Wer immer sich mit dem Saxofon beschäftigt, landet irgendwann bei ihm. John Harle ist Saxofon-Forscher, Saxofon-Professor, Saxofon-Komponist – und natürlich selbst einer der größten Virtuosen seines Instruments. Seit langem gilt der Engländer als der führende Saxofonist der Welt, seine Spielkunst als unerreicht, sein Saxofonton als magisch. Im Jahr 2012 eröffnet er in der Nähe von London ein neues „Centre of Excellence in Saxophone Performance“.
John Harle
In allen Welten zu Hause
(2011)
Von Hans-Jürgen Schaal
Niemand sonst tue so viel wie er dafür, das Repertoire des klassischen Saxofons zu erweitern, meint der „Daily Telegraph“. Namhafte Komponisten wie Luciano Berio, Harrison Birtwistle, Vinko Globokar, Michael Nyman, John Tavener, Michael Torke oder Mark Anthony Turnage schrieben für den Saxofonzauberer John Harle mehr als 20 Saxofonkonzerte und mehr als 30 Kammermusikwerke. Seine Tonkontrolle am Saxofon gehöre zu den „bemerkenswertesten Phänomenen der zeitgenössischen Musikszene“, glaubt der „Guardian“. Vom Komponisten Harle selbst stammen Dutzende Konzertstücke und Film- und Fernsehpartituren, in denen das Saxofon ebenfalls häufig eine führende Rolle übernimmt. Aber auch die „Klassiker“ geraten bei Harle nicht in Vergessenheit: Sein Album „Saxophone Concertos“ mit den bewährten Solisten-Konzerten von Debussy, Glasunow, Ibert oder Villa-Lobos verkaufte sich rund eine Viertelmillion Mal.
Und das ist noch lange nicht alles. Der Engländer, der 1956 in Newcastle upon Tyne geboren wurde, versteht sich keineswegs als streng „klassischer“ Musiker. Er verehrt ebenso Duke Ellington und Johnny Hodges und arbeitete wiederholt mit Jazzmusikern wie Herbie Hancock, Andy Sheppard und Mike Westbrook. Zu seinen erfolgreichsten Projekten gehören Kooperationen mit Sir Paul McCartney, Elvis Costello und anderen Heroen des Pop. Auf seinen eigenen Alben mischen sich Alte und Neue Musik, Pop und Jazz, World und Elektronik zu unerhörten Klangerlebnissen. Die Kluft zwischen E- und U-Musik kennt John Harle nicht: „Natürlich gibt es Puristen auf beiden Seiten“, sagt er. „Ich gehöre nicht dazu. Ich bin genau in der Mitte. In meinen Teenager-Jahren kurvte ich beständig zwischen Jazz und Klassik. Ich hatte eine ungewöhnliche romantische Jugendphase, in der ich Tschaikowsky mochte, dann plötzlich fand ich, Miles Davis sei das Beste. Also beschloss ich, ein Instrument zu finden, das in beiden Welten zu Hause ist.“
„Rhythmus ist am wichtigsten“
Sie sind Komponist, Dirigent, Pädagoge, Produzent, Musikberater, Labelchef, Noten-Herausgeber, Radiomann... Sehen Sie sich überhaupt noch vorrangig als Saxofonist?
Harle: Ich bin absolut Saxofonist – zuallererst und hauptsächlich. Alles andere, was ich mache, verdankt sich weitgehend meinem Instrumentalspiel. Dies ist das Fundament meines Berufslebens.
Finden Sie denn genug Zeit, um mit dem Saxofon zu arbeiten und aufzutreten?
Harle: Doch, ja! Momentan übe ich drei bis fünf Stunden am Tag – und das sieben Tage die Woche. Genauso wie die Menschen, mit denen ich zusammen bin.
Als Saxofonist kann man leicht Zugang zu verschiedenen Genres finden. Sie interessierten sich schon als Jugendlicher für viele Stilistiken – und das führte Sie zum Saxofon...
