Das Ding da drüben vor der Wand? Das benutzen die Filmleute von MGM manchmal, für besondere Effekte. Die machen ja jetzt nur noch diese Tonfilme. Klar, probier’s aus. Nein, so klingt es natürlich nicht richtig, es braucht Strom, Elektrizität, für die Drehwelle und fürs Pedal. Ich schalte es dir ein, Moment. Mit dem Pedal steuerst du das Vibrato, so...
Lionel Hampton (1908-2002)
Der erste Rock’n’Roller
oder: Als Louis Armstrong aufhorchte
(2008)
Von Hans-Jürgen Schaal
In der Studioecke
Louis Armstrong horchte auf. Dieser Klang! Er kannte diesen Burschen ja schon länger, seit den Chicago-Jahren. Genauer gesagt kannte er seinen Onkel, einen gewissen Richard Morgan. Der war ein Jugendfreund der guten Bessie Smith und ihr zeitweiliger Liebhaber und einer der größten Alkoholschmuggler auf der South Side. Ja, der war Lionels Onkel und hatte, wenn er sich richtig erinnerte, dem Jungen sein erstes Schlagzeug gekauft. Lionel ging dann mit Les Hite nach Kalifornien. Jetzt hatten sie sich in Culver City wieder getroffen, wo Lionel bei Leon Elkins trommelte. Er trommelte nicht schlecht. Er trommelte sogar verdammt gut. Er hatte Swing, er hatte Ausdauer, er hatte Spaß daran und er zeigte es. Sogar auf diesen komischen Glocken, die neben seinen Drums standen, swingte er wie die Hölle. Louis war der Stargast und Lionel sein Drummer, genau wie bei Les Hite. Da durfte der Bursche auf drei Drumsets eine richtige Show abziehen und mit vier Stöcken herumfuchteln. Der Rundfunk übertrug jede Nacht: „Der größte Trompeter der Welt“ – das war Louis – „mit seinem Orchester“ – das war die Hite-Band – „und dem schnellsten Trommler der Welt“ – das war Lionel. Und jetzt waren sie hier in diesem Studio und dem Kerl fällt nichts anderes ein, als sich dieses komische Instrument anschalten zu lassen, das da in der Studioecke steht, und darauf herumzuklöppeln. Vibrophon oder Vibraphon heißt es wohl. Wo hat er das nur gelernt?
Das Ding da drüben vor der Wand. Lionel brauchte eine Dreiviertelstunde, bis er den Trick raushatte. Es war praktisch ein Marimbaphon mit Elektromotor. Das heißt, man kann es rhythmisch spielen, perkussiv wie ein Schlagzeug, aber man kann die Töne auch länger halten, ausklingen lassen wie bei einer Trompete. Aber dieser Klang – eine seltsame Mischung. Mal klirrend kalt, dann wie beseelt, je nachdem, wie er das Pedal einsetzte. Und immer ein wenig technisch, künstlich, jedenfalls sehr modern. Ob den Leuten das auf Dauer gefallen würde? „Go on, boy, go on!“, rief Louis in dem Augenblick herüber. „Du machst das ja richtig gut!“ Kunststück! Schließlich hat er ja von klein auf Xylophon und Marimba gelernt, bei Major Smith damals. Und Jimmy Bertrand, der hatte ihn auch schon auf das Vibraphon aufmerksam gemacht: „Das wäre was für dich, Lionel. Elektrizität ist die Zukunft!“ Ja, jetzt kriegte er es hin. Man kann da ganz einfache Phrasen raushauen, sie mehrfach wiederholen, extrem schnell. Das klang gut! Man kann swingen drauf, man kann sich austoben, ganz direkt. „Willst du das Ding nicht mal spielen bei der nächsten Aufnahme?“, fragte Louis jetzt. „Wenigstens in der Einleitung? Ich finde, du solltest dich damit beschäftigen, Mann. Du hast Talent.“
Paradise Club
