Das Auge hört mit – und mit zwei Ohren sieht man besser. Regelmäßig inspirieren Auge und Ohr einander mit Ton-Farben und Farb-Tönen. Einen neuartigen, aber profunden Zugang zur Jazz-Geschichte verspricht daher unser kleiner Rundgang durch die Modern Jazz Gallery. Entdecken Sie die Klangfarbenklänge in der Musik von Thelonious Monk. Entdecken Sie klingende Formen, tönende Figuren und rhythmische Linien in den Bildern von Rousseau, De Chirico, Magritte, Kandinsky und Matisse.
Modern Jazz Gallery
Tanzende Sterne, tönende Kreise
(2005)
Von Hans-Jürgen Schaal
Muss man vor diesem Löwen Angst haben? Wohl hat er ein Beutetier erjagt, verspeist es und besudelt sich mit seinem Blut. Doch er blickt dabei so schuldbewusst, so plüschtierhaft um sich, dass man ihn trösten möchte. Wie er da steht, aufrecht und die Pfoten wie Hände benützend, scheint er ja nur ein schwacher, sündiger Mensch zu sein in einem Löwenkostüm. Ebenso unecht wie das Raubtier ist die Landschaft: ein Paradies-Urwald voller Fantasiegewächse, mit einem hohen Horizont und einem weißen Mond. Dieser Traumwald hat etwas Weltfremdes, Naives an sich – wie ein Kunstraum farbiger Kulissen. Auch Thelonious Monk, das infantile Raubtier, lebte in Welten der Fantasie, ein „mad genius“, ein Koloss, in dem ein Kind steckte. Der Pianist liebte es, bei den Soli seiner Nebenleute vom Klavier aufzuspringen und sich wie ein kaum gebändigtes Riesentier zu bewegen, sich um sich selbst zu drehen, bis ihm schwindlig wurde. Er flößte anderen Menschen Angst ein, konnte sich aber seine Schuhe nicht selbst zubinden. Psychologen erkannten autistische Züge in seinem Verhalten. Gerne sprach er in Rätseln: „Es ist immer Nacht, sonst bräuchten wir kein Licht“. Oder: „Die Stille ist der schrillste Ton.“ Dieser Scheinlöwe verspeist Duke Ellingtons Musik nur mit schlechtem Gewissen. Er schlägt seine Zähne in die Melodien, er lässt Blut und Blues fließen, lässt den Boogie hopsen und sorgt für manche schmerzhafte Dissonanz. Aber den Respekt, den legt er auf „Plays Duke Ellington“ trotz allem nicht ab. Eher verschmilzt er kunstvoll mit seiner Beute, als dass er sie tötet. Er gibt die Löwenrolle fürs Publikum – spielt das pittoreske Safari-Tierchen eines malenden Zöllners und eines geschäftstüchtigen Plattenproduzenten. Wenn die Touristen allerdings zu zudringlich werden, verjagt er den „Caravan“ mal schnell aus seinem Hoheitsgebiet hinaus in die Wüste. Gut gebrüllt, Löwe.