Harle: Ja. Ich spielte als Kind Klarinette, aber in meiner Kindheit hörte ich mehrmals Johnny Hodges live mit Duke Ellingtons Band. Das war für mich jahrelang der ideale Sound. Als Teenager traf ich dann Duke Ellington, Russell Procope und Harry Carney persönlich. Diese Begegnung im Jahr 1974 war der Ausgangspunkt für meinen Entschluss, Musiker zu werden.
Welche anderen Saxofonisten im Jazz schätzen Sie?
Harle: Meine momentane Favoriten-Liste würde auf jeden Fall John Zorn, Evan Parker und Michael Brecker enthalten. Diese drei scheinen eine Auffassung von Time und Rhythmus zu haben, die sich von derjenigen anderer Musiker unterscheidet. Und Rhythmus ist einfach die wichtigste Verbindung zwischen Musiker und Publikum.
Haben Sie jemals versucht, Mainstream-Jazz zu spielen, also Chorusse über konventionelle Akkorde zu improvisieren?
Harle: Ja. Ich habe mehrfach mit John Dankworth gespielt und hatte auch meine eigene Band, mit der ich besonders Ellingtons Musik spielte. Aber ich habe zu viel Respekt vor Mainstream- oder Bebop-Musikern, um mich dazuzurechnen. Sie haben ihr ganzes Leben dem Streben gewidmet, sich durch Jazz auszudrücken. Mein Interesse am Jazz war dagegen immer mehr kompositorisch und strukturell als improvisierend.
Es heißt immer, Sie möchten nicht als „Crossover“-Künstler gelten. Was stört Sie an „Crossover“?
Harle: Ich finde, das Wort klingt nach Kompromiss. Aber jedes Mal, wenn ich ein Stück spiele, möchte ich es ganz besitzen und nicht das Gefühl haben, einen Kompromiss zu machen. Ich brauche heute länger, um ein neues Stück zu erlernen, als früher. Dadurch fühle ich mich den neuen Stücken aber eher noch mehr verbunden.
„Saxofonisten gehen Dinge anders an“
Stimmt es, dass der berühmte Klarinettist Jack Brymer Sie zum Saxofon brachte?
Harle: Jack sagte mir, dass ich den Ausdruck, den ich auf der Klarinette suchte, auf dem Sopransaxofon finden würde. Damals war ich 15. Ich habe ihn auch mehrfach Saxofon spielen gehört. Und mit Anfang 20 spielte ich mit ihm im London Symphony Orchestra zusammen.
Hat er Sie auch auf dem Saxofon unterrichtet?
Harle: Nein. Jack hat mich nur die Klarinette gelehrt, aber er ermutigte mich sehr, zum Saxofon zu wechseln. Vielleicht mochte er mein Klarinettenspiel nicht?!
Die Klassikwelt redet über Pianisten und Geiger, nicht über Saxofonspieler. Wird das klassische Saxofon jemals dieselbe Beachtung finden wie eine Geige?
Harle: Ich denke, das Saxofon zieht Musiker an, die die Dinge etwas anders angehen wollen. Daher wird es für das klassische Establishment nie richtig zu fassen sein. Neue Saxofonisten bringen neue Stile und neue Musik mit sich, das Saxofon steht nie still. Da ist es schwer zu verstehen, was das Saxofon eigentlich ausmacht. Deshalb wird es immer danach beurteilt werden, was die neuesten Musiker anbieten.
Viele Saxofonisten hätten gerne Ihre Tonkontrolle und Ihren magischen Klang. Was würden Sie ihnen raten?
Harle: Kommt her und nehmt ein paar Stunden bei mir! Die Entwicklung des eigenen persönlichen Sounds auf dem Saxofon besitzt viele Aspekte. Im Wesentlichen sind das: Bewusstheit, Neugierde, Kreativität, Fleiß und Respekt vor der Geschichte. Von 2012 an werde ich einen neuen einjährigen Meisterkurs in der Nähe von London anbieten, an der Canterbury Christ Church University.
