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Unter einem Synthesizer stellen wir uns meist ein Tasteninstrument vor. Doch es gibt auch Gitarren-Synthesizer und – schon seit den Siebzigerjahren – ebenso Blas-Synthesizer, so genannte „Blaswandler“ (englisch: Wind Controller). Eine neue Dimension in der Bläsermusik.

Der geblasene Synthesizer
Lyricon, EVI, EWI, WX5, Synthophone und andere
(2009)

Von Hans-Jürgen Schaal

Im Bau orientieren sich Blaswandler zwar an Saxofon und Trompete, aber in der Regel sind sie nicht als akustische Instrumente zu gebrauchen. Vielmehr werden der Griff der Finger, der Atemdruck, der Lippendruck und andere Parameter von Sensoren erfasst, als Signale an einen Synthesizer übermittelt und in einen dynamischen, aber künstlichen Klang übersetzt – eine synthetische Flöte, Trompete, Geige, einen ganzen Bläsersatz oder was immer. Je nach Soundsample-Archiv oder digitaler Postproduktion kann der Blassynthesizer auch wie eine Autohupe oder wie splitterndes Glas klingen.

Ein solcher Synthesizer mit Blas-Steuerung erlaubt es dem Bläsersolisten, sich in elektrische und elektronische Musik „organisch“ einzupassen, ohne seinen bläserischen Ausdruck völlig zu verlieren. Daher sind diese Instrumente vor allem in Fusion- und Smooth-Jazz, New-Age-Musik und Electro-Funk beliebt. In Japan, wo man eine besondere Schwäche für elektronische Gimmicks hat, gibt es sogar Bands mit gleich mehreren Blaswandlern.

Auch außerhalb dieser Stilistiken kann ein Blassynthesizer von Nutzen sein. Der Alleinunterhalter oder Studiomusiker kann damit flexibel zum Beispiel zwischen Trompeten-, Flöten- oder Oboenklang wechseln. Automatische Transpositionen – auch in den Bassbereich – oder Anpassungen der Lautstärke an Raum und Mitspieler sind kein Problem mehr. Das Instrument ist leichter zu tragen als ein akustisches und eignet sich auch zum stillen Üben mit Kopfhörer.

Das Lyricon

Den ersten Blas-Synthesizer entwickelte der amerikanische Computer-Ingenieur und Musiker Bill Bernardi: das Lyricon. Er gründete dafür 1970 die Firma Computone und präsentierte nach vier Jahren das erste einsatzbereite Instrument: „Ich habe die Akustik von Blasinstrumenten studiert und baute einen Synthesizer, der mit zusätzlichen Sinustönen Obertöne imitiert. Der Umwandler (Transducer) enthält eine Membran und eine Fotozelle, die Atem und Ansatz in Stromspannung übersetzen. Für die Membran habe ich mindestens 100 verschiedene Materialien ausprobiert.“ Bernardis Lyricon wird mit Saxofon-Grifftechnik und einem Bassklarinetten-Mundstück gespielt, doch statt eines Blättchens enthält das Mundstück einen Metallsensor. Obertonspektrum und Transposition sind wählbar, der Synthesizer befindet sich in einem externen Holzkasten. Vom handgefertigten ersten Lyricon-Modell wurden etwa 300 Stück gebaut; das Lyricon II – bei Selmer produziert – verkaufte sich bereits 5.000-mal. Um 1980 wurde die Produktion jedoch eingestellt. Aber Bernardi, der bis heute Lyricons repariert, sagt: „Wenn ich in den Ruhestand gehe, baue ich das Lyricon III – mit all der neuen Technologie. Es gibt bereits einen Prototyp.“

Zur Förderung des neuen Instruments in den frühen Siebzigern engagierte Computone den Swing-Klarinettisten und Bop-Saxofonisten Dick Johnson: Er nahm damals mit dem einzigen Prototyp des Instruments das elektronische Jazz-Funk-Album „Lyricon“ auf. Der Käufer des ersten serienmäßigen Lyricons war dann der Jazz- und Filmmusik-Saxofonist Tom Scott, der schon Erfahrung mit elektrischen Neuerungen fürs Saxofon besaß. (Es gab in den Sechzigern bereits Conn Multivider, Selmer Varitone und ähnliche Modifikationen.) Scott spielte das Lyricon erstmals auf seinem berühmten Album „Tom Cat“ (1974), dann auch im Filmthema von „Starsky & Hutch“ oder bei der Popband Steely Dan („Peg“, „My Rival“). Auch andere Jazzsaxofonisten wie Wayne Shorter, Yusef Lateef, Roland Kirk und Sonny Rollins haben sich am Lyricon versucht. Im Smooth- und Fusion-Jazz-Bereich spielten es Jay Beckenstein (Spyro Gyra), Dave Sanborn oder Kenny G. Chuck Greenberg (1950-1995), der das Instrument mitentwickelt hatte, machte es zum Erkennungs-Sound der New-Age-Band Shadowfax. In der Rockmusik hörte man es bei Jack Lancaster, Andy Mackay, Raphael Ravenscroft und anderen.

EVI und EWI

Bereits 1964 hatte der amerikanische Trompeter und Elektronik-Ingenieur Nyle Steiner die Idee, einen Trompeten-Synthesizer zu bauen. In seiner Firma Steiner-Parker Inc. entwickelte er ab 1971 dieses „Electronic Valve Instrument“, kurz: EVI, und brachte es 1975 auf den Markt. Etwa 200 Stück davon wurden verkauft, ehe die Firma 1979 aufgelöst wurde. Steiner arbeitete dann für den italienischen Hersteller Crumar, der weitere 500 Stück herstellte. Als die MIDI-Technik kam, wurde (wie fürs Lyricon) ein MIDI-Adapter entwickelt, der sich zunächst aber nicht durchsetzte. Die Rechte am EVI gingen 1986 an die japanische Firma Akai, die Produktion wurde 1990 aber eingestellt. Steiner entwickelte später ein „MIDI EVI“ und hat es inzwischen der Firma Akai zur Adaption überlassen. Das EVI wird vor allem von Fusion-Trompetern eingesetzt: Man hörte es zum Beispiel bei Judd Miller, Bruce Cassidy und Mike Metheny.

