Mit 18 Jahren ging sie als Saxofon-Anfängerin via Berlin nach London, um erste Jazz-Erfahrungen zu sammeln. Die Frau aus dem Münsterland studierte u.a. bei Dave Liebman, Stan Sulzman und Jean Toussaint und entwickelte sich zu einer der gefragtesten Musikerinnen der vitalen Londoner Szene. Ihrem Debütalbum auf Candid (1997) folgten bald Preise und Stipendien, u.a. von der British Telecom, der BBC und der Arts Foundation. Erst 2009 wurde sie auch in Deutschland ausgezeichnet – mit dem SWR Jazzpreis für eine der „eigenwilligsten und kreativsten Künstlerinnen“ des deutschen (!) Jazz. 2008 zog Ingrid Laubrock von London nach Brooklyn.
Ingrid Laubrock
„Ich bin ein Produkt der Londoner Szene“
(2011)
Von Hans-Jürgen Schaal
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Du kommst aus einer musikalischen Familie und warst von klein auf gewohnt, Musik vor Publikum aufzuführen. War das eine Hilfe, um musikalisch mutig zu werden?
Ingrid Laubrock: Das war es auf jeden Fall. Ich war als Kind immer sehr froh, wenn ich vor Leuten spielen konnte. Als ich mich als Teenager für Jazz zu interessieren begann, schlug das allerdings total ins Gegenteil um: Ich fing an zu begreifen, wie limitiert meine musikalische Ausbildung doch war, die sich bis dahin auf klassische Musik beschränkt hatte. Das hat mich zunächst eingeschüchtert. Erst als ich anfing Saxofon zu spielen, begann ich mich etwas zu befreien. Dann habe ich den Spaß am Lernen sehr schnell wiederentdeckt.
Wie reagierten deine Eltern auf deine Entschlossenheit: London und Jazz?
Ich habe mich immer sehr unterstützt gefühlt. Meine Eltern lieben Musik und kommen auch jetzt noch zu meinen Konzerten. Manchmal befremdet es sie, aber sie versuchen sich immer in die Musik hineinzufühlen, was ich sehr schätze.
Wann hast du zum ersten Mal in ein Saxofon geblasen?
Da war ich 16 oder 17 Jahre alt. Ich habe mich da ziemlich auf dem Horn ausgetobt ohne zu wissen, was ich tue. Dann ist das Saxofon aber nach ein paar Monaten von einem Bus überfahren worden ¬– und das war es erst mal. Erste Inspirationen zu der Zeit waren Steve Coleman, Cannonball Adderley und John Coltrane.
Was zog dich später vom Altsaxofon mehr zum Tenor- und Sopransaxofon hin?
Dadurch, dass ich eine Zeit lang viel transkribiert habe, hat das Tenorsaxofon etwas mehr Zuwendung bekommen. Ich habe mich in Sonny Rollins, Dexter Gordon, Lester Young und John Coltrane sehr hineingehört. Ich spiele aber auch viel Sopransaxofon. Es ist nur leider oft nicht möglich, beide Instrumente im Flugzeug mitzunehmen.
Siehst du dich künstlerisch als ein Gewächs der Londoner Szene?
Ich bin in London als Musikerin großgeworden und habe dort viel von meinen Kollegen gelernt – sowohl im Jazz wie auch in brasilianischer, kubanischer und frei improvisierter Musik. Ich bin gewissermaßen ein Produkt der Londoner Szene. In den letzten Jahren hat es mich dann immer mehr zur improvisierten Szene in London hingezogen, weil sie sehr persönlich ist und es da viele Musiker mit viel Charakter gibt, die nicht versuchen, die Amerikaner zu imitieren.
Seit den 90er-Jahren wurdest du in England mehrfach ausgezeichnet. Hattest du über die Jahre das Gefühl, dass man dich in Deutschland überhaupt wahrnimmt?
Nein, überhaupt nicht. Das Darmstädter Jazzinstitut hat mich 2007 eingeladen und gleichzeitig eine Rundmail an ungefähr 100 Clubs geschickt – wir haben dennoch nur in Darmstadt und Nürnberg gespielt. Erst die CD „Sleepthief“, die bei Intakt herauskam, und ein Auftritt beim Berliner Jazzfest haben dann viel geholfen.
Mir scheint oft, dass die Londoner Szene ein Kosmos für sich ist.
Ich glaube, der Kanal zwischen England und dem Rest von Europa ist immer noch eine psychologische Grenze. Englische Musiker werden von deutschen Veranstaltern oft vergessen. Gleichzeitig bezeichnen die meisten Engländer den Rest von Europa immer noch als „Europe“ und beziehen da Großbritannien gar nicht ein.
Nóis (die Band der brasilianischen Sängerin Monica Vasconcelos) und das F-IRE Collective waren wohl die prägenden musikalischen Erfahrungen in deinem ersten Jahrzehnt in London?
Ich habe durch alle möglichen Arten von Musik Erfahrungen gesammelt. Ich fing ja spät an und ohne Instruktion, da bin ich halt von einer Sache auf die andere gestoßen. Brasilianische Musik war sehr interessant, da sie lange Formen, viele und ungewöhnliche Harmonien und interessante Rhythmen hat. Außerdem sind die Texte teilweise unheimlich gut. F-IRE hat mir viel Gemeinschaftsgefühl gegeben. Wir haben viel zusammen geübt, ich habe Sachen gelernt, die vom Mainstream-Jazz wegführen, etwa verschiedene Kompositionskonzepte und afrikanische Musik.