Die Szene hat sich gewandelt, das Licht auch. Es steht tief, fällt flach von rechts auf die Bühne, wo der Künstler, der „Prophet“, ein gesichtsloses, sprachloses Wesen, halb Gliederpuppe, halb Commedia-dell’Arte-Figur, mit den Perspektiven kämpft. Bildet er die Welt ab oder erfindet er sie neu? Monks Stücke wie „In Walked Bud“ und „Misterioso“ sind reine Architektur, konstruktivistische Neudeutungen von Standards und Blues. Da werden Intervalle, Chromatik und Harmoniefolgen konzipiert und aufgetürmt. Da kollidieren die logischen Prinzipien und suchen surreale Balancen. Das Bekannte wird zum Rätsel, wird sich selber fremd und wirft isolierte Schlagschatten. Die Perspektiven verschieben sich ineinander auf der Suche nach einer anderen Ordnung. Dazu passt der unfertige, klirrende Sound, den das Klavier im Five Spot Cafe besaß, New York, Sommer 1958. Der Schatten, der dabei von rechts auf die Bretter fiel, die auch Monks Welt bedeuteten, gehörte zweifellos Johnny Griffin, dem Tenorsaxophonisten im Quartett, bekannt als „der kleine Riese“. Griffin bläst auf dem Album „Misterioso“ ungebärdig seinen Blues, virtuos, inspiriert und unbekümmert um die Klanghärten des Klaviers und die melodischen Pfeiler von Monks Neubauten. Immer wieder erstarrt daher die Gliederpuppe des Propheten in ihrer Bewegung und lässt den Bläser unbegleitet oder nur mit Bass und Drums schwadronieren. Danach setzt die konstruktive Arbeit am Klavier wieder von neuem ein, ein schweres Räderwerk kommt in Gang, der Seilzug einer Kathedralen-Bautruppe. Monk schlägt mit steifen Fingern in die Tasten und schwankt dabei wie ein gesichtsloser Golem auf seinem Sitz. Gleich wird dieser Prophet des Neuen den Vorhang im Hintergrund zum Zittern bringen, der uns jetzt noch die Zukunft verbirgt.
Am 17. Februar 1982 starb Monk. Der Prophet gab seine Musik endgültig aus den Händen und überließ ihr Schicksal der Nachwelt. Überraschung: Innerhalb weniger Jahre wurde das Werk des „verrückten Monk“ ein nicht mehr wegzudenkender Teil des Standard-Repertoires im Jazz. Im nie blinzelnden Blick des Propheten spiegelte sich plötzlich die ganze Welt. Die Welt ist bekanntlich eine Kugel (englisch: „sphere“), der Augapfel auch, und Sphere war Monks zweiter Vorname. Zunächst waren es vier Musiker, die im Namen des einen zusammenkamen: „Four In One“, das Tributalbum, entstand durch eine Laune des Schicksals genau an Monks Sterbetag. Der Pianist des Quartetts, Kenny Barron, berichtet: „Am 17. Februar kamen wir zu Van Gelder zur 10-Uhr-Session. Wir nahmen sechs Stücke auf, und um 3 Uhr nachmittags waren wir schon auf dem Weg nach Hause. Buster [Williams] fuhr mit mir zurück nach New York, und nachdem ich ihn abgeladen hatte, schaltete ich den lokalen Jazzsender ein und hörte die traurige Nachricht vom Tod Thelonious Monks. Er war um 8 Uhr morgens gestorben – gerade mal zwei Stunden vor Beginn unserer Session.“ Und übrigens nur wenige Meilen südlich vom Studio, einfach den Hudson River hinunter. Mit dem Quartett Sphere begann die Universalisierung von Monks Musik, ihre erfolgreiche Übersetzung in eleganten, zeitlosen, klassizistischen Mainstream-Jazz. Der Augapfel, der die Welt so anders sah, wuchs zum wolkenverhangenen, hellblauen Erdball. Die Stücktitel auf dem Album drehen sich alle ums Sehen: „Light Blue“, „Monk’s Dream“, „Evidence“ oder „Reflections“. Das Fernste, Flüchtigste erkennt heute seine Reflektion in Monks Bizarrerien wieder. Das Prisma erscheint als Spiegel. Nur zuweilen beginnt Monks Auge wie verrückt zu kreisen. Rapid Eye Movement. Dann träumt es von erschreckend wilden und unfassbar neuartigen Konstruktionen.
