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Er besaß Bud Powells Virtuosität, Thelonious Monks Eckigkeit und Horace Silvers Gospel-Ton. Der 1928 geborene Hampton Hawes war der Idealtyp des Bop-Pianisten und im Jahr 1956 der Aufsteiger der Saison. Doch hinter den Kulissen lauerte der Abgrund: Seine Heroinsucht brachte den Pianisten um Karriere und Freiheit.

Hampton Hawes
Priester des Bebop
(2003)

Von Hans-Jürgen Schaal

Gefragt, woher die soulige, bluesige, gospelige Tiefe seines Spiels rühre, wusste Hampton Hawes immer nur eine Antwort: von der Kirche. Weiße Kinder lernen am Klavier Mozart und Chopin, er lernte das Instrument mit den Gospels. Sein Vater war Priester einer schwarzen Gemeinde in Los Angeles, „Hamp“ der Jüngste und Begabteste in der Familie. Mit neun Jahren entdeckte er Fats Waller und Earl Hines, und bald wurde das Klavier so sehr zu seinem Fluchtpunkt, dass der Vater es abschloss, wenn er aus dem Haus ging. Jazz im Heim eines Priesters? Da bestand dringender Häresie-Verdacht! Hampton Hawes erhielt nie Fortgeschrittenen-Unterricht, blieb zeitlebens Autodidakt in Notenlesen und Fingersatz. Auch wenn der Vater die nötigen Unterschriften leistete, damit der minderjährige Sohn erste Club-Gigs spielen und ein Bankkonto eröffnen konnte: Hampton galt als das schwarze Schaf der Familie. Er gehörte zur Bebop-Generation, der ersten, die gegen die fromme Onkel-Tom-Mentalität der bürgerlichen Afroamerikaner rebellierte.

Über seinen Vater sagte er später: „Er hatte Gott in seinem Herzen und verstand ihn. Ich fand Gott nicht – erst Jahre später im Hi-De-Ho-Club an der 50. Straße Ecke Western, wo er Altsax in der Band von Howard McGhee spielte.“ Dieser Gott trug den Namen Charlie Parker und war der Pionier und Held des Bebop. Erstmals hörte ihn Hamp 1945, zwei Jahre später spielte er schon mit ihm. Unüberhörbar hat Hawes das melodische Konzept und das Timing des Altsaxophonisten in sein Klavierspiel übersetzt. Genau wie Parker rammt er seine mutwilligen Bop-Linien in den Chorus, genau wie Parker setzt er zwischen sie souveräne Pausen, als müsste er am Klavier Atem schöpfen wie der Saxophonist. Bei hohem Tempo relaxt bleiben, mit Überlegung in die nächste Phrase gehen, bei niedrigem Tempo die Musik in den Beat fallen lassen, hinunterschlucken wie einen Mund voll Whisky: Das war die Essenz, die Hawes aus Parkers Vorbild zog. Hawes besaß nie den organischen „Flow“ eines Bud Powell, sondern behielt diese gewisse Sperrigkeit: harten Anschlag, widerspenstige Akzentuierung, unbequeme „Blueness“, eine abstrakte Melodik und ein Ohr für interessante Voicings.

Die Jazzszene wurde Hampton Hawes’ wahre Familie. War Charlie Parker sein Gott, so sah er später in Thelonious Monk den Vater, in Billie Holiday die Mutter, im Saxophonisten Wardell Gray den älteren Bruder, im Pianisten Sonny Clark den jüngeren. Man kümmerte sich um ihn. Nur: Der größte Teil dieser seltsamen Familie war auf Drogen. Der 18-jährige Hawes erlebte alles hautnah: Praktisch jeder, mit dem er damals spielte, spritzte Heroin. Und als ihm, dem blutjungen, viel versprechenden, allseits geliebten Youngster eines Abends in entspannter, privater Atmosphäre ein besonderer Trip angeboten wurde, da wäre es undenkbar gewesen, Nein zu sagen. So geriet er in den Strudel, der ihn immer tiefer zog.

Zunächst schien alles noch in Ordnung. „Hamp“ war ein gefragter Sideman in Kalifornien, machte seine ersten eigenen Aufnahmen, heiratete und kam regelmäßig an seinen Stoff. Dann rief die U.S. Army und die Probleme fingen an. Um seinen Schuss zu setzen, musste er sich unerlaubt von der Truppe entfernen und stand bald vorm Militärgericht. Bei der Rückkehr ins Zivilleben nahm ihn die Szene sofort wieder unter ihre Fittiche. Kaum hatte er 1955 einen Exklusivvertrag mit dem Label Contemporary unterschrieben, wurden ihm Club-Engagements in The Haig und im Tiffany angeboten. Der junge Bassist Red Mitchell brannte darauf, mit ihm zu spielen. Der Kollege Oscar Peterson vermittelte ihm einen Agenten. Der Agent schickte ihn auf Trio-Tournee durch die Staaten für 1500 Dollar die Woche. 1956 war Hampton Hawes „New Star“ in Down Beat und die „Entdeckung des Jahres“ im Metronome Magazine. Ein neuer Gigant des Jazz-Pianos schien geboren.

