Die Neue Popularität des Jazz
Sechs polemische Thesen
(1987)
Von Hans-Jürgen Schaal
1 – In the Tradition
Angefangen hat es im Jazz selbst: Bebop- und Swing-Revival seit den 70er Jahren demaskierten das Gerede von der „lebendigen“ Tradition als ideologisch. Lebendig wäre sie allein in einer Dialektik, die nicht über Vorgestrigem das seither Erreichte vergisst, sondern es in eben diesem aufzuheben sucht. Den von Traditionalisten einst viel geschmähten Colemans und Dolphys des frühen Free Jazz war es noch gelungen, Charlie Parkers Erbe ins eigene Material sinnvoll umzusetzen, und Teile der Loft Scene führten die fruchtbaren Interdependenzen zwischen Bop und Free fort. Selbst in seiner radikalen Phase um 1970 hatte der Free Jazz nie völlig vergessen, dass Avantgarde und Swing-Feeling einander nicht ausschließen müssen. Auf der anderen Seite hielten noch der „Black Traditionalism“ und die Neue Tanzbarkeit anfangs der 80er an der Gebrochenheit ihrer Tradition fest. Erst da, wo herausragende Musiker wie ein Phil Woods, der in den 70er Jahren seinen Stil organisch durch Rock- und Free-Elemente erweitert hat, plötzlich wieder auf puren Bebop regredieren, wird Traditionalismus in der Tat fragwürdig. Dieselben, die seit dem Free Jazz wegen amerikanischen Desinteresses Plattenfirmen in Europa konsultierten, kehren nun als verlorene Söhne zurück zu US-Labels, die nach wie vor nichts Avantgardistisches im Sinn haben. Was der Öffentlichkeit als die Neue Popularität des Jazz gilt, muss, so erfreulich sie sein mag, Insidern als seine Innovationsschwäche erscheinen.
2 – Good Old Swingtime
„Tanz den Glenn Miller“ war das Motto, unter dem jenes Dubiosum der frühen 50er Jahre, das schon im Fernsehen mehrmals für Langeweile gesorgt hatte, 1985 zum Kinohit in Dolby Stereo wurde. Bei seiner Entstehung bereits pflegte dieser Film eine rührselig-patriotische Reminiszenz an eine Musik, die selbst bloß noch ein letzter Aufguss der Big-Band-Ära gewesen war, dazu bestimmt, in der US-Army für Bombenstimmung zu sorgen. Die Neuauflage der „Glenn Miller Story“, nun also Nostalgie hoch drei, dokumentiert die Neue Gesellschaftsfähigkeit des Jazz, erkauft um das Opfer seiner Verbindlichkeit. Nach der psychischen Freischaufelung der 50er Jahre durfte endlich an noch tiefere Ablagerungen vorgefertigter Massensentimentalität appelliert werden: „Vor den Tagen des Rock’n’Roll gab es die Nächte des Swing.“ Jazz-Fans mögen vielleicht hören, was sie „Traditionszusammenhang“ nennen: woraus diese Musik entstand, wo sie veränderte, verfälschte, worin sie mündete, was davon heute noch gilt. Der Massengeschmack jedoch bleibt nur dem geöffnet, was ihm vor 40 Jahren schon kommensurabel war. Jazz, dessen Bild in der Öffentlichkeit um 1970 noch vom unverstandenen, unverkäuflichen Free Jazz geprägt war, gewinnt als nostalgisches Reizsignal, als Flair glücklich überwundener, kulturindustriell eingeschönter Zeiten wieder Attraktivität für Markt und Medien. Die reaktionäre Presse bejubelt den neu eingerichteten ZDF JazzClub, weil er vorerst Wildheiten und Experimente nicht zulässt. Ewige Sorge um die Zukunft des Vergangenen, den Oldtime Jazz und seiner domestizierten Folgestufen, verengt letztlich dem offenen musikalischen Prozess, der diese überwand, die gesellschaftlichen Chancen.
