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Django meets Bartók. Der Amerikaner James Emery ist nicht nur ein Gitarrenvirtuose ganz eigener Prägung, er weiß sein persönliches Farbenspektrum auch in anspruchsvolle Kompositionen zu übersetzen. Emerys Standbein ist seit langem das String Trio of New York, aber nun wird auch sein Spielbein immer frecher.

James Emery
Dritter Strom, vierte Welt
(2004)

Von Hans-Jürgen Schaal

Junge Gitarristen (aber nicht nur sie) sind ständig in Gefahr, sich im System der Verschulung zu verlieren. Sie lernen Licks und Tricks, Grifftechniken, Improvisations-Strategien, Akkordfolgen und Variationsmuster – und vergessen darüber leicht Originalität, Persönlichkeit und Inhalt. Die Kombination von Real Book und Gitarrenschule bescherte uns ein Heer langweiliger, austauschbarer, überflüssiger, perfekt ausgebildeter Gitarren-Techniker. Die wirklich bedeutenden, originären Gitarristen gehen meist andere Wege.

James Emery hat klassische Gitarre und Komposition studiert, unter anderem bei Ann Stanley, einer Violinistin des Cleveland Orchestra, und bei Robert Aldridge, dem Komponisten des Grammy-nominierten Werks „threedance“. Nicht über das Real Book, sondern über Blues-Basics, Avantgarde-Jazz und Sound-Experimente fand Emery in den späten 60er-Jahren ins Reich der Improvisation. Als er Charlie Parker entdeckte, hörte er ihn quasi von außen, übersetzte ihn sich in eine avancierte, kammermusikalische Gitarrensprache. Dasselbe tat er mit Monk, Ornette, Trane und Braxton, mit Bartók, Boulez, Schönberg und Berg. Emery schlug Pfade auf dem Griffbrett, von denen die konventionelle Gitarrenschule nicht zu träumen wagt. Er entwickelte einen Stil, der klassische Virtuosität, freie Improvisations-Fantasie und jazziges Feeling miteinander verschmilzt. Er erfindet sein Instrument ständig neu.

1974 machte James Emery 22-jährig den Schritt von Ohio nach New York, stürzte sich in eine vitale, experimentelle Szene, in der die Musik über alle Grenzen hinweg explodierte, und bewarb sich als Lehrer beim Guitar Study Center. „Ich dachte: Sicherlich wird es eine Million Leute geben, die Avantgarde-Gitarre lernen wollen.“ Immerhin hatte die Loft-Szene damals eine gute Presse, Leute wie Anthony Braxton beherrschten sogar die Down-Beat-Polls. Nicht mit einem Gitarrenschüler, sondern mit einem Kontrabassisten kam es bald im Creative Music Studio in Woodstock zu einer folgenreichen Begegnung. Emery und der damals erst 16-jährige John Lindberg verkrochen sich am liebsten in einer Dachkammer und spielten dann stundenlang Duos zusammen – nicht Bop oder Standards, sondern Stücke von Leroy Jenkins, Anthony Braxton und dem Art Ensemble of Chicago. Das war ihr gemeinsames, privates Real Book.

Das String Trio of New York entstand durch einen Zufall. Emery und Lindberg spielten gerade in einem Lokal in der 4. Straße im Village, direkt hinter der Fensterscheibe, als der Geiger Billy Bang vorbeikam und spontan mitmachte. Die Energie und der Sound der 14 Saiten – eine Besetzung, die auch zu Jazz-Urzeiten in New Orleans zu hören war – verblüfften nicht nur die Musiker. Schmunzelnd erinnern sich Emery und Lindberg an ihren ersten Gig als String Trio: Von der Straße weg waren sie für eine New Yorker Party engagiert worden, bei der etliche Hollywood-Stars ein- und ausgingen. Der Gastgeber war kein anderer als Bill Murray, der spätere Hauptdarsteller in Filmen wie „Groundhog Day“ und „Lost in Translation“, doch damals den Musikern völlig unbekannt. Zweifellos besaß er bereits große Komiker-Qualitäten, denn nach einer Stunde Saiten-Free-Jazz zur Cocktail-Party dankte er den Musikern mit überzeugender Begeisterung: „Mann, das war genau, was ich für diese Party haben wollte! Das war großartig! Ich hätte es mir nicht besser vorstellen können!“

