Künstler ähneln gewissen Muscheln: Dort, wo sie verletzt werden, bilden sie Perlen. Zum Trost, zur Linderung, zur Rettung. Man nennt diese Perlen auch Gedichte. Oder Blues.
Vom Jazz durchtränkt
Einer von uns: Peter Rühmkorf (1929-2008)
(2008)
Von Hans-Jürgen Schaal
Es ist der 19. August 1966, ein milder Sommerabend in Hamburg. Ungewohnte Töne schweben in der warmen Luft zwischen Rödingsmarkt und Rathaus. Direkt vom Adolphsplatz kommen sie, wo ein zur Bühne umfunktionierter LKW parkt und sich eine größere Menge Passanten im Scheinwerferlicht um ihn versammelt. Die Zeitungen werden später von dreihundert, von sechshundert Menschen schreiben, es können aber auch dreitausend gewesen sein. Sie kommen nicht wegen der heißen Würstchen. Heute gibt es Gedichte auf dem Markt, intime Wortkunst macht sich öffentlich. Am Mikrofon steht Peter Rühmkorf, 36 Jahre alt, vormals Lektor bei Rowohlt, renommierter Lyriker, groß, schlank, mit Sonnenbrille und im hellen Pullover. Hinter ihm auf dem LKW sitzt und steht die Band des Pianisten Michael Naura und spielt Cool Jazz, während Rühmkorf rezitiert. Die Zeitungen werden titeln: Dichter gehen auf die Straße, die Lyriker betreten den Markt, Lyrik vom Lastwagen, Beifall für den Poeten auf dem Lkw, ein Poet in der City. Es ist Peter Rühmkorfs erster Auftritt mit Michael Naura. Und zugleich Hamburgs erste Dichterlesung im Freien.
Er sei nun mal „mit Jazz durchtränkt“, sagte er über sich. Die berüchtigten Hamburger Swingboys, die mit illegalen Schallplatten, englischer Kleidung und kragenlangem Haar den Unmut der Nazis erregten, waren nur ein paar Jahre älter als er. Auch er erlebte noch den Jazz als eine Widerstandsmusik, der man heimlich auf verbotenen Radiofrequenzen lauschte. Später wurde Jazz ihm zum Sound der Befreiung: Fotos von Wolfgang Borchert und Dizzy Gillespie hingen einträchtig nebeneinander in seiner Studentenbude – „Heiligenbilder aus für mich doch sehr lebendig zusammenhängenden Sphären“. Borchert, das war damals die Stimme Trümmerdeutschlands: „Jetzt ist Jazz unser Gesang“ lautete Borcherts Absage an die verlogene Welt der Marschlieder und Durchhalteparolen. Auch andere literarische Idole – Benn, Brecht, Kästner, Tucholsky – hatten diese Schwäche für den Jazz, für die Desillusion, fürs nicht geblendete Individuum. Bleib erschütterbar und widersteh.
Die Aktion auf dem Adolphsplatz 1966 ist eine Initiative des Schutzverbands Deutscher Autoren – der hieß wirklich so. Der Dichter möge doch einmal seine Poetenklause verlassen und sich wie die antiken Kollegen auf die Agora begeben, ins Bankenviertel, vors Marktpublikum. Einen Unterschied zum Altertum freilich gibt es, die Presse hört vorab Gerüchte: „Rühmkorf tritt nicht mit Harfe oder Leier auf, sondern mit dem Mikrofon und einer beflügelnden Jazzband. Ja, er habe eine ganz bestimmte [Band] längst im Auge. Aber die Musiker wissen das noch gar nicht und sollen es, bitte, aus der Zeitung nicht erfahren.“ Dichter und Musikanten kennen sich nur flüchtig, wenn auch seit Jahren. Schon Anfang der Fünfziger hatte man eine gemeinsame Heimat in Hamburg, den Literatur- und Jazzclub „Anarche“. Dort hatte Rühmkorf in den noch nassen Wandputz sogar eine Ode an Louis Armstrong geritzt. „Der Rühmkorf ist einer von uns“, davon war Michael Naura immer überzeugt.
Dabei schrieb er eigentlich nie über Jazz. Eher könnte man sagen: Er schrieb Jazz. Schon in jungen Jahren faszinierte ihn die subversive Macht des spontanen und improvisierten Worts. Als Kind erfand er eigene Kinderlieder und -reime, der Vater war reisender Puppenspieler. Fronthelfer mit 14, entdeckte Rühmkorf in der originellen Widerständigkeit des Volksmunds bald eine dauerhafte Passion. Er liebte und sammelte die unbotmäßigen Varianten des Offiziellen, nazikritische Volksverse wie diesen: „Lieber Gott, mach mich taub, dass ich nicht am Radio schraub’.“ Oder: „Es hat keinen Zweck, die HJ muss weg, der Hot muss her, das peitscht viel mehr.“ Nach dem Krieg schrieb er auch Gedichte im Boogie-Rhythmus oder gar einen „Tuberkel-Blues“. Eine „entschiedene Passion für die Musik und ganz besonders für den Jazz“ bescheinigte er sich selbst. Zum Musiker hat’s nicht gereicht, aber manches in seinen Gedichten verstand er als „Rhythm’n’Blues – von seiner ganzen Unterbodenschwingung her“.
