Schon in seiner Kindheit und noch in seinem letzten Lebensjahr widmete sich der englische Komponist Benjamin Britten (1913-1976) dem Streichquartett. Es spiegelte sein Leben und Schaffen, kommentierte seine Opern-Erfolge und bildete ein spannendes Konzentrat seiner stilistischen Entwicklung.
Kühn und burlesk
Benjamin Brittens Streichquartette
(2013)
Von Hans-Jürgen Schaal
Benjamin Britten war noch keine elf Jahre alt, als er im Herbst 1924 mit seiner Bratschenlehrerin das Triennial Festival in Norwich im Osten Englands besuchen durfte. Dort hörte er unter anderem ein Orchesterwerk von Frank Bridge, „The Sea“ – und dieses Hörerlebnis haute ihn fast um, wie er später erzählte. Drei Jahre danach machte ihn seine Lehrerin sogar mit dem Komponisten persönlich bekannt. Frank Bridge erfüllte dem Jungen seinen größten Wunsch: Er war bereit, ihm Kompositions-Unterricht zu erteilen. Mit sicherem Instinkt hatte Benjamin den Mann gefunden, der ihn aus der romantisch-pastoralen Musiktradition Englands hinausführen sollte in moderne Abenteuer. Denn Bridge war offen für Neues, für die Avantgarde auf dem Kontinent, für Schönberg, Bartók und Strawinsky. Britten war sein einziger Kompositions-Schüler. Der um 34 Jahre ältere Bridge wurde Brittens Förderer und väterlicher Freund.
Als der Unterricht bei Bridge begann, besaß der 14-jährige Britten bereits ein Verzeichnis von mehr als 160 eigenen Kompositionen. Es waren Werke für Klavier, für Stimme, aber natürlich auch für Streicher, darunter eine Hand voll Streichquartette sowie ein Streichoktett. Auch Bridge, der wie sein Schüler Bratschist war, besaß eine Schwäche fürs Streichquartett und ermunterte Brittens Bemühungen in dieser Richtung. In der Anfangszeit bei Bridge schrieb Britten unter anderem ein Streichquartett in F-Dur (1928) und eine „Rhapsody“ (1929) für Streichquartett. Als Britten 1932 – mit 18 Jahren – seine offizielle Opus-Zählung begann, bildete die berühmte „Sinfonietta“ sein Opus 1: ein Werk, das neben fünf Bläsern auch ein Streichquintett oder kleines Streichorchester vorsah und natürlich Frank Bridge gewidmet war. Fünf Jahre später überraschte Britten seinen Lehrer sogar mit „Variations on a Theme of Frank Bridge“ – für Streichorchester. Das Thema war bezeichnenderweise einem Streichquartett von Bridge entnommen.
Berühmt geworden ist Benjamin Britten später vor allem für seine Vokalwerke. Nicht weniger als 16 Opern hat er geschrieben – von „Paul Bunyan“ (1941) bis „Death in Venice“ (1973) –, außerdem zahlreiche Lieder, Kantaten, Hymnen, Messen und sonstige Chorwerke. Dass vieles davon im englischsprachigen Raum sehr populär wurde, verdankt sich Brittens Sinn für literarischen Text, musikalische Dramaturgie, motivische Deutlichkeit und tonale Orientierung. Verglichen mit der Avantgarde des 20. Jahrhunderts mag er zuweilen konservativ wirken, doch unter seinen britischen Zeitgenossen – einem Elgar oder Vaughan Williams – war er sicherlich der Progressivste und Mutigste. Britten war von Mahler beeindruckt, mehr noch von Schostakowitsch, mit dem er befreundet war. 1934 plante er sogar ein Studium bei Alban Berg. Seine „beunruhigend“ große Begabung führte ihn zu einer experimentellen, neugierigen Verspieltheit, einem musikantischen Eklektizismus der Stile. Dazu gehörte zuweilen auch der Hang zum „Auftrumpfen“, wie Adorno es nannte: eine seltsam barocke Festlichkeit. Wer sich an diesem „großspurigen“ Tonfall Brittens stören sollte, ist bei den Streichquartetten genau richtig. Denn auf der Geige lassen sich keine Triumph-Fanfaren spielen. Das sparsame vierstimmige Netz erlaubt keinen Pomp.
