Kleine Stilkunde des Jazz (6)
Crossover ist keine Erfindung von heute. Der Jazz war kaum 10 Jahre alt, als findige Köpfe daran gingen, ihn mit sinfonischer Musik zu kreuzen. Was heute wie ein monströser Marketing-Gag aussehen mag, galt damals als die Krönung des Jazz.
Symphonic Jazz
Der Traum von der amerikanischen Klassik
(2006)
Von Hans-Jürgen Schaal
Aeolian Hall, New York, eine von Amerikas „heiligen Hallen“ klassischer Musik. Es ist der 12. Februar 1924, der 115. Geburtstag von Abraham Lincoln; das Konzert sollte später als „Befreiung des Jazz aus der Sklaverei“ bekannt werden. Im Saal sitzt die Musikprominenz von New York: Sergej Rachmaninow, Igor Strawinsky, Leopold Stokowski, Ernest Bloch, Willem Mengelberg, Fritz Kreisler, Jascha Heifetz, Walter Damrosch, John Philip Sousa und viele andere. So groß ist der Publikumsandrang, dass man jede Eintrittskarte zehnmal hätte verkaufen können. Die Veranstaltung unterm Titel „An Experiment in Modern Music“ will nicht weniger als die Fortschritte des jungen Jazz dokumentieren – „vom schrillen Jazz, der vor kaum zehn Jahren scheinbar aus dem Nichts entstand, zum heutigen Melodienreichtum“, wie es in der Eröffnungsansprache heißt. Den Anfang macht der „Livery Stable Blues“, der erste Plattenhit der Original Dixieland Jazz Band (1917), es folgen „jüngere Kompositionen in modernem Arrangement“, aktuellster Ragtime oder „semi-sinfonische“ Bearbeitungen von Irving-Berlin-Schlagern. Das Konzert gipfelt in der Uraufführung eines neuen Werks des aufstrebenden Komponisten George Gershwin: „Rhapsody In Blue“. An diesem Abend triumphiert der „Symphonic Jazz“.
Der Mann, der dieses Programm mit seiner 32-köpfigen Band präsentierte, hieß Paul Whiteman. Seine erklärte Absicht war es, Jazz gesellschaftsfähig zu machen, ihm „das Stigma seiner barbarischen Herkunft und der Dschungelkakophonie zu nehmen“, das schmutzige schwarze Straßenkind zu einer hellhäutigen „Lady“ zu erziehen. Dazu bedurfte es – Whitemans Meinung nach – der Disziplin, Ernsthaftigkeit, Harmonik, Klanglichkeit und Komplexität der klassischen Musik. Die meisten seiner Zeitgenossen sahen in Whiteman den Vollender des Jazz, der den Geschmack der Jazzfans bildete und umgekehrt das bürgerliche Publikum an den Jazz heranführte. Einige sahen in diesem „Crossover“ aber auch ein Vergehen an der klassischen Konzertmusik. Wiederum andere beschuldigten Whiteman des Verrats und der Ausbeutung des Jazz. Selbst George Gershwin plagte das schlechte Gewissen dem Jazz gegenüber: „Ich bin überzeugt, dass viele Elemente in ihm liegen, die entwickelt werden können. Ich weiß aber nicht, ob er noch Jazz sein wird, wenn diese Arbeit beendet ist.“
Paul Whiteman (1890-1967) war ursprünglich klassischer Geiger, spielte Bratsche in den Sinfonie-Orchestern von Denver und San Francisco und leitete im I. Weltkrieg eine 40-köpfige Marineband, die zu Märschen und Tänzen aufspielte. Kurz nach dem Krieg engagierte er den Arrangeur Ferde Grofé (1892-1972) und übernahm die vom jungen Jazz beeinflusste Tanzband, die Grofé zusammen mit dem Drummer Art Hickman in San Francisco leitete. Grofé war klassischer Geiger und Bar-Pianist. Während des I. Weltkriegs hatte er damit begonnen, mithilfe klassischer Techniken Struktur und Abwechslung in die Tanzmusik zu bringen: Er arrangierte jeden Chorus anders, schuf einen Instrumentalsatz, der die Melodie harmonisiert vorstellt (meist zwei Saxophone), und erfand kleine Gegenmelodien dazu. Aus diesem Kern entstand das Konzept des Big-Band-Jazz: Zu Recht gilt Grofé als der „Vater der modernen Jazz-Instrumentierung“. Als Whiteman die Band von Hickman und Grofé übernahm, bestand sie aus vier Bläsern und einer Rhythmusgruppe.
