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Ein ruhiger, langsamer, fast sprachloser Film – und ein komischer, trauriger, anrührender. 2004 kam „Schultze gets the blues“ in unsere Kinos. Buch und Regie: Michael Schorr. In der Hauptrolle des Hobby-Akkordeonisten Schultze: Horst Krause, der dicke Polizeihauptmeister aus „Polizeiruf 110“. Gedreht in Sachsen-Anhalt, Texas, Louisiana; vielfach ausgezeichnet in Stockholm, Gijon, Paris, Pescara, Venedig, Berlin; nicht nur Akkordeon-Freunden empfohlen.

Schultze gets the blues
Eine Liebeserklärung ans Akkordeon
(2010)

Von Hans-Jürgen Schaal

Ein Bergarbeiter-Dorf in Sachsen-Anhalt. Flaches Land, viele Fahrräder, Landwirtschaft, Bahnschranke, Eisenbahnbrücke, Laubenkolonie, Motocross-Rennen, Windkrafträder, tiefste Provinz. Die einzige Erhebung: eine Abraumhalde, fast romantisch. Der ehemalige Bergarbeiter Schultze trinkt Bier, putzt seine Gartenzwerge und spielt ein wenig Akkordeon, ein altes Modell von Weltmeister. Schultze spielt immer dasselbe Stück – wie einst sein Vater. „Du wirst doch wieder deine traditionelle Polka spielen?“, heißt es vor dem Jubiläumsfest des Musikvereins „Harmonie“. Einer sagt: „Man sollte sie langsam in ‚Schultzes Polka’ umbenennen.“ „Schultzes Polka“: Der Musiker Thomas Wittenbecher hat das Solostück für den Film komponiert und selbst eingespielt, der Schauspieler Horst Krause mimt nur. Wäre da nicht die unerwartete harmonische Rückung im Mittelteil, man könnte das Stück wirklich fast für eine traditionelle Polka halten.

Doch bevor Schultze dem Vorruhestands-Blues erliegt, findet er den echten Blues. Im Nachthemd steht er am Radio, dort ist von Lungenkrebs bei Bergarbeitern die Rede, unwillig kurbelt er weiter, stößt bei der Sendersuche auf eine seltsam andersartige Akkordeonmusik, lauscht, schaltet ab, schaltet wieder ein, lauscht erneut, schaltet wieder ab. Er schnallt sich sein Weltmeister um und versucht das Stück nachzuspielen, langsam erst, dann immer virtuoser. „Zydeco from 1988“: Das Instrumentalstück aus dem Radio – zwei ständig wiederholte Phrasen mit starkem Backbeat, eingestreuten Breaks und lauten Rufen des Bandleaders – ist eine Aufnahme der legendären afroamerikanischen Formation Zydeco Force. Der kreolische Akkordeonist Jeffery Broussard hat mit dieser Band in den Achtzigerjahren kräftig zur Renaissance der Zydeco-Musik aus Louisiana beigetragen. Sein Bassist, Robbie Robinson, schrieb das Stück. Zydeco from 1988 zieht sich wie ein Refrain durch den Film: Gegen Ende sieht man die Band Zydeco Force selbst, wie sie das Stück live zum Tanz spielt, und ganz zum Schluss hört man es sogar in einer gewagten Bläser-Version.

Der Arzt beruhigt Schultze: Ein sich verändernder Musikgeschmack sei kein Krankheits-Symptom. „Seien Sie doch froh, dass in Ihrem Leben noch was passiert.“ Schultze hat einen neuen Lieblingssender: Er schnappt dort auch ein kreolisches Kochrezept auf, kocht eine scharfe Jambalaya nach Radio-Anleitung und lädt seine Freunde zum Essen ein. „Was gibt es denn?“ – „Ein amerikanisches Gericht... aus den Südstaaten.“ Beim Kochen und Essen hört man im Hintergrund aus dem Radio: Musik des kreolischen Geigers Keith Frank (1930-2005), dann ein Stück von Clifton Chenier, gespielt von den Carrière Brothers (Bébé: Geige, Eraste: Akkordeon), schließlich „Mon bon vieux mari“ von der Cajun-Pionierin Cléoma Falcon (1906-1941), am Akkordeon begleitet von ihrem Mann Joe. Doch in Schultzes anhaltinischem Dorf teilt man seine Begeisterung für die rhythmische Südstaaten-Musik nicht unbedingt. Im Altenheim erntet er mit seiner Soloversion von „Zydeco from 1988“ apathisches Schweigen. Im Musikverein: „Ich weiß nicht, was dein Vater dazu sagen würde.“ Nach seinem Festauftritt ruft einer sogar: „Negermusik!“ Nur die Freunde feiern ihn: „Auf die Negermusik! Auf Schultze!“

Schultzes Leben verschiebt sich unmerklich ins Märchenhafte, sogar die Frauen beginnen mit ihm zu flirten. Eine von ihnen, eine Flamenco-Tänzerin, schenkt ihm ein Buch über die „Kings of Swamp Music“, die berühmtesten Cajun- und Zydeco-Musiker aus Amerikas Süden. Eine andere, die eben noch vitaler Unruheherd im Altenheim war, stirbt überraschend – und Schultze widmet ihr an ihrem Grab ein kleines Solostück auf dem Akkordeon. „Schultzes Ballade“: ein einfaches Motiv mit einer Wellenbewegung im Bass, beinahe könnte es ein langsam gespielter Zydeco sein. Auch dieses Stückchen wurde von Thomas Wittenbecher speziell für „Schultze gets the blues“ geschrieben und aufgenommen. Am Ende des Films hört man es ebenfalls von einer Blaskapelle gespielt, wieder auf dem Friedhof.

