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Kleine Stilkunde des Jazz (4)

In Chicago rüstete sich der Jazz für die Zukunft. Aus dem kollektiven Freiluftspaß wurde professionelle Abendunterhaltung mit solistischen Glanztaten und harmonischen Finessen. Und im Mittelpunkt stand Louis Armstrong.

Chicago-Jazz
Die Geburt des Solisten
(2005)

Von Hans-Jürgen Schaal

Das geographische Zentrum des Jazz der 1920er Jahre war Chicago, die „Windy City“ am gewaltigen Lake Michigan. Sie war das Hauptziel jenes großen Exodus nach Norden, durch den sich die afroamerikanische Bevölkerung Chicagos von 1910 bis 1920 fast verdreifachte. Die rückläufige Landwirtschaft und die anhaltende Unterdrückung in den Südstaaten trieben damals Hunderttausende schwarzer Amerikaner in die Städte des Nordens. Mit dem Ende des Vergnügungsviertels in New Orleans (1917) schlossen sich auch die Jazzmusiker dem großen Strom an. Auf der schwarzen South Side Chicagos (auch „Black Belt“ oder „Bronzeville“ genannt) florierte das Nachtleben: Die Paradiese des Jazz hießen Lincoln Gardens, Sunset Café, Apex Club, Plantation Café, Dreamland oder Savoy Ballroom. Aber auch außerhalb der schwarzen Viertel – in Friar’s Inn, Camel Gardens, Café Schiller – boomte der Jazz in der Stadt Al Capones – trotz gelegentlicher Schießereien und Saalschlachten.

Der Begriff des „Chicago-Jazz“ ist umstritten. Manche sahen den Chicago-Jazz nur als eine Unterform, als Vollendung oder als weiße Variante des New-Orleans-Jazz. Vor allem bei Musikern wie Milt Hinton und Pee Wee Russell, die nicht aus Chicago stammten, war der Begriff nicht beliebt. Dennoch war das Chicago der zwanziger Jahre der Ort, wo es passiert ist: wo der Jazz den entscheidenden Schritt tat vom kollektiven Spaß-Event zur kontrollierten Kunstform. Wo sich die Ästhetik des Jazz geschlossenen Räumen anpasste (Nachtclubs, Theatern, Tonstudios) und Bläser und Klavier endgültig zusammenfanden. Wo sich der Solist vom Kollektiv löste, eine Strategie der Improvisation und verfeinerte Spieltechniken entwickeln musste. Wo das beliebige Variieren von Melodien abgelöst wurde durch ein Improvisieren über harmonische Abläufe. Wo sich Sänger und Schlagermelodien in den Jazz drängten. Wo Ensemble-Chorusse erstmals geplant, arrangiert und komponiert wurden. Wo das Saxophon bereichernd in die Klangstruktur eintrat und der swingende Kontrabass die laute Tuba ersetzte. „Chicago hatte einen eigenen Stil, einen ganz eigenen Stil, den sonst keiner hatte“, bestätigt Paul Mares, der Kornettist der New Orleans Rhythm Kings, die sich – trotz des Namens – in Chicago gründeten.

Alles begann mit King Oliver, dem Kornett-König von New Orleans, der früh nach Chicago ging (erstmals 1918) und dort im Royal Garden Café für kreative Unruhe sorgte. Was und wie er spielte, das war damals so sensationell, dass Chicagos Musiker in Scharen in seine Konzerte strömten, um seine Soli und Riffs aufzuschreiben; man nannte diese Ideenklauer „Alligators“. Bis heute ist ungeklärt, wer den „Royal Garden Blues“, Olivers Erkennungsstück, tatsächlich erfunden hat; möglicherweise hat Oliver von der Bühne herab sein Copyright an einen Verleger verkauft. Als er 1922 – da hieß der Royal Garden bereits Lincoln Gardens – seinen um 16 Jahre jüngeren Schützling Louis Armstrong nach Chicago in die Creole Jazz Band berief, war das der Anfang vom Ende des alten Stils.

Oliver und Armstrong, die beiden besten Jazz-Trompeter ihrer Zeit, verblüfften mit einem Trick, den lange niemand durchschaute: Im Break, wenn die Band für zwei Takte aussetzt, bliesen sie perfekte zweistimmige Figuren. „Ich weiß nicht, woher sie wussten, was als Nächstes drankam, aber sie spielten diese sagenhaften Breaks, und es ging nie schief“, staunte der Drummer George Wettling noch Jahrzehnte später. Der Trick war: Oliver deutete in der Mitte des Chorus seinen Break-Lauf an und Armstrong dachte sich schnell eine zweite Stimme dazu aus. Das war Showbühne – und nicht mehr New Orleans.

