Ohne Milt Jackson (1923-1999) wäre das Vibraphon wohl längst in der Rumpelkammer der Geschichte verschwunden. Der schmale Mann mit den hängenden Wangen, denen er seinen Kosenamen „Bags“ verdankte, hat das metallene Monstrum auf unvergleichliche Weise zum Singen gebracht.
Milt Jackson
Die singenden Vibes
(2003)
Von Hans-Jürgen Schaal
Ein Schüler der Miller High School in Detroit machte 1939 eine folgenschwere Entdeckung. Der 16-Jährige spielte damals bereits passabel Klavier, außerdem Violine und Pauke im Schulorchester, trommelte in der Marschkapelle, war Gitarrist in der Schultanzband und sang außerdem im Gospel-Chor. Doch dann präsentierte ihm sein Musiklehrer ein Monstrum: eine Art Marimbaphon mit Elektromotor, ein seltsames Konstrukt aus Metallplatten und Resonanzröhren, Drehwelle und Dämpferpedal. Ganz offensichtlich war dieses dreioktavige „Vibraphon“ dem Hirn eines weltfremden Elektroingenieurs entsprungen. Ein weiteres Produkt jenes erfindungswütigen Modernismus der 20er-Jahre, der auch Trautonium, Ondes Martinot, Wurlitzerorgel, Elektrochord, Theremin und ähnliche elektronische Fantastereien hervorgebracht hatte.
Dann entdeckte der Teenager Plattenaufnahmen von Lionel Hampton. Der hatte einst in Louis Armstrongs Band getrommelt und hin und wieder mit diesem Vibraphon experimentiert. Es war Armstrong persönlich, der Hampton ermutigt hatte, sich auf das neue Instrument einzulassen. Inzwischen gehörte Lionel Hampton zu den größten Sensationen auf der Swingszene: einer von lediglich zwei Jazzmusikern, die sich regelmäßig des Vibraphons bedienten. Der Teenager hatte sein Vorbild gefunden.
Die nächste Entdeckung: Man konnte dieses Instrument auch ganz anders spielen. Hampton kam vom Schlagzeug her und bearbeitete das Vibraphon mit erbarmungsloser Perkussivität. Red Norvo, der andere Vibraphonist des Jazz, ging eher pianistisch und akkordbezogen an die Sache heran. Unser Teenager jedoch, er hieß Milt Jackson, träumte insgeheim von einer Vokalisten-Karriere. Als Mitglied der Evangelist Singers, eines Gospel-Quartetts, trat er jahrelang sonntags im Radio auf. Aber ließ sich eine Brücke bauen zwischen dem warmen, souligen Feeling des Gospel-Gesangs und dem kalten, metallenen Klang dieses futuristischen Stahl-Marimbas?
Milt Jackson baute die Brücke. Er entwickelte „soft mallets“ (weiche Schlägel), stellte den Oszillator von 10 auf 3,3 Umdrehungen pro Sekunde herab und entlockte dem Vibraphon eine unerwartete Ausdrucksstärke. In Milt Jacksons Worten: „Das Vibrato, das ich auf diesem Instrument erreichte, war dem Vibrato sehr ähnlich, das ich als Sänger in meiner Stimme hatte. Das faszinierte mich – und ich gab das Singen und vier andere Instrumente auf, um mich auf dieses eine zu konzentrieren. Als ich entdeckte, dass ich den Sound meiner Stimme simulieren oder imitieren konnte, da hatte mich das Vibraphon gepackt.“ Und es packte auch die Zuhörer. Unter Milt Jacksons Händen schien das Metallgestell zu organischem Leben zu erwachen, atmete wie ein Jazz-Saxophon, sang wie ein Soul-Crooner, phrasierte wie eine Blues-Gitarre. Nicht umsonst nannten ihn die Kollegen später den „Soul Brother“, den „Reverend“. „Milt ist geheiligt“, sagte sein Entdecker Dizzy Gillespie.
Er war noch ein Novize am Vibraphon, als Milt Jackson in die Fänge des Bebop geriet. 1944 hörte ihn Dizzy Gillespie bei einer Jam Session im Cotton Club von Detroit, lud den 21-Jährigen nach New York City ein und bot ihm einen Job an. So gelangte ausgerechnet dieses kuriose Vibraphon in die Schlüsselaufnahmen des modernen Jazz. Ob Dizzy Gillespies Studio-Klassiker „A Night In Tunesia“ von 1946, Fats Navarros „Boperation“ von 1947, Thelonious Monks Ersteinspielungen von „Misterioso“ und „Epistrophy“ von 1948, Charlie Parkers Live-Aufnahmen im Royal Roost von 1949, Dizzy Gillespies „Tin Tin Deo“ und „Birks Works“ von 1951: Milt Jackson war immer mit dabei.
Sein wichtigstes Engagement hatte er in dieser Zeit im Dizzy Gillespie Orchestra, der führenden Big Band des Bebop. Zusammen mit John Lewis am Klavier, Ray Brown am Bass und Kenny Clarke am Schlagzeug bildete Jackson die erweiterte Rhythm Section des Orchesters und bald eine Art „Band innerhalb der Band“, die bei den Orchester-Auftritten besonders gefeaturet wurde. Als sich die Big Band 1951 endgültig auflöste, lag es nahe, zu viert weiterzumachen – wobei Ray Brown und Kenny Clarke bald durch Percy Heath und Connie Kay ersetzt wurden. Die Combo hieß zunächst Milt Jackson Quartet, deutete ihr Kürzel MJQ dann aber um in Modern Jazz Quartet. Damit begann die Geschichte einer der erfolgreichsten und ausdauerndsten, aber auch umstrittensten Jazzbands des 20. Jahrhunderts.