Frühwerke
Schon beim 17-Jährigen lieferte das Streichquartett-Format den Schauplatz einer grundsätzlichen Auseinandersetzung. Parallel zum Unterricht bei Frank Bridge studierte Britten nämlich ab 1930 am Royal College of Music in London, wo John Ireland sein Kompositions-Lehrer war. Auf dessen Anweisung schrieb Britten 1931 ein Streichquartett in D-Dur: Ireland lobte es, doch Bridge mochte es nicht, fand es zu traditionell, zu madrigalartig. Daraufhin verbannte Britten dieses Quartett aus seinem Herzen und hat es erst kurz vor seinem Tod – auf Drängen seiner Schüler – revidiert und veröffentlicht. Fast gleichzeitig mit diesem Quartett entstand jedoch auf Bridges Anweisung auch ein dreisätziges „Quartettino“, das in seiner tonalen Kühnheit und seiner gestischen Entwicklung (aus einem fünftönigen Thema heraus) deutlich den Einfluss der Schönberg-Schule verrät. Hier zeigt sich Brittens Talent von seiner radikalen, avantgardistischen Seite. Das mutige Werk wurde erst postum 1983 veröffentlicht.
Zwei weitere Frühwerke für Streichquartett folgten zwischen 1933 und 1936. Die „Simple Symphony“, Brittens Opus 4, entstand, um einige Einfälle aus seinen zahlreichen Kindheits- und Jugendkompositionen ins offizielle Werk zu „retten“. Es sind Themen aus Klavierstücken, die Britten als 9- bis 12-Jähriger geschrieben hatte und die er nun als 20-Jähriger für Streichquartett bzw. Streichorchester bearbeitete. Das Werk ist seiner Bratschenlehrerin Audrey Alston gewidmet, die ihn zu jener Zeit unterrichtet hatte, als diese Melodien entstanden. Der erste und dritte Satz, „Boisterous Bourrée“ und „Sentimental Saraband“, verraten eine frühe Beschäftigung mit barocken Musikformen, während die anderen Sätze belegen, dass der Junge ebenso Mozart und Beethoven schon mit Gewinn gehört hat. Das Scherzo „Playful Pizzicato“ ist in der Orchesterversion auch bei Zupforchestern beliebt.
Ebenfalls zurück in die Jugend blicken die 1936 veröffentlichten „Three Divertimenti“. Ursprünglich – 1933 – hatte Britten eine fünfsätzige Suite für Streichquartett geplant, angeregt von Erinnerungen an verschiedene Schulkameraden und ihre besonderen Talente; am Ende beließ er es aber bei drei Sätzen. Der einleitende Marsch beschreibt einen fürs Turnen begabten Schüler und pendelt dabei zwischen strengem Heroismus, mutwilligen Glissandi und überraschender Anmut. Übergänge zwischen vorgeblichem Ernst und glissandierendem Übermut bietet auch die abschließende „Burlesque“, angeregt von einem Mitschüler, der durch Streiche und Unfug auffiel. Beide Sätze eignen sich übrigens als tumultuöse, mitreißende Zugaben. Das mittlere Divertimento – ein eher verhaltener Walzer im Gedenken an ein Party-Talent – sorgt für einen sanfteren Gegenpol. Eine frühe Alternative zum einleitenden Marsch-Satz – ähnlich wechselvoll und explosiv, aber mit anderem Themen-Material – bietet das Quartettstück „Alla Marcia“ von 1933. Britten, der überzeugte Pazifist, liebte Märsche – boten sie doch eine willkommene Möglichkeit, das Heroische ins Groteske zu verfremden. Strawinsky hat es vorgemacht.