Schultze nimmt Jobs an und spart auf eine Reise nach Louisiana, doch das Geld reicht nicht. Da beschließt der Musikverein, ihn als Delegierten zum Wurstfest der amerikanischen Partnerstadt zu entsenden: nach New Braunfels in Texas. Die Szenerie wandelt sich: Bayou Country. Wir hören die bluesige „Valse qui me porte en terre“, ein weiteres historisches Stück der Falcons, eine knisternde Aufnahme von 1928. Cléomas Stimme und Joes Akkordeon führen abwechselnd. Man hört sogar das Knistern noch, als die Musik schon zu Ende ist. Doch mit solcher Südstaaten-Musik hat das texanische Wurstfest nichts am Hut. Im „Spass Haus“ von New Braunfels wird zwar auch auf dem Akkordeon musiziert, aber es erklingen da „Mei Vata is a Appenzeller“, „La Paloma“ und die deutsche Nationalhymne. Stumm packt Schultze sein Weltmeister wieder ein, ohne gespielt zu haben. Währenddessen sagen seine Freunde zu Hause, geplagt vom Vorruhestands-Blues: „Der Schultze hat’s richtig gemacht. Der nimmt jetzt eine Platte auf. Dann wird er Millionär und spricht kein Wort mehr mit uns.“

Schultze sucht inzwischen sein Wunderland, die Heimat von Cajun und Zydeco. Er spricht zwar kein Wort Englisch, aber er erobert ein kleines Motorboot mit Dach, hellblau und herrenlos, und tuckert damit von Texas nach Louisiana. Es kommt zu wilden Begegnungen, von denen er daheim noch nicht einmal träumen konnte. Auch die Bobby Jones Czech Band läuft ihm über den Weg, eine fröhliche Blaskapelle mit Tuba, Akkordeon und viel Schnaps. „Shiner Song“, auch „Farewell To Prague“ genannt, ist ein Polka-Evergreen in Texas – spätestens seit Adolph Hofner (1916-2000), dem legendären tschechischstämmigen Country- und Western-Swing-Musiker.

Dann: Schultzes erste leibhaftige Begegnung mit der Cajun-Musik. Ein einsamer Fiedler (Elton „Bee“ Cormier) steht vor einem Tanzlokal und begrüßt mit seinem Spiel die Gäste. Man spricht dort ein seltsames Französisch: das Patois der Cajuns (Cadiens), die über die Zwischenstation Kanada ursprünglich aus Nordfrankreich kamen. Drinnen tanzt ein in die Jahre gekommenes Publikum zum stampfenden Walzer „Le Chemin de Gravois“, einer Komposition des texanischen Sängers Ivy Dugas. Es spielt der preisgekrönte Akkordeonist Jackie Caillier mit seinen Cajun Cousins: Man sieht das kleine Cajun-Akkordeon (eine diatonische Knopfharmonika) und hört dazu die Steel Guitar heulen. Auch der dicke Schultze fängt an zu tanzen.

Schultzes letzte Station, endlich wird er fündig. Er dockt mit seinem Boot an einem Holzhaus an, mitten im Wasser. Eine schwarze Frau wohnt dort mit ihrer kleinen Tochter, auch einen weißen Kakadu gibt es. Die Frau lädt Schultze zum Krebsessen ein, zum Bleiben, ganz natürlich, die fremde Sprache ist hier kein Hindernis. Die Frau nimmt ihn sogar mit zu einer Tanzveranstaltung, dort spielen die Zydeco Force, sie spielen „Zydeco from 1988“, das Stück, mit dem alles begann, zwei ständig wiederholte Phrasen mit starkem Backbeat, eingestreuten Breaks und lauten Rufen des Bandleaders. Deutlich sieht und hört man das Waschbrett, das „scrub board“, das als Perkussions-Instrument dient. Es ist – neben dem Akkordeon – das Wahrzeichen des kreolischen Zydeco-Stils, der, inspiriert von Blues und Rock’n’Roll, irgendwann im 20. Jahrhundert aus der Cajun-Musik entstanden ist. Schultze tanzt wieder und er hustet –: seine Bergarbeiter-Lunge. Später wird weitergefeiert auf der Dachterrasse des Hauses mitten im Wasser, Schultze schläft unterm Sternenhimmel ein, umgeben vom stillen Spiegel des Bayous, zugedeckt wie ein kleines Kind. Er sieht Traumbilder. Er hustet noch einmal im Schlaf. Schultze ist angekommen. Schultze ist glücklich.

© 2010, 2016 Hans-Jürgen Schaal


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