Was ist eigentlich Swing? Ich meine jetzt nicht die legendäre Bigband-Musik im angesagten Jazzstil von 1940, Benny Goodman, Count Basie, Glenn Miller und so weiter. Nein, ich meine jene – wie sagt der Fachmann? – „rhythmische Qualität“, die diesem Stil damals den Namen gab, aber ohne die im Jazz überhaupt – laut Duke Ellington – gar nichts etwas taugt. Ich meine dieses besondere Feeling, zu dem der Jazzfan unwillkürlich mit dem Fuß wippt. Oder mit dem Finger auf die Zwei und die Vier schnippt. Der Adrenalinstoß für jede Jazzer-Seele. Das musikalische Glückshormon. Das letzte Mysterium der Jazzclubs. Das geheime Voodoo-Rezept.
Swing over, Beethoven!
Der Boogie entstand vor 200 Jahren
(2010)
Von Hans-Jürgen Schaal
Manche haben über diesen Swing ganze Bücher geschrieben. Manche haben ihn mit Computern gemessen und behauptet, jeder Musiker spiele ihn anders. Manche hören den Swing bei Louis Armstrong schon, bevor Satchmo tatsächlich zu swingen begann, oder hören ihn noch „internalisiert“ beim Free Jazz, nachdem dort das Swingen längst verpönt war. Manche sagen auch, man könne ihn überhaupt nicht definieren, diesen Swing.
Ich will es trotzdem mal versuchen – ganz elementar, versteht sich. Erstens: Swing ist, wenn man eine Achtelnotenkette so spielt, als wäre die Achtel „auf dem Beat“ doppelt so lang wie die unbetonte Achtel. „Ternärer Rhythmus“ nennen das die Jazzologen oder „triolische Auffassung“. Und zweitens: Swingende Phrasen beginnen und enden in der Regel nicht auf dem Beat, sondern daneben, synkopisch versetzt, auf „zwei und“ oder „vor der Eins“. Denn Swing ist keine Qualität der Schlagzeugstimme, sondern der ganzen Band. Wenn Melodie, Harmonie, Bass und Trommeln alle den Swing haben, dann stellt sich dieses schaukelnde, schlurfende Feeling ein, das den Jazzfan glücklich macht.
So glücklich, dass er sich ein Leben ohne Fußwippen gar nicht vorstellen kann. Auf gar keinen Fall hätte der Jazzfan daher im 19. Jahrhundert leben wollen, als es noch keine swingende Musik gab! Wie haben die Leute das damals nur ausgehalten? Und ist es nicht wirklich erstaunlich, dass diese existenzielle Erfahrung des Swingens, dieser rhythmische Trip, im 20. Jahrhundert erst erfunden werden musste und nicht immer schon als Droge verfügbar war wie Honig, Bier, Mohn oder die Liebe? Und dass nicht einmal Beethoven, der Meisterzauberer der Synkope, zufällig beim Improvisieren mal den Swing entdeckt hat? Das heißt: Vielleicht hat er ja doch?
Klaviersonate Nr. 30, Op. 109, 2. Satz, Prestissimo. Der Satz steht in einem so schnellen 6/8-Takt, dass man ihn leicht als triolisch unterteilten 2/4-Takt verstehen könnte. Flott galoppiert der Satz dahin, Viertelnote plus Achtelnote, Bedingung 1 meiner Swing-Definition, Sie erinnern sich. Und dann kommt diese Stelle in Takt 41: Plötzlich fängt der Galopp an zu schaukeln, zu schlurfen, zu swingen! Der Trick: Beethoven bindet die betonte Viertelnote am Anfang des Takts an die unbetonte Achtelnote davor. Der Ton ist vorgezogen „vor die Eins“, Bedingung 2 meiner Swing-Definition, siehe oben. Da kippt die Wiener Klassik also gefährlich in Richtung Harlem hinüber, doch der Spuk dauert – leider – nur zwölf Takte lang. Friedrich Gulda, der Teilzeit-Jazzer, hat sich hier übrigens nicht getraut zu swingen. Rudolf Buchbinder aber, der über allen Jazzverdacht erhabene Beethoven-Gewaltige, spielt das einfach so, wie es in den Noten steht – und es swingt! Eine kleine Jazz-Episode, anno 1820. Niemand scheint die Stelle zu kennen.