Mehr als ein Vierteljahrhundert später ist das String Trio of New York längst zur Institution des innovativen Kammerjazz geworden. Wie Kronos oder einst das Modern Jazz Quartet besitzt es seine einmalige Ensemble-Identität und sein eigenes Repertoire – Kompositionen der Mitglieder, fantasievolle Bearbeitungen moderner Jazz-Klassiker, Auftragswerke von Muhal Richard Abrams, Dave Douglas, Leo Smith, Joe Lovano oder Marty Ehrlich. Emery und Lindberg sind bis heute der Kern des Trios geblieben, während an der Geige für Abwechslung gesorgt war: Mit jeder Umbesetzung bekam das Ensemble eine andere Färbung in Stilistik und Repertoire. Billy Bang (1977-1985) war der Mann für die hohen Energielevels und packenden Free-Jazz-Exkursionen. Charles Burnham (1986-1990) richtete das Interesse auf komplexere Harmonik, Standards und Blues. Regina Carter (1991-1996) mit ihrem klassischen Hintergrund löste erste Auftragswerke aus. Diane Monroe (1997-2000), von Haus aus klassische Geigerin, führte das Trio noch weiter in Richtung seriöser Kammermusik.

Der neue dritte Mann, Rob Thomas, bekannt von den Jazz Passengers und dem Mahavishnu Project, ist, was Jazz-Qualitäten betrifft, sicherlich der vielseitigste und beste Geiger in der Geschichte des String Trio. Ein Fan des Ensembles seit der ersten Platte, „First String“ (Black Saint 1979), durfte Thomas vor Jahren schon aushilfsweise erste String-Trio-Erfahrungen sammeln. „Gut Reaction“, sein CD-Debüt mit der Band, ist gleichzeitig das erste international vertriebene Live-Album des String Trio. (Ein früherer Konzert-Mitschnitt erschien nur auf dem französischen Label Accord Accort.) Die Konzertaufnahme war eine Idee des Produzenten Frank Tafuri, entstand im New Yorker Club „Jazz Standard“ und war längst überfällig: „Wenn wir live vor Menschen spielen, passiert etwas, das im Studio nicht passiert.“ So kammermusikalisch strukturiert das String Trio zuweilen auch arbeitet: Das Improvisatorische und Ungeplante des genialen Moments entzündet sich in dieser Musik wie in jeder Jazzband. Durch solche Geistesblitze wachsen und verändern sich die String-Trio-Stücke in einem jahrelangen Prozess. Sie gewinnen neue Bedeutungen, Charaktere und Dimensionen: „Manchmal ist es frustrierend, die erste Version zu hören.“ Auf „Gut Reaction“ hört man Material, das durch Konzertjahre hindurch gereift ist, aber nie zuvor eingespielt wurde.

Nicht nur nach Rob Thomas’ Meinung ist James Emerys Spiel die eigentliche Sensation des Trios: „Ich wusste nicht, dass jemand so sehr Gitarre spielen kann.“ Eine treffende Formulierung, denn der Gitarrist Emery verfolgt eine musikalische Vision, die laufend an die Grenzen des gitarristisch Machbaren vorstößt. In seinen Soli schafft er es, Abstraktes, Polyphones, Orchestrales zu entwickeln, ohne darüber den warmen, sprechenden, jazzigen Tonfall zu verlieren. Auf einer elektrischen Gitarre wäre das nicht zu bewerkstelligen. Die dynamischen Gegensätze, die klangliche Transparenz, die Explosivität der Saitenvibration und die vielen Klangschattierungen der Akustischen gehören unbedingt zu Emerys Spiel. Django meets Bartók.

Lange Zeit waren Emerys Ambitionen weitgehend auf die Arbeit mit dem String Trio beschränkt, mit dem er inzwischen 16 Alben aufgenommen hat. Erst seit 1996 ist es ihm möglich, seine Ideen als Bandleader und Komponist ebenfalls einigermaßen kontinuierlich in CD-Produktionen umzusetzen. Nach den vielen Jahren mit dem spartanisch instrumentierten String Trio erschien ihm das wie ein „Besuch im Bonbonladen“, und er dankte ihn mit einer kreativen Explosion. „Die Saat dafür war wahrscheinlich schon immer da“, sagt Emery. „Aber man braucht die Bedingungen und den Raum, um zu wachsen. Und natürlich lernt man auf seinem Weg immer wieder Neues für die Zukunft. Das String Trio ist eine kollektive Formation, daher kann ich dort nicht immer tun, was ich mag. Ich genieße es jetzt, ein Bandleader zu sein. Es ist eine große Verantwortung und eine Menge Arbeit, aber eine Arbeit, die ich gerne tue. Da gibt es einige ernstliche Herausforderungen, von denen nicht die geringste ist, Proben zu organisieren!“