Doch schon im Lauf der ersten Trio-Tournee verlor Hawes die Freude am Spielen und am Erfolg. Die Auftritte – wie im Fieber – hatten nur noch einen Zweck: Sie brachten das Geld für den nächsten Schuss. Wenn der Dealer nicht auftauchte, kam Hawes nicht zum Gig. „Es hatte keinen Sinn es zu versuchen, wenn ich nur zitterte und schwitzte und auf der Bühne alles verdarb. Dass ich mich normal fühlte, hatte Vorrang. Alles andere musste warten: die Musik, das Zuhause, Essen und Schlafen.“ Der Pianist versäumte auch Promo-Termine bei Zeitschriften, Studio-Jobs in Hollywood und sogar eine Einladung von Art Tatum, einem seiner Idole. An seinen freien Tagen flog er oft Tausende von Meilen, nur um sich Stoff zu besorgen. Der „New Star“ von 1956 hauste 1957 schon völlig mittellos auf Parkbänken in New York. Mal griff ihn Monk auf, um ihn durchzufüttern, mal verschaffte ihm Mingus ein Trio-Date. Selbst bei dieser Studioaufnahme musste er mitten im Stück auf die Toilette, um zu fixen. Es ging immer weiter bergab.

Für viele endete es mit dem Tod. Hawes sah seine Jazzfamilie rasch schrumpfen: Parker und Wardell Gray starben 1955, Billie Holiday 1959, Sonny Clark 1963. Hawes hatte noch Glück im Unglück: Ende 1958, an seinem 30. Geburtstag, wurde er von der Drogenpolizei festgenommen. Man verurteilte ihn wie einen Schwerverbrecher zu zehn Jahren Haft. Der Entzug war unmenschlich, aber endgültig: Der Pianist führte sich gut und erhielt kleine Erleichterungen im Knast. Als er zu Weihnachten 1962 „The Alamo“ sah, verliebte er sich in die Filmmelodie „The Green Leaves Of Summer“ und begann sich nach der Freiheit zu verzehren. So kam er auf die verrückte Idee, an den Präsidenten der USA ein Begnadigungsgesuch zu richten – und das Unwahrscheinliche wurde wahr: John F. Kennedy erließ ihm die zweite Hälfte seiner Haftzeit. Noch jahrelang behielt „Hamp“ die Filmmelodie im Programm.

Hawes’ zweites Leben begann unter schwierigen Umständen, denn die Clubszene erlebte Mitte der 60er-Jahre ihr historisches Tief. „Hamp“ bekam keine Gigs, kannte keine Ziele, schlug sich als Lounge-Klimperer durch und lebte vom Einkommen seiner Frau. Erst eine Weltreise 1967 machte ihm klar, dass er anderswo als Jazz-Held galt: In neun Monaten im Ausland konnte er sieben Platten aufnehmen. Als er Europa besuchte, fühlte er sich wie ein Kind an Weihnachten, spielte jede Menge Konzerte, ging mit Martial Solal auf Tournee, sah sein Bild in der Zeitung und Menschenschlangen an der Abendkasse und erhielt Gagen sogar für Interviews. Im Rückblick schwärmte er: „Musik war für diese Menschen, was der Aktienmarkt und Football in Amerika sind.“ Auch in Tokyo wurde er von Fotografen verfolgt und bekam selbst von Major-Firmen wie RCA und Columbia Angebote.

Zu Hause in Amerika ging es erst ein paar Jahre später wieder bergauf, als sich „Hamp“ zunehmend modischen Strömungen anpasste. Er nahm kitschige Filmmelodien mit Streichern auf, experimentierte mit Synthesizern und E-Piano, adaptierte Soulsongs, modale Improvisation und Anklänge an Bill Evans und arbeitete mit Pop-Größen. Aber auch wenn er zuletzt virtuoser, brillanter, kompromissbereiter und freier improvisierte: Im Kern seines Spiels blieb er der Bopper, der er immer war. Auch sein plötzlicher Herztod 1977 war seiner Vergangenheit geschuldet.

© 2003, 2017 Hans-Jürgen Schaal


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