3 – Jungle Blues
Wo sein Image zuletzt überhaupt noch werbewirksam zum Einsatz kam, da war mit Jazz allenfalls eine perfekt arrangierte Fusion Music in hochwertiger Studioproduktion gemeint. Als Name für Automodelle und Computer-Software signalisierte er eine professionell beherrschte, futuristisch kalkulierte Streamline. Damit räumt sein Neues Image, Nostalgie eines längst überwunden geglaubten, gründlich auf. In der quasi keimfrei technisierten Welt von Fast Food, Air Conditioning und SDI soll der Jazz den Verlust einer Wirklichkeit kompensieren, für die das Klischee der Roaring Twenties steht: Metropolenfieber, Halbwelt und schmuddlige Triebhaftigkeit. Was Europa sich einst mit dem ursprünglichen Vitalismus der Nachkommen der Negersklaven erklärte, wird zum Mythos eigener moderner Frühzeit umgestülpt; Jazz bekommt in der nun romantisch umwölkten Sphäre von Sex & Crime wieder seinen alten Platz zugewiesen. Eine zweite Harlem Renaissance zehrt mit ihren Black Shows und Chicago Stories auf Leinwand, Bühne und Schallplatte vom Flair der angeblich ungebändigten Vitalität einer anrüchigen Jazz-Urwelt. Pulsierendes schwarzes Leben, ominöse Etablissement, Libertinage, Drogen und dunkle Geschäfte: Von all dem darf der Jazz einen Takt voll swingenden Growls in die entdschungelten Großstädte der 80er Jahre blasen. Offen bleibt am Ende nur, was den im Jazz noch um Fortschritt Bemühten wohl mehr schadet: das Image der Honda-Streamline oder der Ruch des Cotton Clubs.
4 – Cocktail Mix
So diffus das Jazz-Verständnis des breiteren Publikums ist, so leicht fällt dem Markt der profitable Etikettenschwindel. Als die Popmusik, immer auf der Suche nach neuen oder lange genug gemiedenen Schablonen, ein paar Elemente des Jazz – Swing, Basswalk, Bläserriff – für sich entdeckte, wurde sogleich mit Überschwang die Ankunft eines „New Jazz“ gefeiert, der dem Jazz endlich wieder lebendige Impulse geben könne. Noch der relativierende Begriff „Pop Jazz“, der den ersten verdrängte, erweist sich als Hochstapelei. „Ob das wohl nach dem Motto ‚Jazz ist immer, wenn ein Saxophon dabei ist’ funktioniert? Ist das eine gezielte Kampagne zur Verwirrung des Publikums?“ So mutmaßte im „Raben“ Gitarrist Volker Kriegel, stilistischen Fusionen sonst durchaus nicht abhold. Die von Popkünstlern wie Working Week, Sade, Viktor Lazlo, Matt Bianco u.a. mit aufgesetzten Jazz-Gesten veredelte Diskotheken-Musik setzt mehr oder weniger bewusst fort, was einmal Cocktail-Jazz hieß und das genaue Gegenteil von Jazz war: unverbindliches Hintergrundklimpern nämlich als Schmiermittel fürs Publikumsgeplauder. Die Firma Muzak zwar macht den Barpianisten heute überflüssig, von dessen leicht anrüchigem Environment jedoch zehrt dank lasziven Swing-Feelings das Image der eleganten Sade Adu weiterhin. Ein Schuss Jazz dient auch bei allen Tanzbands, die die Woche über die Musiklokale füllen sollen, als inzwischen selbstverständlicher, beliebig zitier- und verwendbarer Bestandteil ihres natürlich niemals explosiven Soundgemischs, dessen Etiketten vom Afro-Reggae-Salsa-Soul-Funk bis zum Latin-Disco-NoWave-Swing-Punk reichen. Wovon Jazz sich in seiner Geschichte immer wieder emanzipierte, weil es zum Klischee zu werden drohte – Honky Tonk ebenso wie Hardbop –, im tanzbaren Pop-Eklektizismus hat es sich als vollends bezugloser Effekt zum integrierten Gemeinplatz verfestigt.