Bekannter ist eine andere Stelle: Klaviersonate Nr. 32, Op. 111, 2. Satz, Arietta, eine Variationenfolge. Schon die zweite Variation bereitet vor, was da kommt, galoppiert im Wechsel von Sechzehntel- und Zweiunddreißigstel-Noten stur dahin. Und dann: die dritte Variation im verdoppelten Tempo! Sie „jazzt wie ein Blitz“ im „ekstatischen rhythmischen Rausch“ daher, schreibt Joachim Kaiser. Strawinsky nannte sie einfach und treffend einen „Boogie-Woogie“: Mit der Verve eines Fats-Waller-Strides werden Dreiklangs-Arpeggien zu rasenden Boogie-Figuren. Das Swing-Feeling stellt sich spätestens im zweiten Takt ein, wo Zweiunddreißigstel- und Vierundsechzigstel-Noten so gebunden sind, dass Akzente „zwischen die Beats“ fallen. Auch hier hat Buchbinder auf Beethoven: Piano Sonatas (Teldec 9031-75855-2) den Swing voll raus.
Die Jazzmusiker wussten es natürlich immer schon: Bei Beethoven schlummert Jazz in embryonaler Form. Legendäre Jazz-Adaptionen unter Titeln wie „Beethoven Riffs On“ oder „Mr. Beethoven’s Blues“ kamen ja nicht von ungefähr. In besonders gelungener Form wurde Beethovens Nähe zum swingenden Rhythmus vor fast 20 Jahren von einem (damals noch miteinander glücklichen) Hamburger Ehepaar demonstriert. Jasmin Böttger, klassische Pianistin, und Gottfried Böttger, Boogie-Pianist und Mitbegründer von Udo Lindenbergs Panikorchester, spielen ihre Beethoven-Kleinigkeiten überwiegend ganz authentisch, untermischen sie aber schrittweise und dezent mit swingenden Rhythmen, bluesigen Akkorden und jazzigen Schmuckfiguren. Wie „Für Elise“ zum neckischen Jazzwalzer mutiert und die Ecossaisen ihre Nähe zum Ragtime offenbaren, das ist pianistisch erste Sahne, zwingt zum Fingerschnippen und Zungeschnalzen. Oft genügen da ein paar synkopisch versetzte Akkorde, untergeschoben wie eine zweite Bedeutungsschicht, und schon wird Beethoven zu bitonalem Zukunftsboogie. „Blue Beethoven“ (BMG 876 152) empfiehlt sich als Objekt der Analyse, wenn mal wieder die Frage gestellt wird: „Was ist eigentlich Swing?“
Schon vor über 50 Jahren hat der Pianist Jacques Loussier damit begonnen, in der klassischen Musik nach schlummernden Jazz-Qualitäten zu fahnden. Ob Klaviersuiten, Orgelwerke, Choräle oder Orchesterstücke: Keine Komposition von Johann Sebastian Bach war vor den swingenden, improvisierten Ausdeutungen durch „Play Bach“ sicher. Später hat Loussier mit seiner jazztypischen Klaviertrio-Besetzung – also Piano, Bass, Schlagzeug – auch andere Komponisten ausgecheckt: Bachs Zeitgenossen Händel, Scarlatti oder Vivaldi, aber auch moderne Franzosen wie Satie, Debussy und Ravel. Im Jahr 2003 war endlich auch Beethoven dran. „Beethoven. Theme And Variations“ (Telarc CD-83580) beschränkt sich auf eine einzige Melodie, den Allegretto-Satz aus Beethovens 7. Sinfonie. Das Thema, das laut Loussier genau in seine Musikwelt passt, nämlich das „Zwischengebiet“ zwischen Klassik und Jazz, hat schon manchen modernen Bearbeiter inspiriert, etwa das Jazz-Sextett von John Kirby (1941) oder die englische Rockband Deep Purple (1968). Loussiers Variationen sind im Grunde nur rhythmische Ausdeutungen – mal Rockballade, mal Latin-Nummer, mal Jazzwalzer, mal Soft-Funk –, immer mit jazzigen Klaviersoli und einem fetten Bassdrum-Bums vom Schlagzeuger. In mindestens drei Variationen dominiert der „ternäre Rhythmus“ oder die „triolische Auffassung“: Beethovens Themen lassen sich eben nur ganz, ganz schwer vom Swingen abhalten.
© 2010, 2020 Hans-Jürgen Schaal
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