Allaboutjazz.com nennt dich “a new saxophone colossus”. Das ist ein großer Titel, der an Sonny Rollins denken lässt...
Ich nehme von dem, was die Presse über mich schreibt, nicht allzu viel Notiz (sorry!). Es ist für mich eine andere Welt.
Deine Musik wirkt trotz aller komplexen Vorgaben nie wirklich verkopft. Man hat immer das Gefühl: Sie kommt aus der Empfindung, aus dem Hören. Was leitet dich?
Auf jeden Fall Hören, Interaktion, Vorstellung – oder hoffentlich Fantasie –, Empfindung und ein Gespür fürs Detail wie fürs große Ganze, also ein Formgefühl. Ich fühle mich mit den meisten Musikern, mit denen ich spiele, in diesen Bereichen auf derselben Wellenlänge. Wichtig ist mir, dass die Musik immer wieder aufgefrischt wird: dass sie nicht immer auf den gleichen Schienen läuft, auch wenn Kompositionsvorlagen da sind.
Man hört bei dir ungewohnte Stimmungen, Tonfälle und Klangräume. Holst du dir dabei Anregungen aus der modernen Kammermusik?
Ich höre sehr viel Musik des 20. Jahrhunderts als Inspiration, zum Beispiel Ligeti, Feldman, Varese. Vor einigen Jahren bin ich durch meine Arbeit mit dem Continuum Ensemble auf George Aphergis gestoßen. Seine Musik hat mir die Ohren für Vierteltonmusik geöffnet. Es hat eine Weile gedauert, bis ich es überhaupt hören konnte, es war ein ganz neues Reich der Dissonanz. Ins Rhythmische übertragen mag ich Polyrhythmen – und ich mag es, in kleineren Abstufungen „zwischen“ den Taktschlägen zu spielen.
Wie hat sich dein Zusammenspiel mit dem Pianisten Liam Noble verändert, als Tom Rainey dazukam und daraus das Trio Sleepthief wurde?
Liam und ich haben früher eher Standards gespielt und einige Stücke frei improvisiert. Mit Tom improvisieren wir nur noch, das befreit natürlich. Für die CD haben wir weder Vorgaben gehabt noch Absprachen. Wir haben ein paar Stücke aufgenommen, sind für zehn Minuten nach draußen gegangen und haben Frisbee gespielt – und dann ging es weiter. Es gab nur ein Stück mit einer kleinen Vorgabe: Da haben wir uns überlegt, spielend aus drei unterschiedlichen Richtungen im Raum aufeinanderzustoßen.
Du bist 2008 von London nach New York gezogen. Was brachte dich dazu?
Mein Umzug hatte ursprünglich private Gründe. Mittlerweile fühlt es sich aber an, als ob ich nach Hause fliege, wenn es wieder nach New York geht. Gleichzeitig bin ich noch in Projekten mit Londonern beschäftigt und freue mich, mehrmals im Jahr ein paar Wochen dort zu verbringen. Aber momentan pendle ich mehr zwischen New York und Europa.
Mir scheint, dass du in die Improv-Szene von New York blendend hineinpasst.
Ich fühlte mich von Anfang an musikalisch sehr akzeptiert und aufgenommen. Ich habe in New York mit sehr vielen wirklich interessanten Musikern gespielt und bin immer wieder überrascht, wie vielseitig die meisten dort sind, ohne ihre Persönlichkeit zu verlieren. Es gibt eine unglaubliche Energie für Musik.
Bei Anti-House spielen mit Mary Halvorson und Kris Davis gleich zwei richtungsweisende Frauen der New Yorker Improv-Szene mit. Sind die Frauen im Jazz dort weiter als in London?
Ich denke, es gibt immer mehr Frauen, die sich auf der Jazzszene durchsetzen und ernst genommen werden, sowohl in Europa wie in den USA. New York ist allerdings ein besonderes Pflaster: Die Konzentration guter Musiker ist dort insgesamt sehr hoch – Frauen und Männer.
Kritiker haben dich schon mit vielen Saxofonisten verglichen – von Lee Konitz bis David S. Ware. Kannst du beide Vergleiche nachvollziehen?
Sicherlich kann man den Einfluss der Saxofonisten, die ich viel gehört habe, auch irgendwo heraushören: Wayne Shorter, Sonny Rollins, Steve Lacy, John Coltrane, Sam Rivers. Aber David S. Ware habe ich kaum gehört. Es gibt halt einige Sachen, die stecken in einem Tenorsaxofon drin und werden in ähnlicher Form von verschiedenen Saxofonisten herausgespuckt. Und Lee Konitz? Mir wurde schon gesagt, ich hätte etwas von Lee Konitz, als ich ihn noch gar nicht kannte. Es gibt da vielleicht eine innere musikalische Verwandtschaft.
Du hast einmal gesagt, deine Musik würde immer “weirder“. Woher nimmst du deinen Mut, deinen Eigensinn?
Ich finde mich weder besonders mutig noch eigensinnig. Aber ich erlaube mir mittlerweile, in der Musik zu tun, was ich will, und lasse mich nicht vom Weg abbringen. Wer weiß, vielleicht hilft mir der sprichwörtliche westfälische Dickschädel dabei.
Zwei Dekaden Deutschland, zwei Dekaden London, jetzt New York. Wirst du in 20 Jahren in Shanghai wohnen und arbeiten?
Hawaii??
© 2011, 2015 Hans-Jürgen Schaal
© 2011 Hans-Jürgen Schaal |