„Ich werde immer noch besser“
Mir scheint, Sie treten nicht mehr so oft auf wie früher.
Harle: Es ist richtig, dass ich zwischen 1995 und 2005 mehr komponiert als gespielt habe. Aber jetzt bin ich wieder absolut am Spielen. Ich finde, dass Mitte 50 ein gutes Alter dafür ist und dass ich noch besser werde. Im letzten Jahr habe ich an meiner schnellen Artikulation gearbeitet und dafür die Aufnahmen von Kenneth Douse und Rudy Wiedoeft studiert. Ich spiele jetzt Sechzehntelnoten bei einem Tempo von 200 bpm, was ich zuvor nicht konnte. Das macht Spaß und ist eine handfeste Fertigkeit. Und es ist natürlich gar nicht so schwer, wie manche es sich vorstellen, wenn man sich erst mal den richtigen Blasdruck und so weiter erarbeitet hat.
Sie haben viele der großen klassischen Saxofonkonzerte gespielt, etwa Debussy, Glasunow, Ibert und Villa-Lobos. Gibt es einen Favoriten?
Harle: Ich denke, es ist der Glasunow, weil er kompositorisch so gut gearbeitet ist. Das Publikum folgt dieser Musik mit größerer Beteiligung als zum Beispiel dem Ibert.
Haben Sie jemals das Konzert von Pierre-Max Dubois gespielt?
Harle: Ich habe es oft gespielt – und es ist fast mein liebstes! Die Introduktion stammt übrigens nicht von Dubois. Und es ist sehr schade, dass die meisten Studenten gerade dort hängen bleiben und nicht weiterkommen. Ihr könnt mit dem Dubois auch dort anfangen, wo im 1. Satz das schnelle Tempo beginnt – dann bleibt ihr trotzdem werkauthentisch!
Harrison Birtwistles Saxofonkonzert „Panic“ bei der „Last Night of the Proms“ 1995 war wohl ein Höhepunkt in Ihrer Karriere. Hat das Stück einen besonderen Platz in Ihrem Herzen?
Harle: Natürlich. Das war ja eine Premiere zeitgenössischer Musik vor 100 Millionen Fernsehzuschauern! Viele Leute waren schockiert, manche Reaktionen erinnerten an die Premiere von Strawinskys „Sacre“. Die Presse ereiferte sich in Hass und Liebe. Perfekt!
Viele bedeutende Komponisten haben neue Werke für Sie geschrieben. Welche dieser Kompositionen sind Ihnen besonders wichtig?
Harle: „Panic“, wie gesagt, aber auch „The Green Ray“ von Gavin Bryars und „The Imagined Sound of Sun on Stone“ von Sally Beamish. Diese beiden sind nachdenklicher, ruhiger. Sie fassen Schönheit in einer ganz anderen Art auf als Birtwistle.
„Sax hat das Saxofon nur wiederentdeckt“
Sie spielen auf dem Saxofon auch Musik von frühen Komponisten wie Frescobaldi und Dowland. Viele Leute empfinden so etwas als „Sakrileg“...
Harle: Konisch gebohrte Rohrblattinstrumente aus Metall gibt es seit dem alten Ägypten. Um mal etwas richtig Streitbares zu sagen: Das Saxofon wurde von Adolphe Sax gar nicht erfunden, sondern nur wiederentdeckt!
In Ihren eigenen Werken verwenden Sie gerne Sänger und Texte. Sind Saxofon und Stimme verwandt?
Harle: Ich setze das Saxofon und die Stimme in meinen Kompositionen mehr oder weniger auf dieselbe Weise ein. Ich habe Stimmbildung als Teil des Saxofonstudiums gelernt – und unterrichte sie auch so. Das Geheimnis ist, sich beim Saxofonspielen die Resonanzkammer nicht unterhalb des Rohrblatts vorzustellen, sondern darüber. Für einen „vokalen“ Saxofonklang ist es entscheidend, dass man sich der Resonanz der Nebenhöhlen bewusst wird. Ein Sänger, zum Beispiel ein Countertenor, benutzt den Ton seiner „Höhlen“.