Abschied von Bridge
Sein erstes „offizielles“ Streichquartett, Opus 25, präsentierte Britten 1941. Es war das Jahr, als sein Förderer und Lehrer Frank Bridge starb, während sich Britten im weit entfernten Kalifornien aufhielt. Denn zusammen mit seinem Lebensgefährten, dem Tenor Peter Pears, war Britten 1939 in die USA ausgewandert. Bridge hatte ihm als Abschiedsgeschenk seine eigene Bratsche mit auf den Weg gegeben. Das Streichquartett – wiederum in D-dur – entstand während der ersten Vorarbeiten für „Peter Grimes“, Brittens zweite Oper. Unschwer erkennt man im ersten und dritten Satz Klänge, die auf zwei der „Four Sea Interludes“ vorausweisen: Britten komponierte diese Orchesterstücke als Zwischenspiele für „Peter Grimes“ (op. 33) und hat sie dann auch als Orchestersuite zusammengestellt (op. 33 a). Der enge Bezug zu Bridges viersätzigem Werk „The Sea“, das Britten als 10-Jähriger gehört hatte, ist unüberhörbar und reicht bis in die Satztitel hinein. Es liegt auf der Hand, dass auch Brittens Streichquartett Nr. 1 in dankbarer Erinnerung an seinen Lehrer entstand.
Der erste Satz wechselt – mal plötzlich, mal allmählich, aber immer sehr effektvoll – zwischen den irisierenden „Meeresklängen“ der Morgendämmerung (Andante sostenuto) und kräftigen Allegro-Teilen. Der dritte Satz, der Brittens späteres Mondlicht-„Interlude“ vorausahnt, beschwört im Fünfvierteltakt eine ewige Wellenbewegung, scheinbar unerschütterlich durch Tragik oder Glück. Beiden „See“-Impressionen folgt jedoch jeweils ein kurzer, schroffer, durchaus humorvoller Satz. Im Scherzo-Allegretto, das an Schostakowitsch erinnert, verdichten sich nach und nach die dramatischen Figuren über einem motorischen Puls. Durch das verspielte, immer wieder neu ansetzende Finale zieht sich hingegen ein sperriges, signalartiges Thema. Jeder dieser vier Sätze ist so charakteristisch und eigenwillig, dass man das Quartett als ein kurzweiliges Divertimento hören könnte.
Verbeugung vor Purcell
Womöglich noch eindrucksvoller ist Brittens tief ernstes, hoch expressives Streichquartett Nr. 2 in C-dur, op. 36, aus dem Jahr 1945. Es entstand in der produktivsten Phase des Komponisten, nachdem er im Vorjahr aus den USA nach England zurückgekehrt war. Die erfolgreiche Uraufführung von „Peter Grimes“ in London und Konzertauftritte mit Yehudi Menuhin vor KZ-Überlebenden bewegten und inspirierten ihn bei der Arbeit. Auch entwickelte Britten zu dieser Zeit ein verstärktes Interesse am Komponisten Henry Purcell (1659-1695), den er für den Gipfelpunkt der englischen Musikgeschichte hielt. Ein Jahr später sollte er über ein Thema von Purcell eines seiner berühmtesten Werke komponieren, die Variationenfolge „A Young Person’s Guide to the Orchestra“. Das Entfalten immer fantastischerer Variationen über eine ostinate Basslinie – etwa in der Form einer Chaconne oder Passacaglia – faszinierte ihn zunehmend.
