NEWS





Zurück

Die kristalline Struktur
Bach auf dem Akkordeon
(2010)

Von Hans-Jürgen Schaal

Kaum eine Musik wird so gerne bearbeitet, adaptiert und für neue Instrumentierungen eingerichtet wie die Werke von Johann Sebastian Bach. Wir kennen Bach-Choräle von Blechbläsern, die Cello-Suiten auf der Blockflöte gespielt, vierstimmige Fugen im Saxofonquartett. Bachs Werke erklingen im Jazztrio oder als Weltmusik, auf Synthesizern oder Heavy-Metal-Gitarren – und zunehmend auch auf dem Akkordeon. Der Grund für diese vielfältige Bearbeitungslust liegt im Charakter von Bachs Musik selbst: Ihre Faszination kommt weniger aus ihrem Klang als aus ihrem Fluss, ihrer Struktur, dem Reichtum ihrer inneren Bezüge und deren Darstellbarkeit. Bach war im Grunde ein Eklektizist. Er bediente sich bei vielen Stilen und Moden, verband sie aber mit einer – zu seiner Zeit schon altmodischen – Vorliebe für strenge, polyphone Komposition. Gerade durch diese Verbindung der Gegensätze – Kontrapunkt und Harmonik, Tonorganisation und Tanzsuite – hat er Zeitloses geschaffen und die Entwicklung der Musik kräftig vorangetrieben. Bach war der Erfinder und der Vollender der Fuge, er begründete die entwickelnde Variation, er bereitete den späten Beethoven und die Romantik vor.

Vor 100 Jahren hat man heftig darüber gestritten, ob es erlaubt sei, Bachs Musik auf dem Konzertflügel zu spielen. Im 19. Jahrhundert hatte man dies noch selbstverständlich getan: Man scherte sich nicht um Clavichord und Cembalo, diese vorgestrigen Tasteninstrumente des Barock. Doch um 1900 kam die historische Aufführungspraxis in Mode: Eine wachsende Bach-Gemeinde glaubte, ein „Historisieren“ bedeute mehr Authentizität und solche Authentizität sei erstrebenswert. Bachs eigene Musikpraxis allerdings widerspricht dem Prinzip der Authentizität. Denn Bach war Realist. Je nachdem, welche Instrumente oder Sänger ihm zur Verfügung standen, hat er ein Werk entsprechend angepasst. Es gab für ihn keine Ideal-Instrumentierung, er unterschied nicht zwischen Original und Bearbeitung. Aus Vokalwerken machte er Instrumentalwerke und umgekehrt. Aus dem Violin-Doppelkonzert in d-Moll wurde ein Konzert für zwei Cembali in c-Moll. Auch Violinkonzerte von Vivaldi adaptierte er fürs Tasteninstrument.

Ferruccio Busoni (1866-1924), einer der größten Bach-Bearbeiter, hat sich gerne auf Bachs eigene Praktiken berufen. Auch andere namhafte Musiker haben sich nicht gescheut, Bachs Werke zu transkribieren und zu verändern: Mozart machte Klavierfugen zu Streichquartetten, Reger bearbeitete Klavierstücke für die Orgel, Liszt Orgelstücke fürs Klavier. Mendelssohn ergänzte sogar eine Klavierbegleitung zu einer Violin-Chaconne, Gounod erfand umgekehrt eine Violinstimme zu einem Klavierstück, Stokowski machte aus Orgelstücken Orchesterwerke. Tatsächlich hat Bach viele Instrumentierungen selbst überhaupt nicht festgelegt. Er spielte zum Beispiel drei sehr verschiedene Tasteninstrumente – Orgel, Clavichord, Cembalo –, ordnete seine Kompositionen aber oft nicht eindeutig einem der Instrumente zu. Manches aus der „Clavier-Übung“ zum Beispiel ist nur auf der Orgel ausführbar, um vieles „streiten“ sich heute Pianisten und Organisten.

Denn zu Bachs Zeiten hieß „Clavier“ einfach: Tasteninstrument. Und hätte es damals das Akkordeon schon gegeben, wäre es wohl ebenfalls unter den Begriff „Clavier“ gefallen. Bachs mehrstimmige Klaviermusik ist seit der Einführung des Einzeltonbasses („Melodiebass“) auf dem Akkordeon spielbar geworden, ohne dabei irgendeiner Bearbeitung zu bedürfen. Das Akkordeon kann diese Musik nicht nur technisch umsetzen, es eröffnet ihr sogar ganz neue Perspektiven. Denn während Cembalo oder Orgel oft nicht allen Details in Bachs Werken gewachsen sind, glänzt das Akkordeon mit seiner Vielseitigkeit: Es ist ein zweimanualiges Tasteninstrument, aber es bietet zugleich die dynamischen, phrasierungsbildenden und artikulationstechnischen Möglichkeiten eines Streich- und Blasinstruments. „Holen Sie aus Ihrem Akkordeon alles, was das Instrument hergibt, und machen Sie die Cembalisten und Organisten so richtig neidisch!“ Das sagte ein Barock-Kenner einmal zur Akkordeonistin Mie Miki, die 1997 für ihr Album „Accordion J.S. Bach“ den japanischen Record Academy Award erhielt. Zu ihrem Bach-Repertoire gehören unter anderem die Französischen Suiten, die Französische Ouvertüre, das Italienische Konzert und die Partita Nr. 3. Mie Miki spielt auch Bachs Konzert für zwei Cembali – im Akkordeon-Duett mit Stefan Hussong.