Emerys Kompositionen verblüffen mit demselben stilistischen Amalgam aus Jazz-Tradition, e-musikalischer Vielstimmigkeit und freier Fantasie, das sein Gitarrenspiel so unvergleichlich macht. Zuweilen wirken seine Ensemble-Musiken für vier, sechs oder sieben Spieler wie Traumlandschaften, in denen Alban Berg und Duke Ellington einander unvermutet über den Weg laufen. Kammermusik-Strukturen verbinden sich mit Jazz-Rhythmen. Als die Verantwortlichen beim Label Between the Lines Emerys Septett-CD „Spectral Domains“ hörten (mit Marty Ehrlich, Chris Speed, Mark Feldman u.a.), suchten sie umgehend Kontakt zu dem Gitarristen: Nur zu gut schien er ihnen in jenes Niemandsland „zwischen den Linien“ von Jazz und Klassik zu passen, das früher einmal vom Third Stream durchflossen wurde. „Im Frühling 2000 wurde ich von BTL kontaktiert. Tom Varner gab mir Bescheid, dass sie nach mir suchten. Damals behaupteten sie sogar, sie wollten meine Musik komplett dokumentieren.“ Beim Frankfurter Label rechnete man Emery unter die „Fortsetzer und Erneuerer des Third-Stream-Gedankens“, unter die „Grenzgänger am Schnittpunkt von avancierten Kompositionstechniken und zeitgenössischen Improvisationspraktiken“.

Bald nach Vollendung seines Sextett-Albums „Luminous Cycles“, einer direkten Fortführung von „Spectral Domains“, wurde sogar die Idee eines Orchesterwerks geboren. Emery hatte zuvor schon für große Besetzungen geschrieben, etwa eine erweiterte Fassung seines Stücks „Cobalt Blue“ für das String Trio mit Sinfonie-Orchester. Das neue Stück entstand für das Klangforum Wien (einen 22-köpfigen Klangkörper) und drei improvisierende Solisten (Franz Koglmann, Tony Coe und James Emery selbst). „Mir stand ein Orchester von klassisch ausgebildeten Musikern zur Verfügung. Um Kompromisse zu vermeiden, beschloss ich, für die starken Seiten des Ensembles zu komponieren, nicht für seine Schwächen. Wenn du klassische Musiker bittest, Jazz zu spielen, dann bittest du um Ärger. Du machst auch keine Schneebälle am Äquator und gehst nicht am Nordpol surfen. Wenn man für klassische Musiker schreibt, ist es notwendig, ihre Traditionen und ihr Repertoire zu kennen.“

Das Werk „Transformations“ ist mehr als 1.000 Takte oder knapp 40 Minuten lang. Es besteht aus fünf Sätzen und drei solistischen Zwischenspielen. „Zu den kompositorischen Einflüssen auf ‚Transformations’“, sagt Emery, „gehörten Mingus, Ellington, Muhal, Miles, Wayne Shorter und Jobim genauso wie Strawinsky, Schostakowitsch, Bartók, Lutoslawski und die Minimalisten.“ Acht volle Monate hat Emery an seinem Opus magnum komponiert, und als der Plattenfirma die Zeit zu lang wurde, nahm er zur Überbrückung mal eben noch eine schlagzeuglose Quartettscheibe mit Joe Lovano auf, „Fourth World“. Auch die fünf Quartettstücke, die Emery dem großen Orchesterwerk auf der CD „Transformations“ hintanstellt, kommen ohne Schlagzeug aus: Ein swingender Kontrabass und Emerys eigenwillig orchestrale Gitarre schaffen genau die richtige rhythmische Spannung für diesen komplexen, polytonalen Kammerjazz. Mehr braucht es nicht. Das beweist ja auch das String Trio of New York – seit nunmehr 27 Jahren.

Auswahldiskografie (3 x 7)

Als Leader:
1. Exo Eso (solo) (FMP 1987)
2. Turbulence (Knitting Factory 1991)
3. Standing On A Whale Fishing For Minnows (Enja 1997)
4. Spectral Domains (Enja 1998)
5. Luminous Cycles (Between the Lines 2000)
6. Fourth World (Between the Lines 2001)
7. Transformations (Between the Lines 2003)

Mit dem String Trio of New York:
1. Area Code 212 (Black Saint 1980)
2. Natural Balance (Black Saint 1986)
3. Time Never Lies (Stash 1991)
4. Octagon (Black Saint 1994)
5. Blues...? (Black Saint 1995)
6. Faze Phour (Black Saint 1998)
7. Gut Reaction (OmniTone 2003)

Als Sideman:
1. Charles Bobo Shaw & Human Arts Ensemble: Junk Trap (Black Saint 1978)
2. Leroy Jenkins: Urban Blues (Black Saint 1984)
3. Henry Threadgill: Song Out Of My Trees (Black Saint 1994)
4. Henry Threadgill: Makin’ A Move (Columbia 1995)
5. Anthony Braxton: Composition No. 95 (1980) (Golden Years 1999)
6. Gerry Hemingway: Songs (Between the Lines 2002)
7. Franz Koglmann: Don’t Play, Just Be (Between the Lines 2002)

© 2004, 2008 Hans-Jürgen Schaal


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