Sie beschäftigen sich auch mit der Geschichte des Cabaret- und Vaudeville-Saxofons. Was ist das Besondere daran?
Harle: Das „Saxofonfieber“ in den USA der Zwanzigerjahre muss die faszinierendste Phase der Saxofon-Geschichte gewesen sein. Jedem, der sich dafür interessiert, empfehle ich die Lektüre von Bruce Vermazens Buch „That Moaning Saxophone“. Was die Vaudeville-Saxofonisten spielen konnten – und mussten, um leben zu können –, davon können wir alle noch lernen.
Fühlen Sie sich am Sopran-, Alt-, Tenor- und Baritonsaxofon gleichermaßen zu Hause?
Harle: In erster Linie bin ich Sopran- und Altspieler. Ich habe eigentlich immer Führungslinien gespielt. Das hat wohl mit meinem Charakter zu tun, denke ich.
Als Professor beschäftigen Sie sich viel mit der verbalen Kommunikation zwischen Musikern und Nichtmusikern. Was ist daran so interessant?
Harle: Die Fähigkeit, sich in Worten ebenso gut auszudrücken wie am Instrument, ist sehr wichtig – und ist es immer gewesen. Es gehört zur Aufgabe eines Musikers, dass er ein Spezialisten-Thema wie das Saxofon durch deutliche Erklärungen auch Nichtmusikern zugänglich machen kann.
Ich habe gelesen, dass Sie Tinnitus-Probleme hatten. Wie geht es Ihnen damit?
Harle: Mein Tinnitus kommt und geht. Zu viele Rockkonzerte, die ich als Teenager gehört habe, stundenlanges Saxofonspielen: Das alles addiert sich zu einer Art Hörverlust. Am verstörendsten ist es, wenn ich beim Abmischen oder Produzieren von Aufnahmen die höheren Frequenzen nicht hören kann. Mein Sohn – er ist Komponist – muss oft nachprüfen, dass ich nicht aufgrund dieser Hördefizite oberhalb von 12.000 Hertz zu viele Höhen draufgepackt habe.
In einem Saxofon-Blog habe ich den Eintrag gelesen: „John Harle müsste eigentlich der Superstar der Klassik sein. Es ist ihm aber egal, denn er verkauft mehr Alben als alle klassischen Musiker zusammen.“
Harle: Ich habe mich nie groß um Publicity bemüht und möchte es auch nicht tun. Ich wende mich lieber meinem nächsten Einfall oder Projekt zu. Das ist es, was mich lebendig hält.
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CD-Tipps:
Saxofonkonzerte
Saxophone Concertos (EMI 754301). Debussy, Glasunow, Ibert u.a.
Concertos (Decca Argo 433847). Bryars, Nyman, Westbrook
Sax Drive (Decca Argo 443529). Myers, Torke, Rodney Bennett
Earth Dances / Panic (Decca Argo 452104). Mit Birtwistles kontroversem Saxofonkonzert
Recitals u.a.
Terror and Magnificence (Harle 002). Kollektion eigener Werke
The Shadow of the Duke (Harle 004). Tribut an Duke Ellington
John Harle’s Saxophone Songbook (Unicorn Kanchana 9160). Werke von Dowland, Nyman, Prokofiew u.a.
John Harle Plays (Clarinet Classics 0048). Recital mit Werken von Denisow, Rodney Bennett, Woods u.a.
Habanera (Hannibal Ryko 1331). Recital mit Werken von Bartók, Gershwin, Satie u.a./p>
© 2011, 2014 Hans-Jürgen Schaal
© 2011 Hans-Jürgen Schaal |