Hussong hat bereits 1988 Bachs Goldberg-Variationen eingespielt – damals auf einem Einzelton-Akkordeon von Hohner. Der Auslöser dafür war Glenn Goulds legendäre Aufnahme von 1981, die nicht so sehr auf das Pianistische abzielt, sondern – so Hussong – „eine Art kristalline Struktur“ der Komposition herausarbeitet. Genau dafür aber, für die „Deutlichmachung musikalischer Strukturen“, schien Hussong sein eigenes Instrument ganz besonders geeignet, weil es mit dem Akkordeon möglich ist, „Ligaturen ihrer Dauer entsprechend zu gestalten und dadurch vielleicht auch harmonische Vorgänge klarer erscheinen zu lassen“. Gerade die in Bachs Musik so charakteristische stetige „Fließbewegung“, die laufend Spannung ab- und aufbaut, lässt sich auf dem Akkordeon viel besser umsetzen als etwa auf dem Flügel. „Sie können sich natürlich vorstellen“, erinnert sich Hussong, „dass diese Platte die heftigsten Reaktionen von euphorischer Zustimmung bis heftigster Ablehnung ausgelöst hat.“ Beides wohl hat ihn angetrieben, in den Folgejahren auch einige von Bachs Englischen Suiten und Partiten ins Repertoire zu nehmen.

Nicht nur Mie Miki und Stefan Hussong spüren die Affinität des Akkordeons zu Bachs polyphoner Musik. Schon Astor Piazzolla, der Bandoneon-Virtuose und Erfinder des „Tango Nuevo“, war ein großer Bach-Verehrer und komponierte manche von Bach inspirierte Tango-Fuge. Auch Teodoro Anzellotti, von vielen heute als der weltweit führende Akkordeonist betrachtet, beschäftigt sich immer wieder mit Barockmusik – und dies mit einer geradezu italienischen Freude an Farbe, Dramatik, Gefühl und Virtuosität. Das Fachmagazin Fono Forum schrieb etwa über seine Scarlatti-Aufnahmen: „Nur wenigen Interpreten, ob Cembalisten oder Pianisten, dürften so überzeugende Deutungen gelungen sein.“ In Anzellottis Bach-Repertoire finden sich die Goldberg-Variationen, die Französischen Suiten und die erste Hälfte der Kunst der Fuge.

Für den finnischen Akkordeonisten Myka Väyrynen sind die Goldberg-Variationen geradezu „musikalische Heimat und Hausapotheke“. Der Österreicher Wolfgang Dimetrik gibt seinem „Goldberg“ durchaus einige tänzerische Akzente mit. Auch bei Denis Patkovic aus Calw sind die Goldberg-Variationen das Bach-Glanzstück. Ivan Koval, Professor in Weimar, begann 2004 sogar, die komplette Kunst der Fuge allein auf dem Akkordeon zu spielen. Vitaly Patsyurkovsky hat Orgelwerke wie die bekannte Toccata und Fuge d-moll im Programm. Auch Galina und Wladimir Artimowitsch haben sich – im Akkordeon-Duo – auf Bachs Orgelwerke spezialisiert. Der Kasache Alexander Matrosov glänzt mit Adaptionen von Bachs Englischen Suiten, ebenso der Neckarschwabe Lothar Schneider. Auch der Kanadier Joseph Petric präsentierte 2001 mit „Suites, Sonatas, Airs and Dances“ eine komplette Bach-CD.

Ein Journalist provozierte vor einigen Jahren mit der Frage, ob das Akkordeon nicht „das eigentlich ideale Instrument“ für die Umsetzung von Bachs polyphoner Musik sei. Tatsächlich scheinen gerade Bachs späte Werke – die Kunst der Fuge oder das Musikalische Opfer – vor dem Horizont der Ewigkeit komponiert zu sein: mit unbestimmter Besetzung, mit ausgespartem Klang, als warteten sie noch auf das Instrument, das ihnen voll gerecht wird – eine Kreuzung aus Cembalo, Orgel und Blasinstrument. Manche Komposition Bachs übersteigt frech die technischen Möglichkeiten seiner eigenen Epoche: „Bach verlangte mehr von seinen Instrumenten, als sie leisten konnten“, sagt Stefan Hussong. Die Freiheit des Interpreten, „das jeweils geeignetste Instrument selbst zu bestimmen“, ist für Bach-Kenner Hermann Keller typisch Barock. Und wenn Interpretation heißt: die Struktur einer Komposition herausarbeiten, ihre Zusammenhänge, ihr Gefüge, ihr Netzwerk verdeutlichen, dann ist das Akkordeon jedenfalls ein Instrument, das den Ansprüchen von Bachs Musik schon sehr, sehr nahe kommen kann.

© 2010, 2017 Hans-Jürgen Schaal


Bild

10.11.2024
Neue Features auf der Startseite: JAZZ-PORTRÄTS (2) und FACETTEN DES PROGROCK (2)

09.11.2024
NEU bei Adrian Teufelhart: BLACK SABBATH

26.10.2024
China im Konzertsaal (Neue Musikzeitung)

24.10.2024
Über den Bildungsfetisch PISA (Brawoo 10/24)

mehr News

© '02-'24 hjs-jazz.de