Alternde Männer haben es nicht leicht, ich spreche da aus eigener Erfahrung. Verschiedene Körperfunktionen lassen nach, die Augen werden schlechter und die Wehwehchen zahlreicher, die Haare wachsen dünner und der Bauch schneller. Das Schlimmste aber ist: Gerade als man vieles im Leben zu begreifen beginnt, wird man nicht mehr gefragt. Jüngere drängen nach, voller Enthusiasmus und Borniertheit. Man sieht, wie die Welt die immer gleichen Dummheiten macht, aber diese Einsicht ist wertlos, denn man wird nicht gebraucht, eher belächelt. Manche von uns kommen dann in die Midlife-Krise, andere werden einfach Zyniker, der verletzte Stolz will nicht heilen. Ab einem gewissen Alter begehen dreimal so viele Männer wie Frauen Suizid.
Opus Ultimum
Die Diabelli-Variationen
(2013)
Von Hans-Jürgen Schaal
Ich weiß also genau, wie sich Beethoven gefühlt hat, als ihm der nassforsche, mehr als zehn Jahre jüngere Musikverleger Diabelli einen kleinen, banalen Walzer schickte. Ob er ihm nicht eine nette Variation darüber schreiben wolle, wurde Beethoven gefragt. Fragt man etwa den Kaiser nach einem Kartenkunststück? Bittet man Herkules um einen Handstand? Soll der wilde Löwe schnurren? Was hatte Beethoven nicht alles komponiert – nicht weniger als acht Sinfonien (an der neunten saß er seit Jahren) und mehr als 30 Klaviersonaten, geehrt mit Namen wie Pathétique, Mondschein, Pastorale, Sturm, Jagd, Appassionata, Les Adieux! Er, Beethoven, hatte im Alleingang das musikalische Weltengebäude in die Höhe gestemmt! Aber all das zählte nichts. Die jungen Leute wollten nur noch Romantik, Walzer tanzen, Salongeplauder. Und von ihm verlangte man eine Variation über einen öden Einfall dieses Diabelli!
Beethoven war also schlecht gelaunt und hatte allen Grund dazu. Am liebsten würde er diesem Witz von Verleger und aller Welt zeigen, was er von ihnen hielt! Auch ein schlecht gelaunter Beethoven steckte all die ahnungslosen Jünglinge noch locker in die Tasche! Bei diesem Gedanken konnte er sich ein grimmiges, diabolisches Lächeln nicht ganz verkneifen. Und deshalb fing er, mit vier Jahren Verzögerung, doch noch an: Er schrieb eine Variation – nein, er schrieb gleich 33 davon. Und nicht irgendwelche Variationen – er packte all seine Wut, seinen Trotz, seinen Zynismus, seine wildeste Fantasie hinein. Er schrieb mit dramatischem Donner, mit verletzter Seele, mit bissigem Humor, mit verspieltem Kontrapunkt, mit blühendem Widerspruch. Immer wieder navigierte er zwischen den Grenzklippen der harmonischen Welt, am Rande des technisch Möglichen. Alternde Männer werden unberechenbar, wenn man sie reizt.
Den Mikrokosmos des Beethoven’schen Genius hat man das Werk genannt, sein Opus Ultimum, unerschöpflich, unaufzehrbar. 33 atemlose, schroffe Miniaturen am Schnittpunkt von Starrsinn und Vision. Brahms und Skrjabin stecken schon darin und vieles noch Spätere. Aber einen Ehrennamen, vergleichbar mit Pathétique oder Pastorale, erhielt das Werk nie. Man kennt es auch nicht als „die 33“ oder „sein Opus 120“. Beethovens wütendstes, mutigstes, trotzigstes, genialstes Klavierwerk heißt immer nur: die Diabelli-Variationen. Darüber hätte er wirklich wieder guten Grund, schlecht gelaunt zu sein.
Es grüßt wie immer und natürlich vorwiegend gut gelaunt
Ihr
Hans-Jürgen Schaal
© 2013, 2020 Hans-Jürgen Schaal
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