Kalifornien war ein wichtiges Pflaster – spätestens seit dem Triumph im Palomar. „Die Nacht, in der der Swing geboren wurde.“ Na ja, es waren schon mehrere Nächte nötig gewesen. Benny Goodman grinste. Am Ende spielte seine Bigband dann zwei Monate im Palomar, bis in den Oktober. Und seitdem waren die jungen Leute in Kalifornien verrückt nach Swing. Schon im Sommer kehrte er also ins Palomar zurück. Opening night: July 1, 1936. Sie feierten ihn als den „King of Swing“, erwartungsgemäß. Und jeder fragte sich: Wohin geht der König nach der Arbeit? Irgendwer gab ihm den Tipp: Paradise Club. Dort spielte Lionel Hampton, Hamp, der Bühnenblitz, der Wunderdrummer, der noch dazu diese Einlagen auf dem kuriosen Vibraphon brachte. Man erzählte sich, Louis Armstrong hätte ihn dazu ermuntert, schon vor Jahren. Goodman staunte nicht schlecht über Hamptons Monstrum und die Art, wie er es reizte und zähmte und wieder reizte. Und Gedanken gingen ihm durch den Kopf: Brauchte sein Orchester ein Vibraphon? Oder sein Trio einen vierten Mann? Was war das Vibraphon überhaupt? Eine Art Klavier? Das Trio hatte doch schon den besten Klavierspieler der Welt: Teddy Wilson. Oder eine Art Schlagzeug? Das Trio hatte auch den besten Drummer der Welt: Gene Krupa. Es blieb nur die Rolle eines Frontmanns – neben dem Klarinettisten. War das wirklich eine gute Idee? „Ich bin Drummer, ich will Schlagzeug spielen!“, beharrte Hamp. „Mach einfach mal mit“, sagte Goodman. „Später lassen wir dich auch trommeln.“ Doch von diesem Tag an war das Trommeln nur noch Nebensache.
Das Ding da drüben vor der Wand. Natürlich würde er rhythmische Sachen dafür erfinden, verzwickte kleine Ohrwürmer mit gemeinen Intervallsprüngen, links, rechts, links, rechts. Dizzy Spells. Opus ¾. Oder dieses „Air Mail Special“, das schon den Bebop vorwegnimmt. Er würde auf dem Vibraphon praktisch Schlagzeug spielen, virtuose Swinggewitter, insistierende Figuren, eine Hochgeschwindigkeits-Show. Aber das konnte nicht alles sein. Nein, er würde ein echter, kompletter Solist werden müssen. Er würde diesem toten Ding aus Metallstäben und Resonanzröhren lebendige Gefühle entlocken müssen, es zart spielen, fantasievoll, bezaubernd. Er würde auch die Harmonien studieren, Klänge mit vier Mallets anschlagen, neue Akkorde erfinden, sogar Balladen komponieren. Er würde Benny Goodman in jeder Hinsicht Paroli bieten.
Mr. Showmanship
Während der Zeit in Goodmans Quartett leitet er nebenher 23 Plattensessions, irgendwer hat sie gezählt, leitet ein Who’s who der Jazz-Virtuosen. Dabei ist er kein Bandleader, nur ein begabtes Bühnentier. Gates – so nennen sie ihn, weil er selbst alle so nennt – schreibt keinem was vor, aber er spornt alle an: Von jedem erwartet er die bestmögliche Show. Er selbst macht es vor: Bühnenzampano, Musiksponti, Mr. Showmanship. Er hechelt, brummt, meckert über seinem Vibraphon, setzt sich ans Schlagzeug für reißerische Einlagen, spielt Klavier mit zwei Fingern, singt und hüpft und schlägt mit den Armen. Gene Redd heißt der Mann, der dann für King Bostic den wilden Hampton am Vibraphon imitieren wird.
„Du musst eine Bigband gründen, so wie Goodman“, sagen sie zu Gates, als die Bigband-Zeiten schon schlechter werden. „Du musst durchs ganze Land reisen.“ Wenig später wird sein „Flyin’ Home“ der Publikumsfeger und begründet den Ruhm des Lionel Hampton Orchestra. Seine Tenorsaxophonisten Illinois Jacquet und Jack McVea erfinden die exaltierte Ästhetik der R&B-Honkers. Als das Hampton-Orchester im Famous Door in New York auftritt, bricht es alle Lautstärkerekorde. Der Restaurantbesitzer im Stockwerk darüber lässt die Bauaufsicht kommen, weil er um das Gemäuer fürchtet.