Erfolgreicher als das EVI war von Anfang an Nyle Steiners EWI (Electronic Wind Instrument), auch Steinerphone genannt. Es orientiert sich am Saxofon, dessen Technik leichter elektronisch umzusetzen ist als die der Trompete. Akai vermarktet das EWI seit 1987 und hat von den verschiedenen Modellen inzwischen über 15.000 Stück verkauft. Das Besondere am EWI sind die Touch Keys: Statt Tasten sind da nur Kontakte für die Finger, was ein besonders schnelles, flötenleichtes Greifen erlaubt. Die frühen Modelle waren zweiteilig (Blaswandler und Synthesizer), das neueste (4000S) ist integriert und MIDI-fähig, ähnelt einem geraden Sopransaxofon und ist dank Batteriebetrieb sogar völlig autonom zu spielen. Es gibt auch ein Modell mit USB-Interface und Computer-Software.

Bekannt wurde das Akai EWI durch den Saxofonisten Michael Brecker (1949-2007), der es ab 1986 bei der Fusion-Band Steps Ahead einsetzte sowie besonders auf seinen ersten Platten unter eigenem Namen (1987-1990). Einer der führenden EWI-Bläser heute ist Jeff Kashiwa, der zehn Jahre lang Mitglied der Fusionband The Rippingtons war. „Ich hörte Michael Brecker in Los Angeles den Prototyp spielen“, erinnert sich Kashiwa. „Mich beeindruckte die unglaubliche Sensibilität und Musikalität, die er aus dem EWI herausholte. Er spielte ‚In A Sentimental Mood’ und brachte dieses Ding richtig zum Singen! Das EWI zwingt dich, sehr relaxt und bewusst zu spielen. Ich hatte zwei des originalen 1000er-Modells und zwei 3020er, denn das viele Touren setzt den Instrumenten zu. Aufs 3020er habe ich gewechselt, weil es MIDI-fähig ist und man einfach mit dem Fußpedal die Einstellungen wechseln kann. Ich benutze es direkt mít einem Mac-Laptop und einem Logic EXS 24 für die Samples.“ Auch Saxofonisten wie Bob Mintzer, Courtney Pine oder Eric Marienthal setzen häufig das EWI ein. Steve Tavaglione machte es mit Filmmusiken wie „CSI: NY“, „Ocean’s Eleven“ und „Ocean’s Twelve“ populär.

Yamaha, Softwind, Casio usw.

Speziell auf die MIDI-Technik zugeschnitten ist der Yamaha Wind Midi Controller, von dem verschiedene Modelle gefertigt wurden (WX-5, WX-7, WX-11). Anders als das EWI hat der WX-5 „echte“ Tasten und ein „echtes“ Mundstück und ist damit für Saxofonisten schneller zu erlernen. Auch er ist mit verschiedenen Synthesizern und Zusatzgeräten kombinierbar. Dennoch ziehen viele Profimusiker das EWI vor, weil es eine flexiblere, „natürlichere“ Ansprache hat. Es gibt den Yamaha Wind Midi Controller übrigens auch mit Blockflötenmundstück und in einer einfacheren Version als „Windjamm’r“ (ohne Lippensensor).

Das Synthophone des Ingenieurs Martin Hurni begann seine Existenz 1981 als eine Art Holzbrett mit Böhm-System, Elektronik und externem Analog-Synthesizer. 1986 wurde es zum MIDI-Instrument weiterentwickelt. Das Synthophone wird heute in ein echtes Yamaha-Altsaxofon eingebaut, besitzt ein metallenes Rohrblatt und einen Sensor, erzeugt aber keinen akustischen Sound, sondern nur MIDI-Signale. Viele Optionen sind durch Lippendruck steuerbar. Im geschlossenen Saxofontrichter verbirgt sich die Elektronik. Der Hersteller Softwind sitzt in der Schweiz, daher ist das Instrument erstens handgemacht und zweitens teuer. Der Jazzsaxofonist Bruno Spoerri benutzt es regelmäßig, andere wie Branford Marsalis, Steve Coleman oder Chico Freeman haben sich zumindest daran versucht.

Als Spielzeug für Kinder entwickelte Casio sein Digital Horn (DG), das heute Zanzithophone heißt. Es handelt sich um ein saxofonähnliches Plastikteil mit nasalem Ton, MIDI-Ausgang und sechs vorprogrammierten Sounds. In Mazedonien soll es als eine Art preiswertes Volksinstrument verbreitet sein. Ebenfalls als Kinderspielzeug konzipiert wurde die EZ Play Trumpet von Yamaha. Ambitionierter ist die Morrison Digital Trumpet (MDT), eine Entwicklung des australischen Ingenieurs Steve Marshall, bei der der Ausnahmemusiker James Morrison mitgeholfen hat. Das ziemlich futuristisch aussehende Instrument ist lippenschonend, bietet einen Tonumfang von mehr als 10 Oktaven und etliche zusätzliche Steuerungsknöpfe für beide Hände. Neben James Morrison ist der schwedische Allround-Trompeter Salomon Helperin einer der bekanntesten MDT-Spieler.

© 2009, 2011 Hans-Jürgen Schaal


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