Stilistisch war das Modern Jazz Quartet der Beginn des so genannten Third Stream, einer Synthese aus Elementen von Jazz und Klassik. Im Fall des MJQ waren die Klassik-Elemente allerdings ziemlich vorgestrig: kleine Fugen- und Kanonformen, Anklänge an barocke Tanzsuiten und Renaissance-Melodien. Durch die gedämpfte Dynamik des bläserlosen Quartetts und seine swingenden Improvisationen erhielten die barocken Zutaten – fast zehn Jahre vor „Play Bach“ – freilich einen ganz besonderen Reiz. Dahinter steckte eine kluge Marketing-Strategie, die auf ein Publikum zielte, das an Jazz sonst nicht interessiert war. Französische Stücktitel wie „Concorde“, „Vendôme“ und „La Ronde“, das distinguierte Auftreten in Frack und Fliege und der kammermusikalische Gesamteindruck korrigierten nachdrücklich das öffentliche Image von Jazzmusikern. Cool Jazz für klassische Konzertsäle. Swing in homöopathischer Dosierung. Bürgerlich domestizierte Blue Notes.
Das Geheimnis des Modern Jazz Quartet lag in der Balance der Kontraste. Milt Jackson war der Hauptsolist, aber Ideengeber war John Lewis. „Johns Job ist die musikalische Leitung“, erklärte Jackson offen. „Seine Persönlichkeit hat sich in dieses Quartett eingeprägt. Alles, was er tut, ist geplant.“ Auf der einen Seite: ein sparsamer, kühler, fast minimalistischer Pianist, auf der anderen: ein Vibraphonist, der wie ein Bläser in die Jazz-Phrasierung taucht. Hier Komposition, dort Spontaneität; hier Form, dort Feeling; hier Bach, dort Blues: eine enorm erfolgreiche dialektische Beziehung. 1953 gewann die Band ihren ersten Kritiker-Poll als beste Combo und startete zum ganzjährigen Triumphzug durch die Konzerthäuser des Globus. 1957 stellte sie in Donaueschingen sogar die europäische Erstaufführung von Strawinskys „Agon“ in den Schatten. Erst 1974 ging man auseinander, aber schon 1981 kam es zu Reunion-Konzerten und 1984 sogar zur Neugründung. Nur der Tod konnte das Unternehmen MJQ stoppen.
Wenn John Lewis Kopf und Rückgrat des Quartetts war, so war Milt Jackson seine Seele und sein Herz. Doch nicht immer war er ganz glücklich innerhalb des von Lewis gelenkten Organismus. „Ich fühle mich in steifer Kleidung und steifen Arrangements nicht wohl“, gab er dann offen zu Protokoll. Die Musik des MJQ schien ihn auf Dauer nicht recht zu wärmen. Dabei hat er stilistisch vom MJQ profitiert: Kritiker begannen die barocke Ziselierung seiner Bop-Läufe zu loben und bewunderten die Verwendung des Kanon-Prinzips in seinen Blues-Kompositionen. Doch immer wieder suchte Jackson den Ausbruch aus dem Käfig, um seine Soul-Vibes so richtig zum Klingen zu bringen. „Ich bin am entspanntesten in den Blues und in den Balladen. Meine Blues kommen aus der Kirchenmusik und meine Balladen aus der Tatsache, dass ich in Wirklichkeit ein frustrierter Sänger bin.“ Meist in der Sommerpause oder kurz vor Weihnachten fand er die Zeit, eigene Platten zu machen. Daraus wurde eine lange, eindrucksvolle Kette der Begegnungen mit großen Stilisten: mit Miles Davis 1954 und 1955, mit Ray Charles 1957 und 1958, mit Cannonball Adderley 1958, mit John Coltrane 1959, mit Coleman Hawkins 1959, mit Wes Montgomery 1961, mit Oscar Peterson 1961 und 1971, mit Benny Carter 1976, mit Count Basie 1978... In dieser Liga fühlte sich Milt Jackson wirklich zu Hause.
Diskografische Empfehlungen:
Milt Jackson & John Coltrane: Bags & Trane (Atlantic/Warner)
Milt Jackson & Wes Montgomery: Bags Meets Wes (Riverside/OJC/ZYX)
Milt Jackson/Joe Pass/Ray Brown: The Big Three (Pablo/OJC/ZYX)
Cannonball Adderley with Milt Jackson: Things Are Getting Better (Riverside/OJC/ZYX)
Ray Charles & Milt Jackson: Soul Brothers/Soul Meeting (Atlantic/Warner)
Miles Davis and The Modern Jazz Giants (Prestige/OJC/ZYX)
Modern Jazz Quartet: Django (Prestige/OJC/ZYX)
Modern Jazz Quartet: Odds Against Tomorrow (Blue Note/EMI)
Modern Jazz Quartet: Blues On Bach (Atlantic/Warner)
© 2003, 2010 Hans-Jürgen Schaal
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