5 – Sax Appeal
Erfunden vor 150 Jahren (die Klarinette ist doppelt so alt) und anfangs fast nur in Frankreich verwendet, gewann das Saxophon durch den Chicago-Jazz jene Popularität, die auch Komponisten wie Hindemith, Strawinsky, Weill, Ravel, Milhaud, Honegger und andere bewegte, für dieses Instrument zu schreiben. Im modernen Jazz – von Charlie Parker bis Anthony Braxton – avancierte es zum Ausdrucksinstrumente par excellence, auf dem schwarze Jazz-Geschichte geblasen wurde. Auch aus R&B und Rock’n’Roll war es noch nicht wegzudenken, blieb erst beim Vormarsch der elektrischen Gitarren und Keyboards auf der Strecke. Wie es der Rockmusik der 70er Jahre als zickig galt, so fand das Saxophon auch im Jazz-Rock keine Stimme. Erst nach der Rückkehr des Jazz zum akustischen Handwerk mogelt sich dieses Instrument, dessen repräsentativ prangende Mechanik das Jahrhundert seiner Entstehung nicht verleugnen kann, auch in die computerisierte Popmusik der 80er Jahre. Kaum ein Discosong heute, der nicht vor dem letzten Refrain dem Saxophon acht Takte überließe; kaum ein Kino-Werbespot eines Bankinstituts oder Haarstylers, in dem es nicht für einen Hauch Zeitgeist sorgte. Was die Texte der synthetischen Popmusik schamlos-schamhaft verschweigen, wird dem röhrenden Ausdruck des Saxophons zugemutet, das in animalischem Treibhausklima zu schwelgen hat. Der geschlechtliche Symbolwert des Instruments, von den Nazis schon denunziert, im Rock’n’Roll zur Schau getragen, manifestiert sich in jenem stereotypen Brunftschrei, der kurzfristig das Gebräu der Synthesizer, Sequenzer und Drum-Machines übertönt. So deutlich das wortlose Signal ein allgemeines Verstummen bezeugt, so wenig kann es dieses rückgängig machen. Darum wird solche auf Schemata beschränkte, dabei streng ideologische Verwendung des jazztypischsten aller Instrumente bald als Modetorheit der Popmusik von gestern gelten müssen; im Jazz freilich dürfte die Vielseitigkeit des Saxophons noch lange stilbildend wirken.
6 – Midnight Cowboy
Erst kamen die Teds, die Petticoats und die Lackschuhe, dann folgten bunte Neonröhren, blecherne Reklameschilder, Dampfradios und Nierentische, schließlich das komplette Rock’n’Roll-Revival inklusive Teenager-Romantik und Saxophon. „Seit langem redet man uns ein, dass die Mode der fünfziger Jahre die Mode von heute sei“, heißt es im „Spiegel“ Anfang 1987. Bossa Nova mit einem verklemmten Jazz-Touch, schon um 1960 ein Gipfelpunkt modischer Einfallslosigkeit, eroberte im digitalen Sound der 80er Jahre die Radioprogramme und Szenenkneipen. Jazz-Fans mit Niveau freilich bevorzugen die B- und F-Dur-Themen des Hardbop, von den aufblühenden Jazzsendungen im Rundfunk zum „dernier cri“ erklärt. Die Reissues aus den 50ern und die Neugründung legendärer Labels wie Blue Note und Impulse prägen die Erwartungen an den Jazz von heute, den das marktfähige Klischee vom einsamen Hornplayer in regnerischer Nacht, heimatlos vorangetrieben durch Verbrechen und Verzweiflung verkündende Bass-Vamps, glücklich wieder einholte. Noch „Round Midnight“, so hilfreich der Film für den Jazz sein mag, gewinnt seine Faszination nicht durch Realismus, sondern aus der Aufbereitung vertrauter Nouvelle-Vague-Muster, einer Vermengung von kühlen Klängen, existentialistischen Situationen und französischen Dämmerungen. Wo der Film Vorurteile korrigiert, setzt er die neu-alten Imagos des Zeitgeists an ihre Stelle. Eine stilistisch eigenständige Produktion mit einem in Pop-Kreisen weniger bekannten musikalischen Koordinator hätte den Pionieren des modernen Jazz, in deren Namen Hancock den Preis entgegennahm, schwerlich Hollywoods Oscar eingetragen.
© 1987, 2007 Hans-Jürgen Schaal
© 1987 Hans-Jürgen Schaal |