Von Konstruktionen wie dieser: Kreise, Flächen und Linien haben sich miteinander im Raum versammelt. Sind sie aus anderen Dingen und Bildern herausgebrochen worden? Und was für ein Raum ist das, in dem sie sich neu ordnen? Offenbar ein Raum ohne Tiefe und Ende, eine offene Dimension jenseits der Wolken; Atomphysiker leben dort oder Weltraumforscher. Auch die Pupille des spiegelnden Auges finden wir dort wieder, sie hat sich zum großen schwarzen Kreis gewandelt, der von links oben her die Gravitation beherrscht, die Raumkrümmung – als Elektron, als verfinsterte Sonne, als Schwarzes Loch vielleicht. Das Schwarz, die Nichtfarbe, verstärkt die anderen Töne, selbst ein mattes Braun und Grau. Es gibt jeder Melodie mehr Kraft. Wenn man den schwarzen Kreis lange genug anschaut, sieht man die Sonne hinter seinen Rändern hervorleuchten. Dieser Kreis ist präzise und offen zugleich, fordernd und bescheiden, er setzt Prozesse in Gang, denn Wasserfarben sind nicht für die Ewigkeit. In den „Six Compositions“ formiert sich eine Zukunftsmusik, suchen geometrische Formen, wie sie Monk und andere hinterlassen haben, neue Konstellationen. Die allmähliche Selbstdefinition schwarzen Sounds, schwarzer Kultur, schwarzer Identität. Staccato-Bebop im freitonalen Raum. Zerrissene Themen und gebogene Linien über pochenden, rhythmischen Ostinati. Sprünge zwischen Rundem und Eckigem und zu vereinsamten Rechtecken hin. Punkte und Saxophone in fünf Größen, ein vieleckig akzentuierendes Schlagzeug, ein Klavier, das den Melodien schwarze Ränder hinzufügt, ein Kontrabass, der dem schwarzen Kreis schrittweise näher rückt. Anthony Braxton, der Saxophonist, gibt seinen Stücken keine Titel, sondern „benennt“ sie mit geometrischen Symbolen. Sie wirken wie die Fortsetzung dieses Bildes, nur naiver, technischer, praktischer. Es sind kleine Wegmarken im großen Entwurf.
Aber auch so ist Jazz: eine schwarze Menschenfigur mit einem wild klopfenden, roten Herzen. Die Figur tanzt: Der Bilderzyklus heißt „Jazz“. Sie taumelt: Das Bild daraus heißt „Icarus“. Sie tanztaumelt zwischen Himmel und Erde, zwischen explodierenden Sternen, ihr Herz ist leicht, ihr Herz ist schwer, das ist der Blues. Wynton Marsalis, selbst ernannter Verwalter des Jazz-Gedankens, entblößt hier sein wildes Herz: „The Majesty Of The Blues“ will den authentischen Jazz-Geist einfangen, aber mit fortgeschrittenen Mitteln. Das Titelstück, ein gewaltiger Slow Blues, wandert durch verschiedene Rhythmen, Tonarten und Themen, und das Sextett klingt mal wie Ellingtons Jungle-Band, mal wie eine Hardbop-Combo, mal wie eine Trauerprozession. Die schwarze Figur fällt durch viele Sphären hindurch. In „Hickory Dickory Dock“ blitzt die fröhliche Seite des Blues auf, eine Mischung aus Kinderlied, Walzer, Parademarsch und Gospelfreude mit jubelnden Bläsern und tanzenden Sternen. Laughing to keep from crying. Im dreiteiligen Hauptwerk, „The New Orleans Function“, verbindet Marsalis auf witzige Weise seinen Traditionalismus mit der Kritik an den Kritikern dieses Traditionalismus. Der Ur-Mythos des Jazz – das New-Orleans-Begräbnis – wird dem totgesagten Jazz selbst zuteil. Einem herzzerreißenden Trauermarsch zu seinen Ehren und einem pathetischen Totengebet (Text: Stanley Crouch, Performance: Reverend Jeremiah Wright, Jr.) folgt die dixieländlerische Auferstehung im „Happy Feet Blues“. Einige Gastmusiker aus New Orleans garantieren dabei das authentische Feeling. Der schwarze Icarus mit seinem heißen Herzen, der vor Überhitzung zur Erde stürzte, bleibt nicht lange in ihr vergraben. Er tanztaumelt heraus aus seiner Grube und hottet den Jazz ins 21. Jahrhundert hinüber. Ob er allerdings nach der Freude über sein Weiterleben zu einer dauerhaften neuen Fröhlichkeit findet, wird man abwarten müssen.
© 2005, 2008 Hans-Jürgen Schaal © 2005 Hans-Jürgen Schaal |