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Er war der Mann für die rasanten, exzentrischen Szenen in Walt Disneys Zeichentrickfilmen. Auch in seiner Freizeit ließen ihn Rhythmus und Tempo nicht los: Ward Kimball (1914 bis 2002) leitete nebenher die erfolgreichste Dixieland-Band Amerikas.

Zeichentrick und Dixieland
Ward Kimball liebte es schnell und schrill
(2013)

Von Hans-Jürgen Schaal

Wie macht man aus einem hässlichen Insekt eine niedliche Zeichentrickfigur? Ward Kimball erinnert sich: „Die Grille war anfangs wie eine kleine schwarze Heuschrecke gezeichnet und die Aufgabe bestand darin, sie zu einer Figur zu machen, die Walt [Disney] akzeptieren würde. Das war ein schwerer Job, weil die Grille eigentlich wie eine Kakerlake aussah. Jedes Mal, wenn ich zu ihm raufging, runzelte Walt die Stirn und sagte ‚Er ist nicht niedlich genug’ oder etwas Ähnliches. Ich machte 12 oder 14 Versionen und nahm nach und nach die ganzen Anhängsel weg. Am Ende wurde daraus ein kleiner Mann in einer Art Gehrock, die man als Flügel auffassen konnte. Mit Kragen, Zylinderhut und Schirm, das Gesicht ist ein Ei mit Wangen. Keine Ohren, dafür zwei Striche am Kopf, die an Fühler erinnern, und die Nase. Wenn sein Mund zu nahe an der Nase ist, sieht er aber zu niedlich aus. Der Mund funktioniert als Achse. Man darf da keinen Micky-Maus-Mund zeichnen. Das Publikum akzeptiert ihn nur als Grille, weil die anderen Figuren sagen, er sei eine.“

Im Zeichnen hatte Ward Kimball schon als Kind seine Zuflucht gefunden. Als Siebenjähriger entdeckte er bei der Großmutter die Comic-Strips in der Zeitung: „Diese frühe Liebesaffäre mit Comic-Strips inspirierte mich damals, meine eigene ‚Sonntagszeitung’ zu machen.“ Er stürzte sich wie wild aufs Zeichnen und Karikieren und erhielt nach der Highschool tatsächlich ein Stipendium an der Kunstakademie. Nur wenig später sah er seine ersten Disneyfilme – „Father Noah’s Ark“ und „Three Little Pigs“ – und war schlichtweg überwältigt. Irgendwie konnte er seine Eltern überreden, ihn nach Los Angeles zu den Disney-Studios zu fahren, um dort seine Skizzenbücher zu präsentieren. Kurz nach seinem 20. Geburtstag erhielt Ward Kimball eine Anstellung bei Walt Disney. Das war 1934.

Ein Genie des Bizarren

Ward Kimball wurde einer der legendären „Nine Old Men“ der Disney-Studios, die bei den Filmprojekten als Supervisoren fungierten. Er profilierte sich dabei als der Progressivste, der Avantgardist, der originäre Künstler, der immer wieder neuartige Konzepte vorschlug und erprobte und oft genug dabei ausgebremst wurde. Dennoch waren es vor allem seine Ideen, die die stilistische Entwicklung der Disney-Welt vorantrieben: „Vor allem musste man Geduld haben.“ Tatsächlich war das Arbeiten für Disney keineswegs so lustig wie die animierten Ergebnisse. Die Zeichner lieferten sich einen heftigen Konkurrenzkampf um die Gunst des oft schwierigen Firmenleiters. Nachdem es die von Kimball erstellten Szenen für Disneys ersten Langfilm „Schneewittchen“ (1937) nicht in die Kinofassung geschafft hatten, war der Zeichner sogar kurz davor, seine Stelle zu kündigen. Doch Walt Disney hatte Kimballs Talent fürs Ungewohnte, Bizarre und Exaltierte erkannt und vertraute ihm für den zweiten Langfilm Pinocchio (1940) die Entwicklung einer wichtigen Figur an: Jiminy Cricket, die Grille, die Pinocchio über das Leben aufklärt. „Unter den Männern, die für mich arbeiten, ist Ward Kimball einer, den ich bereit bin, ein Genie zu nennen“, meinte Disney.

Die Animation des Jiminy Cricket war Kimballs erstes Meisterwerk. Es folgten unter anderem der Bacchus in Fantasia, die Krähen in Dumbo, die Song-Sequenz in den Three Caballeros“, verschiedene Tierfiguren in Cinderella und etliche Charaktere in Alice in Wonderland, darunter Tweedle-Dee und Tweedle-Dum und Cheshire Cat. Die von Kimball animierten Szenen begeistern durch ihr verrücktes Tempo und Timing, ihre präzise Exzentrik, ihre schräge Karikatur. Um seinen künstlerischen Spaß am Bizarren auszuleben, suchte sich Kimball allerdings immer wieder neue Freiräume innerhalb des Disney-Imperiums. In den Kriegsjahren stürzte er sich auf die Animation von Kurzfilmen, später verantwortete er die Produktion der TV-Serie Man in Space, übernahm Drehbuch- und Regie-Aufgaben und beriet – als Eisenbahn-Fan – Walt Disney bei der Gestaltung seines Themenparks. Und in seiner Freizeit startete er das Unternehmen Firehouse Five Plus Two.

Die Feuerwehr ist da!