Am Potomac
Louis Armstrong horchte auf. Seine Band hatte sechs Zugaben spielen müssen, er war erschöpft, aber zu aufgekratzt, um weiterzufahren. Was hier stattfand, auf einem Hausboot am Ufer des Potomac, das war definitiv spannender als jedes Baseball-Spiel. Die Festival-Folks schrieen sich fast in Ohnmacht vor Begeisterung, als Illinois Jacquet „Flyin’ Home“ blies, Hamps Stück, mit dem er in Hamps Band zum Star geworden war. Immer und immer wieder setzte Jacquet an, hupend und kreischend. In der Zwischenzeit traf endlich auch die verspätete Hampton-Band ein: Lionel war stinkesauer, keine Frage, und Armstrong hatte ein wenig Mitleid mit ihm: Jacquet hatte ihm die Show gestohlen. Armstrongs Leute drängten zum Aufbruch, aber Louis blieb stur: „Wartet, das müssen wir jetzt sehen!“ Hampton trieb seine Band so schnell wie möglich auf die Bühne, sie schlugen sich wacker. Doch erst als auch er „Flyin’ Home“ ansagte, begann das Publikum wieder zu johlen. In sein Vibraphon-Solo packte er alles hinein: das Weiche, das Rätselhafte, das Raffinierte, dann das Virtuose, das Perkussive, das Wilde. Er schwitzte und krähte sich in Ekstase und das Publikum ging endlich richtig mit. „Jetzt muss er noch eins draufsetzen“, murmelte Armstrong. Und als die Musik einen Höhepunkt erreichte und alle kreischten und vor Begeisterung die verrücktesten Dinge tun wollten, sprang Hamptons Bassist einfach über Bord in den Fluss. Das Publikum drehte fast durch. „Jetzt verspricht er ihm zehn Dollar, wenn er es noch mal macht“, schrie Armstrong seinen Leuten zu. Und tatsächlich: Beim nächsten Crescendo stieg der Bassist, noch klatschnass von seinem ersten Sprung, wieder über die Reling. „Startet den Motor, jetzt können wir gehen“, rief Armstrong. Der Junge hieß nicht umsonst Lionel. Er kämpfte ums Publikum wie ein Löwe. Das war einer wie er.
Sportpalast Berlin
„Ich bin ein Rhythm&Blues-Musiker“, sagt Hampton und meint eigentlich: „Ich bin ein Rocker. Mit mir begann der Rock’n’Roll.“ Rock’n’Roll: Das sind kreischende Massen, kaputt geschlagenes Mobiliar, Polizeieinsätze auf den Konzerten. Und natürlich Elektrizität: Hampton fördert in seiner Band den E-Bass, die Hammondorgel, die frühen elektrischen Klaviere. Jeder seiner Musiker muss auf Zeichen explodieren und den Wahnsinn schüren. Einer von ihnen erfindet das Stage Diving, den Sturz ins Publikum. Hampton selbst liebt es, auf die Tom-Toms zu springen und auf den Trommelfellen zu tanzen. Auch Quincy Jones lernt seine Lektion, als der Bandleader ihn keine Soli mehr spielen lässt. „In der Zwischenzeit sah ich, dass jeder, der ein Solo bekam, dabei Faxen riss und tanzte. Bei meinem nächsten Solo alberte ich auch ein bisschen herum und danach bekam ich mehr Soli.“
1953 kam Lionel Hampton erstmals nach Deutschland, wo Swing gerade noch verboten gewesen war. Erst zehn Jahre vorher hatte Goebbels in diesem Berliner Sportpalast die Frage gestellt: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Und nun regierte dort ebenso uneingeschränkt der Goodwill-Botschafter der Vereinigten Staaten des Jazz. Auch er: ein Verführer, aber ein Verführer zum Ungehorsam. Der Saal war restlos gefüllt, man sprang wie im Wahnsinn auf die Stühle, schrie berauschte, sinnfreie Worte oder rannte wie in Panik weg vor sprachloser, nicht mehr zu bändigender Begeisterung. Das war das Äußerste, die Grenzerfahrung, die emotionale Gegenwelt des Jazz. Jugendkrawall in Deutschland.
Das Ding da drüben vor der Wand. Vibrophon oder Vibraphon oder so. Nein, man kann es nicht spielen wie eine Klarinette, wie eine Trompete, mit der Kraft des ganzen Körpers, mit dem Atem der Lungen, der Hingabe des Mundes. Und doch: Man könnte dabei alles geben, den ganzen Menschen, den ganzen Augenblick. Man könnte Lionel Hampton sein. „Ich finde, du solltest dich damit beschäftigen, Mann. Du hast Talent.“ Zum Glück hat er auf Louis Armstrong gehört.
© 2008, 2010 Hans-Jürgen Schaal
© 2008 Hans-Jürgen Schaal |