Zurück zum Adolphsplatz. Lyrik auf dem Markt, das ist 1966 auch eine Art Fanal, ein Manifest: Doch, es gibt – abseits von Springer-Presse und TV-Verdummung – auch eine Straßenkultur. Da treffen sich zwar nur einige harmlose Kunstrezipienten, staunende Lyrik- und Jazzhörer – aber über diese irrelevanten, subjektiven Medien nimmt eine gemeinsame politische Gegenschwingung Fahrt auf. Die Große Koalition wartet in diesem Sommer als Drohung am Horizont, die Notstandsgesetzgebung kommt, eines der Gedichte handelt von Herbert Wehner. An diesem 19. August wird die Stimmung spürbar, die die Außerparlamentarische Opposition leiten wird. Lyrik und Jazz – das ist ein Stück Zeitgeist, als Ereignis bedeutend genug, um in Kino-Wochenschauen dokumentiert zu werden. Jazz und Lyrik – das wird binnen Monaten zum Trend in vielen Städten, eine Art Vorübung zur politischen Demonstration.
Damals entwickelte die NASA gerade ihr Apollo-Programm, das Projekt der bemannten Mondlandung. Rühmkorf, der Dichter auf der Agora, versteht das Wort „Apolloprogramm“ auf seine Weise: Es ist ihm Synonym für das blendend Offizielle, das millionenschwer Geförderte, das Apollinische, den hell angestrahlten Olymp. Der Dichter sieht sich selbst auf der anderen Seite, im Schatten der Götter. Gedichte sind kein öffentliches, kein Massen-Thema. Für Lyrik gibt es kein Apolloprogramm: „Ein allgemeineres wirtschaftliches Interesse liegt nicht vor; bei Ausfall greift kein Mensch nach dem Telefon oder dem Beschwerdebuch; die Nachfrage ist geringer als bei Nadelkissen, Katzenfallen oder anderen Auslaufproduktionen.“ Diesen Satz über Lyrik wird Michael Naura später wörtlich auch auf den Jazz beziehen. Apollos Gegenfigur: der Satyr Marsyas, der vom Gott im Mythos so schmählich ausgebootet wird. Marsyas ist Musiker, er spielt den Aulos, das erste Jazzinstrument der Geschichte, das Saxofon der Antike. Er spielt sich und seinen Blues, ein archaischer, ewiger Charlie Parker. Marsyas lives.
In den Jahren der APO war Lyrik & Jazz zu leise. Ein erster Versuch, die Magie vom Adolphsplatz zu wiederholen (1970), scheiterte. Der subjektive, subtextuelle Ton drang nicht mehr durch in die inzwischen politisch wild erregten Herzen. Aber das änderte sich gründlich einige Jahre später: Deutscher Herbst, politischer Kater, Nachrufe auf die APO, neue Innerlichkeit, auch im Jazz. Rühmkorf, Naura und Schlüter im Verein trafen damals einen ganz neuen Nerv oder besser: Sie trafen viele Nerven. Da wartete ein Publikum aus lauter Vereinzelten, Heimatlosen. „Wo waren wir stehen geblieben, damals, Sommer siemundsechzig?“ Der Soul-Cry des Dichters und die Tonlyrik eines melancholischen Kammerjazz transportierten diese wache, sensible Traurigkeit, diesen Hauch von Friedhofsluft, diese Poesie zerbrochener Utopien. Rühmkorfs „Tagebuch“ war für Naura „ein herbstlicher Blues vom zerstiebenden Leben“, Rühmkorfs „Elegie“ ein Begräbnismarsch in a-Moll. Beinahe magisch suchte sich jeder Rühmkorf-Text seine Naura-Melodie. Dichter und Musiker komponierten bei manchem Stück monatelang aufeinander zu, fast vegetativ, eine fragile Sphärenharmonie suchend – Anklänge, die nicht Gleichklänge sind, Verschiebungen, die nicht zu Widersprüchen werden.
Die Rezitation mit einer Live-Band ist eine Art Jazzkonzert: Rühmkorf als Frontmann vor der Rhythmusgruppe, der Preacher mit seinem gewachsenen Arsenal an rhetorischen Facetten. „Ich neige gelegentlich zum Einsatz sämtlicher mir zur Verfügung stehender Blasebälge zwischen Panspfeife und politischer Posaune.“ Lyrische Stimmungen, ein schwer festzumachender Sog, aus tropfenden Sätzen gewonnen, in denen die Sprache des Alltags widerhallt, und vom inneren Ohr der Musiker mehr erfühlt als erfasst, beinahe schlafwandlerisch in Jazz umgesetzt. Emphatische Emotionen, spontan im sprachlichen Tonfall, aber poetisch vieldeutig, ein individueller Schmerz, ins Lustvoll-Artistische geläutert, „Nervenplankton“ – wie der Jazz. Und ein guter Solist reagiert natürlich immer auch auf seine Band: „Was die Improvisation angeht, liegen bei mir zwar die Wörter und die Sätze und die Gedichtzeilen fest, aber es kommt doch immer noch auf den spontanen Anschlag an.“ Seine Gedichte waren ihm wie kleine Instrumente, wie selbst gefertigte Lyren, „die ich rühren kann oder schlagen oder anreißen oder schmirgeln oder zupfen, und über den Anschlag oder die Streichart entscheidet immer der unberechenbare Augenblick.“ Einer von uns.
Hörtipps:
Kein Apolloprogramm für Lyrik (ECM, 1976)
Phönix voran (ECM, 1978)
© 2008, 2010 Hans-Jürgen Schaal
© 2008 Hans-Jürgen Schaal |