Im Zweiten Streichquartett scheint Brittens Fantasie auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen geradewegs zu explodieren. Der Kopfsatz – in ausgedehnter Sonatenhauptsatzform – streunt rhapsodisch-souverän umher und lässt in der knappen Durchführung alle tonalen Fesseln hinter sich. Auch das rastlose Scherzo (in Moll) wirkt entschlossen und ernst: Das Cello intoniert das Thema, der Trio-Teil erklingt düster mit Dämpfern, Schostakowitsch ist nicht fern. Jedes Maß sprengt schließlich der dritte und letzte, mehr als viertelstündige Satz, eine überwältigende Chaconne als Hommage an Purcell. Die 21 sich steigernden Variationen gliedern sich dabei in vier Gruppen, die man wiederum als vier Sätze einer kleinen Sonate auffassen könnte und die durch Zwischenkadenzen voneinander abgesetzt sind. Der anfängliche barocke Anklang verliert sich bald in immer freieren, mutigeren und dissonanteren Ausgestaltungen. Die Hommage an die Vergangenheit ist zugleich ein monumentaler Neubeginn.
Ein Alterswerk
Gehört das Zweite Streichquartett zu Brittens wichtigsten Kompositionen, so ist das Dritte – genau 30 Jahre später entstanden – sein letztes umfangreiches Werk überhaupt. Es ist ein Alters-, ein Sterbens-, ein Abschiedswerk, das wir vielleicht nur dem Umstand verdanken, dass Britten nach seiner Herzoperation bereits zu geschwächt war, um noch eine Komposition für eine große Besetzung in Angriff zu nehmen. Eine Anfrage des Amadeus-Quartetts gab den Anstoß; der Tod des langjährigen Freundes Dmitrij Schostakowitsch im August 1975 bot den Anlass; Brittens letzte Oper, „Death in Venice“, lieferte die Inspiration. Anklänge an Schostakowitsch, aber auch an Mahlers todesnahe 9. Sinfonie, dazu Bezüge zum morbiden Venedig und zur Musik der Todes-Oper: Der Tod ist in diesem Werk als Sujet allgegenwärtig.
Dennoch ist das Streichquartett Nr. 3 in G-dur, op. 94, ein wunderbar abwechslungsreiches, fast suitenartiges Werk geworden. Die fünf Sätze bilden eine symmetrische Bogenform, in deren Mitte ein leises, anrührendes Solo der Violine steht, ganz sparsam begleitet. Direkt davor und danach hören wir die zwei kürzesten Sätze: Es sind grell-abgründige, fast zynische Scherzi. Das eine („Ostinato“) basiert auf einer schrillen, großintervalligen Vier-Ton-Figur, das andere („Burlesque“) erinnert – sicherlich nicht zufällig – an Schostakowitschs und Mahlers heftig-sarkastische Verfremdungen des Trivialen. Im Kopfsatz („Duets“) scheint sich das Quartett erst zusammenzufinden: Alle denkbaren Duett-Kombinationen werden hier ausprobiert. Im Schlusssatz dagegen kulminiert das ganze Werk: Er handelt von Venedig („La Serenissima“), verarbeitet die wichtigsten Themen aus Brittens Tod-in-Venedig-Oper und sogar das Glockenläuten in der Stadt. Britten schrieb den Finalsatz vor Ort. Natürlich wählte er dafür noch einmal eine seiner geliebten Variationenformen, die Passacaglia. Die Uraufführung durch das Amadeus-Quartett hat er nicht mehr erlebt.
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Benjamin Brittens Werke für Streichquartett (Auswahl)
Quartettino
(1930, UA 1983: Arditti Quartet)
Streichquartett in D-dur
(1931, rev. 1974, UA 1975: Gabrieli String Quartet)
Three Divertimenti
(1933, rev. 1936, UA 1936: Stratton Quartet)
Simple Symphony
(1934, UA 1934 [Amateur-Streichorchester])
Streichquartett Nr. 1 in D-dur, op. 25
(1941, UA 1941: Coolidge Quartet)
Streichquartett Nr. 2 in C-dur, op. 36
(1945, UA 1945: Zorian Quartet)
Streichquartett Nr. 3 in G-dur, op. 94
(1975, UA 1976: Amadeus-Quartett)
© 2013, 2014 Hans-Jürgen Schaal
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