den Höhen, gurrend in den Tiefen.
6 – Simon & Garfunkel (1964); Sparrow, vom Album Wednesday Morning, 3 AM, Columbia. Man beachte den organischen klanglichen Übergang vom Cembalo (5) zur akustischen Folk-Gitarre. Paul Simon wusste vor 40 Jahren schon, was die Sänger den Vögeln schuldig waren. Wer rettet den kleinen Sperling, der aus dem Nest gefallen ist?
7 – Modest Mussorgsky (1873); Ballet of the Chicks in their Shells, vom Album Pictures at an Exhibition (Tomita, 1975). Der Sperling lebt. Oder nein, es sind ja Hühnerküken, die da so hemmungslos herumtschilpen. Ein kleiner Spaß auf frühen Synthesizern. Smile.
8 – Boots Randolph & Richie Cole (1982); Yakety Sax, vom Album Yakety Madness, Laserlight. Die Hühner sind erwachsen geworden und gackern in allen Winkeln unserer Farm. Was für eine Aufregung, wenn das Country-Huhn auf das Bebop-Huhn trifft! Die Versöhnung der Squares und der Hipsters im Zeichen des Saxofons.
9 – Ella Fitzgerald (1964); Skylark, vom Album The Johnny Mercer Songbook, Verve. Wenn von himmlischen Sängern die Rede ist, darf diese Stimme nicht fehlen. Etwas Besseres als Ella Fitzgerald konnte dem 20. Jahrhundert kaum passieren. Der Komponist des Songs, Hoagy Carmichael, war nicht nur Jazzfan, sondern auch Vogelfan. Neben der Feldlerche hat er auch dem Pirol musikalisch gehuldigt.
10 – Igor Strawinsky (1919); L’Oiseau de feu et sa danse / Variation de l’Oiseau de feu, vom Album Petrushka / Firebird (Cleveland Orchestra, George Szell, 1961), Sony. Ein mythischer Fantasievogel, bunt, strahlend und gewaltig. So einer muss die Musik erfunden haben. Die Kraft seiner Saurier-Vorfahren lebt noch in ihm.
11 – Duke Ellington (1959); Sunset and the Mocking Bird, vom Album The Ellington Suites, Pablo. Auf diesen Übergang von Strawinskys Kammerorchester zu Ellingtons Klangfarben-Jazz bin ich besonders stolz. Die Spottdrossel im Klavier, der Sonnenuntergang im Orchester, dazu die kleine Romanze im Altsaxofon. Sagen Sie nicht, das sei Kitsch.
12 – Olivier Messiaen (1960); Épôde, vom Album Chronochromie / L’Ascension (Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, K.A. Rickenbacher, 1982). Ein würdiger Ausklang. 18 transkribierte Vogelstimmen als kunstvolle Partitur für 18 Solostreicher. Ein Gipfelpunkt in der Geschichte der Polyphonie. So ähnlich nachzuhören in Ihrem Stadtpark.
Ach ja: Da ist noch viel Platz auf dem CD-Rohling. Gut geeignet wären Nachtigallen und Amseln. Sarasates oder Strawinskys Nachtigall. Die Jazz-Songs „A Nightingale Sang in Berkeley Square“ und „Bye Bye Blackbird“. Von den Beatles gibt es bestimmt auch was über schwarze Vögel. Oder wie wäre es mit einem original Morgenständchen der Ostsee-Waldamsel? Ich empfehle die 25-Minuten-Version auf dem Label Natural Sound.
In memoriam Helga Leiprecht.
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