Lil Hardin, die Pianistin der Band und von 1924 bis 1938 Armstrongs Ehefrau, ermunterte ihn, sich auf eigene Füße zu stellen und die wilden melodischen Einfälle, die er in Mußestunden hatte, auch auf der Bühne zu verwirklichen. Bald war Armstrongs Kornett nicht mehr nur Teil eines improvisierenden Kollektivs, sondern eine brillante Solistenstimme mit eigener Logik, die den Lauf der Musik dominierte. Die exquisiten Töne, die Armstrong wählte, der Sound, den er ihnen gab, wie er in ein Solo einstieg, wie er den Rhythmus der Phrasierung ständig wechselte, seine instrumentaltechnischen Capricen, die wechselnden Tempi, die Double-Time-Breaks, die Ablösung vom Thema, das Improvisieren über Akkorde: All das war neuartig und wäre in der kollektiven Freiluftmusik der „Crescent City“ vergebliche Liebesmüh’ gewesen. Armstrong, der Ausnahme-Trompeter, krempelte die New-Orleans-Ästhetik völlig um und erfand dem Jazz ein ganz neues Konzept: den Solisten. Und die Dramaturgie, den Entwicklungsbogen, den Swing des Solospiels. Als hätte er „vorausgesehen, wie moderne Konzeptionen von Rhythmus klingen würden“ – so der Jazzforscher André Hodeir. Sein Kollege Gunther Schuller hört in Armstrong-Aufnahmen von 1928 bereits ein Vor-Echo des Bebop.

Mit seinen Chicagoer Bands – Hot Five, Hot Seven, Savoy Ballroom Five – sorgte Armstrong für die erste Revolution in der jungen Jazz-Geschichte. Die legendären Hot Five waren eine Band aus der Retorte, ein reines Studio-Ensemble, ein Quintett ohne Schlagzeug und Bass, weder für Bühne noch Straße geeignet, ein visionäres Vehikel für den Solisten Armstrong. Was er von 1925 bis 1929 in Chicago dem Aufnahmetrichter anvertraute, wurde zur Jazz-Grammatik der Zukunft – von Tausenden von Musikern studiert und nachgeahmt. Auch wie er sich damals in andere Zusammenhänge einbrachte – als Partner der großen Blues-Sängerinnen, als Begleiter von Tänzern, Komikern und Stummfilmen, als Intermezzo-Star in Opernhäusern, als Solist halbstündiger Improvisationen, als Interpret von Tin-Pan-Alley-Songs, als Erfinder des Jazzgesangs und des Scat –, damit definierte er den Jazzmusiker rundum neu.

Armstrong war nicht der Einzige, der den Jazz Richtung Zukunft schubste. Earl Hines entwickelte spezielle Spieltechniken, die ihm auch am Klavier starke solistische Statements ermöglichten. Auch Jelly Roll Morton, der notorische Nomade, war in den Zwanzigern am liebsten in Chicago. Da er in seiner Band nur Musikern aus Louisiana Improvisationen erlaubte, musste er den anderen ihre Parts aufschreiben – mit Stoptimes und Breaks, Basslinien und Kontrapunkt, Dynamik- und Harmoniewechseln, die alles hinter sich ließen, was in New Orleans je improvisiert wurde. Morton begründete den Code für arrangierten Jazz. Ab sofort mussten Jazzmusiker Noten lesen können und jedes Tempo beherrschen.

Der Einbruch des Jazz nach Chicago machte großen Eindruck auf weiße Jugendliche. Joe Glaser, damals Manager im Sunset Café und später Armstrongs Agent, erinnert sich: „Die ganzen weißen Nachwuchsmusiker, die in Chicago lebten, kamen bei mir an, Abend für Abend, und alle wollten Louis hören: Benny Goodman, Muggsy Spanier und der Rest. Ich ließ sie immer umsonst rein. Mein Gott, es waren schließlich noch Kinder, und sie hatten nie einen Cent.“ Auch Hoagy Carmichael, Mezz Mezzrow, Gene Krupa, Jack Teagarden, Frank Trumbauer oder Eddie Condon wurden Teil des weißen Chicago-Jazz. Besonders bekannt war die Austin High School Gang, eine Schüler-Clique, die in einer Milchbar begeistert Jazzplatten hörte, sich schließlich Instrumente kaufte und die Platten Ton für Ton nachspielte: So lernten sie Jazz. Für diese Jungs – darunter der Kornettist Jimmy McPartland und der Saxophonist Bud Freeman – wurden Armstrongs Errungenschaften zu Grundtugenden: Natürlich improvisierten sie nicht einfach im Kollektiv drauflos, sondern bereiteten ihre Ensemble-Chorusse vor, steuerten Höhepunkte in der Mitte („explosion“) oder am Ende an („ride out“) und bemühten sich um eigenständige, stringente Soli. Am besten gelangen diese dem Kornettisten Bix Beiderbecke, einem der ersten „Lyriker“ des Jazz, der statt wilder Breaks klare, reduzierte Statements blies. Das war die Botschaft des Chicago-Jazz an die Welt.

© 2005, 2011 Hans-Jürgen Schaal


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