1920 brachte Whiteman sein Orchester nach New York: Mit der Idee, den wilden, modischen Jazz „sinfonisch“ zu domestizieren, traf er dort voll ins Schwarze. Die Platte mit den beiden Stücken „Whispering“ und „Japanese Sandman“ verkaufte sich über eine Million Mal (1920), der Hit „Three O’Clock In The Morning“ (1922) sogar noch dreimal besser. Bald hatte Whiteman an der Ostküste 25 Tanzorchester unter seiner Kontrolle, kassierte 10.000 Dollar Abendgage für seine Band, gastierte in Europa und galt als der unangefochtene „King of Jazz“. Mehr als 600 Musikstücke hat er aufgenommen. Und Whiteman war nur die Spitze des Eisbergs: Dutzende von Bandleadern folgten seinem lukrativen Beispiel, darunter Sam Lanin, Guy Lombardo und Vincent Lopez. Selbst in Deutschland leitete Mitja Nikisch, Sohn des Dirigenten Arthur Nikisch, ein Jazz-Symphonisches Orchester. Machen wir uns nichts vor: Die legendäre Popularität des Jazz in den 20er-Jahren gründet sich auf Paul Whitemans wohlklingende Tanzmusik und seine bombastischen Klassik-Potpourris.
Um seine „Seriosität“ zu unterstreichen, behielt Whiteman eine Streichergruppe in seiner Tanzband, dirigierte mit dem Taktstock und spielte oft eine kleine Solo-Einlage auf der Violine. Dabei galt er als miserabler Dirigent und (da er nicht mehr übte) als schlecht intonierender Geiger. Seine Musik hervorragend zu verkaufen und zu vermarkten, das verstand er freilich: Er war wohl der Erste, der Bandauftritte als Bühnenshow zelebrierte, komische Einlagen dabei parat hatte, seine Solisten angemessen vorstellte und sich einen ständigen Band-Vokalisten leistete. Die Musiker seiner Band – auch die Jazz-Solisten – sprachen nur gut über Whiteman: Er hatte immer Zeit für sie, war freundlich und verständnisvoll und bezahlte hervorragend. Sie nannten ihn liebevoll „Pops“.
Wie viel Jazz steckte in Whitemans Musik? Zweifellos haben die Ideen seiner Arrangeure die Sprache der Jazz-Orchester geprägt. Improvisierte Soli jedoch kamen oft nur als kleine Versatzstücke vor, wenige Takte lang, zuweilen eingebaut in grelle Potpourris oder Tschaikowsky-Arrangements. Für diese Soli aber engagierte Whiteman die besten Jazzmusiker, die er kriegen konnte – und er erkannte und schätzte gute Jazzmusiker. Darunter waren Bix Beiderbecke, Frank Trumbauer, Tommy und Jimmy Dorsey, Jack und Charlie Teagarden, Eddie Lang, Red Norvo, Joe Venuti oder die Sängerin Mildred Bailey. Whiteman war es auch, der Bing Crosby engagierte und förderte, als alle Veranstalter den Sänger noch für absolut untalentiert hielten.
Allerdings: Einen afroamerikanischen Musiker hatte Whiteman nie, obwohl er vielen Schwarzen seine Bewunderung aussprach. Dunkelhäutige passten nicht in sein Konzept eines vom weißen Amerika akzeptierten Konzertsaal-Jazz. Dies trug sicherlich dazu bei, dass er später von Generationen von Jazzmusikern als Ausbeuter des Jazz beschimpft wurde. Nichtsdestotrotz hat Whiteman vielen Schwarzen die Tür geöffnet: Duke Ellington und Fletcher Henderson trugen den Titel „The Colored Whiteman“ mit Stolz. Ellington selbst gab zu Protokoll: „Ohne Zweifel hat er den Jazz an den höchsten Punkt getragen, den Jazz je erreicht hat. Er hat ihn an die Ohren des seriösen Publikums gebracht – so, dass die Leute Jazz mochten.“
Nicht zuletzt hat Whiteman – oder sein weit reichendes Imperium – zahlreiche Komponisten gefördert und die Aufführung ihrer jazzsinfonischen Werke ermöglicht. Milhauds „La Création du Monde“ (1923), Cole Porters „Within The Quota“ (1923), Antheils Jazz Symphony (1925), Gershwins Klavierkonzert (1925) oder Grofés „Grand Canyon Suite“ und „Metropolis“ gehen direkt oder indirekt auf Whitemans Anregung zurück. Das bekannteste Musikstück des „Symphonic Jazz“ ist natürlich die „Rhapsody In Blue“, die – obwohl auskomponiert – von zeitgenössischen Kritikern als „echter Jazz“ empfunden wurde. Gershwin wie Whiteman waren der Überzeugung, dass Jazz nicht auf Tanzmusik begrenzt sei, sondern die Grundlage einer amerikanischen Kunstmusik bilden könne – so wie sich auch die europäische Klassik auf den Tonfall von Volkstänzen und Volksliedern stützt. Und Gershwins groß angekündigtes Jazz-Concerto sollte die Probe aufs Exempel sein. Die Klassik-Kritiker der Uraufführung waren geteilter Meinung: Die einen ließen sich vom jazzigen Schwung der „Rhapsody“ hinreißen, die anderen hörten nur sentimentale Melodien und konventionelle Harmonik. Wie tief der Geist des Jazz in Gershwins Werke eingedrungen ist, erkannte ausgerechnet Arnold Schönberg: „Der Eindruck ist einer der Improvisation mit all den Verdiensten und Nachteilen, die zu dieser Art des Schaffens gehören.“
© 2006, 2011 Hans-Jürgen Schaal
© 2006 Hans-Jürgen Schaal |