Die Geschichte der musikalischen Feuerwehrmänner begann irgendwann in den 1940er-Jahren. „Einige von uns im Disney-Studio pflegten sich in der Mittagspause in meinem Büro zu versammeln“, erzählt Kimball. „Wir hörten meine Schallplatten von Jazzlegenden wie King Oliver, Baby Dodds, Jelly Roll Morton und Louis Armstrong. Da die meisten von uns Liebhabern des Oldtime-Jazz früher in der Schule Musikinstrumente gespielt hatten, beschlossen wir, so richtig in die Musik einzutauchen, indem wir zu den Schallplatten mitspielten. Eines Tages aber ging der Plattenspieler kaputt – mitten im ‚Royal Garden Blues‘. Unerschrocken spielten wir weiter und entdeckten zu unserer Überraschung, dass wir ganz allein auch ziemlich gut klangen!“

Die so entstandene Hobby-Formation – Kimball war ihr Posaunist und Bandleader – nannte sich zunächst „Huggajeedy Eight“, dann „San Gabriel Valley Blue Blowers“. Ihren endgültigen Namen aber fand die Band dank eines Oldtimer-Corsos von Los Angeles nach San Diego, für den sie um ihre musikalische Mitwirkung gebeten wurde. Auf der Suche nach einem Oldtimer, der der ganzen Band Platz bot, stieß Kimball auf einen Feuerwehr-Einsatzwagen der Marke American LaFrance, Baujahr 1914. Kimball setzte das Fahrzeug nicht nur selbst instand, sondern passte auch das Image der Band entsprechend an: Disneys Hobbymusiker kleideten sich als Feuerwehrmänner und nannten sich fortan griffig die Firehouse Five. „Das ‚Plus Two‘ setzten wir dazu, damit die Leute, die uns engagieren, wissen, dass sie sieben Musiker kriegen“, so „Firechief“ Kimball. Der Einsatz von Feuerwehrglocken und Feuersirenen wurde ein witziges Erkennungszeichen in der turbulenten Musik der Firehouse Five. Natürlich gehörten Songs wie „Fireman, Save My Child“ oder „I Don’t Want To Set The World On Fire“ bald zum Repertoire.

Gute-Laune-Jazz

Dixieland, die Neu-Interpretation des frühen Jazz, war speziell in Kalifornien Ende der Vierzigerjahre schwer im Kommen. Als ein Produzent auf einer Tanzveranstaltung 1949 die humorvollen Disney-Amateurmusiker hörte, verpflichtete er sie daher umgehend für Plattenaufnahmen. „Firehouse Stomp“ und „Fireman’s Lament“ wurden die ersten 78er-Singles des neuen Labels Good Time Records. Ward Kimball erinnert sich: „Unsere hochoriginellen Versionen des 20er-Jahre-Jazz kamen sofort an und wir wurden praktisch über Nacht zur Sensation. Wir wurden zur Speerspitze des großen Dixieland-Revivals, machten den Charleston wieder populär und halfen mit, dass Tausende von Tubas und Banjos, die in Amerikas Pfandhäusern eingekerkert waren, befreit wurden.“

Während sich viele Dixie-Kapellen damals um historische Authentizität bemühten, ging es den FH5+2 beim „Tiger Rag“ und „Muskrat Ramble“ vor allem um echten Spaß. Ein Kritiker empfand sie als „die glücklichste Band, die ich seit langem gehört habe“. In ihren Feuerwehr-Kostümen und zusätzlich ausgerüstet mit Glocken, Sirene, Pfeifen, Waschbrett oder Salatlöffeln, war die Band ein Hingucker und eine Attraktion für Jung und Alt. „Das waren wir: ein Haufen Künstler, Schreiber und Techniker, die tagsüber bei Disney zusammen arbeiteten und diese wunderbaren Zeichentrickfilme der Goldenen Ära hervorbrachten – und die am Wochenende diese laute Version des New-Orleans-Jazz spielten, gekleidet in rote Hemden, weiße Hosenträger und echte Feuerwehr-Lederhelme.“ Ihr Produzent Lester Koenig schrieb: „Sie sind in der einzigartigen und extrem glücklichen Lage, nur deshalb zu spielen, weil es ihnen Freude macht.“

Die Wochenend-Band erlebte eine erstaunliche Karriere. Angetrieben vom unermüdlichen Ward Kimball, hotteten die FH5+2 regelmäßig die Hollywood-Clubs, wo Filmstars zu ihrer Musik den Charleston tanzten, gaben „Dixieland Jubilees“ im ehrwürdigen Shrine Auditorium, traten in Rundfunk und Fernsehen auf, spielten auf Paraden, Hochzeiten, Golfturnieren oder Bürgerfesten. Sie machten 13 Langspielplatten und hatten mehrere Engagements in Hollywood-Filmen. Natürlich waren sie auch in Disney-Produktionen zu sehen – in persona und als Animationen –, krönten zahlreiche Disney-Veranstaltungen und wurden zur Sommer-Attraktion des Disneyland-Parks, der 1955 eröffnet wurde. „Walt Disney war jahrelang so stolz auf die Band, dass er zu allen unseren Premieren im Mocambo-Club kam. Dort, wohin er sonst nie ging, stieg er zu uns auf die Bühne, sagte ‚Meine Jungs‘ und hielt Reden vor all den Stars im Publikum.“ Erst 1971 – fünf Jahre nach Walt Disneys Tod – beschloss Kimball, die Band aufzulösen. Kurz danach ging er auch als Disney-Mitarbeiter in den Ruhestand.

© 2013, 2016 Hans-Jürgen Schaal


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