Beethovens Instrumentalwerke gelten als Inbegriff absoluter Musik – einer Musik also, die keiner Hilfestellung von außen bedarf, keiner sprachlichen oder erzählerischen Inhalte.
Beethoven Experience (5)
6. Symphonie und 7. Symphonie
(2017)
Von Hans-Jürgen Schaal
Beethovens Musik schafft sich ihr eigenes abstraktes Drama in der Sprache der Töne. Sie entwickelt ihre Konflikte, Steigerungen, Lösungen aus sich selbst. Kein Wunder daher, dass der Komponist sich gegen die Vermutung wehrte, seine Sechste Symphonie beschreibe etwas Äußerliches oder erzähle ein Ereignis. Diese Symphonie, so vermerkte er, sei „mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“, sei also Gestaltung einer inneren Wirklichkeit. Nun hat Beethoven bei seiner Sechsten aber die äußeren Anlässe dieser inneren Wirklichkeit sehr genau benannt: eine Ankunft auf dem Land, eine Szene am Bach, die Rufe der Waldvögel, das holprige Spiel einer Dorfkapelle, den Wettersturz, den Gesang von Hirten. Ganz unwillkürlich entstehen da vor dem geistigen Auge der Hörer Bilder von Landschaften und Menschen. Beethoven wusste das natürlich: „Man überlässt es dem Zuhörer, die Situationen auszufinden. Wer auch je nur eine Idee vom Landleben erhalten [hat], kann sich ohne viele Überschriften selbst denken, was der Autor will.“
In den letzten 200 Jahren hat die „Pastorale“ zahlreiche Illustrationsversuche provoziert: auf Gemälden, in Theaterszenen, sogar in einem Trickfilm von Walt Disney. Diese Symphonie, die keine Programmmusik sein wollte, ist in Wahrheit zum Modell programmatischer Symphonik geworden. Man könnte behaupten, Beethovens Sechste sei die erste romantische Symphonie und die Mutter aller Symphonischen Dichtungen. Ein E.T.A. Hoffmann und ein Hector Berlioz haben das jedenfalls so empfunden. Und was wäre auch romantischer als Beethovens Stadtflucht hinaus in die Natur, die er in dieser Symphonie thematisiert? „Kein Mensch kann das Land so lieben wie ich“, schrieb er. „Geben doch Wälder, Bäume, Felsen den Widerhall, den der Mensch wünscht.“ Der Komponist der „Pastorale“ war ein leidenschaftlicher Spaziergänger. In der „unverdorbenen Natur“ wollte er sich regelmäßig „das Gemüt reinwaschen“. Sein Leben lang soll er die Stelle am Schreiberbach, zwischen Nussdorf und Grinzing, nicht vergessen haben, wo er den 2. Satz der Symphonie komponiert hatte – und die Vögel ringsum hätten dabei „mitkomponiert“.
„Erinnerungen an das Landleben“ – mit diesem Untertitel hat Beethoven seine Sechste versehen. Besonders die beiden ersten Sätze der Symphonie ergehen sich in lyrisch-pastoraler Beschaulichkeit. Streicher und Bläser stimmen kleine, volksliedhafte Melodien an und imitieren endlich auch den Ruf der Vögel, darunter Goldammer, Wachtel, Nachtigall und Kuckuck. Kurze, entspannte Motive, viele Wiederholungen, eine große Sanftheit – es ist eine Klangwelt von beglückender Idylle. Dennoch vernachlässigt der Komponist darüber nicht die formale Durchgestaltung, die Sonatenform und die entwickelnde Veränderung der Themen. Im dritten Satz dann wird die Musik etwas kraftvoller, denn eine Bauernkapelle, dezent karikiert, spielt uns einen Deutschen Tanz. Der dramatische Höhepunkt der Symphonie schließt sich direkt an, wenn im Orchester Gewitter und Sturm zu toben beginnen. Pikkoloflöte, tiefe Streicher und Pauken imitieren Wind, Donner, Regen und Blitz. Als sich das Wetter beruhigt, finden sich Hirten zu einem dankbaren Gesang ein – ein Rondo-Allegretto in Sonatenform. Die Sätze 3 bis 5 werden am Stück gespielt.
Die Pastorale ist zweifellos ein Extrem unter Beethovens Symphonien. In keiner anderen hat sich der Komponist so viel lyrische Ausführlichkeit erlaubt. Diese sanft-melodischen Klänge, die uns heute so ans Herz gewachsen sind, sorgten zu Beethovens Zeit aber durchaus auch für einige Irritation. Man empfand die Idyllen dieser Symphonie vielfach als zu schwelgerisch, zu ausführlich. Besonders deutlich wurde der beschauliche Charakter der Pastorale im direkten Vergleich mit der Fünften, der hochdramatischen „Schicksalssymphonie“. Beide Werke wurden nämlich beim gleichen Konzert Ende 1808 in Wien uraufgeführt. In der Sechsten war nichts zu spüren vom kämpferischen Heroismus, der Beethovens Fünfte auszeichnet. Zumal der glückhafte, feierliche Schluss der Sechsten schien dem zeitgenössischen Publikum allzu lyrisch und zu wenig effektvoll zu sein. Es heißt sogar, die Pastorale sei eine Zeitlang die unbeliebteste von Beethovens Symphonien gewesen. Das änderte sich freilich mit dem Aufkommen des romantischen Geschmacks, dem das Malen von Empfindungen nicht ausführlich genug sein konnte. Der kämpferische Klassiker Beethoven – er war zugleich der erste Romantiker der Orchestermusik.
Die 7. Symphonie
Auch die Siebente, die ziemlich genau fünf Jahre nach der Sechsten uraufgeführt wurde, ist ein Extrem unter Beethovens Symphonien. Bildet die Pastorale den Höhepunkt an lyrischer Verzauberung, so steht die Siebente andererseits für ein Maximum an Feuer und Temperament. Man hat sie als Wiederentdeckung des Rhythmus beschrieben, als musikalisches Freudenfest. Richard Wagner nannte die Siebente einmal eine „Apotheose des Tanzes“. Die Jubelfeier der Siebenten – das war bei der Premiere 1813 unbestritten – galt dem Sieg über Napoleon, denn nur wenige Wochen zuvor war es bei Leipzig zur „Völkerschlacht“ gekommen. Tatsächlich diente das Premieren-Konzert als Benefizveranstaltung für die Angehörigen von Soldaten, die gegen Napoleon gekämpft hatten. Mit auf dem Programm stand Beethovens Orchesterstück „Wellingtons Sieg“ – auch dieses war einem Triumph über Napoleon gewidmet. An diesem Abend in Wien jubelten die Patrioten. Dem großen Anlass gemäß spielten im Orchester sogar einige namhafte Komponisten mit, darunter Hummel, Meyerbeer, Salieri und Spohr. Und Beethoven dirigierte – übrigens in ziemlich chaotischer Weise.
Zuweilen tobt die 7. Symphonie so ausgelassen, dass frühe Rezensenten sie mit einer Tanzorgie, einer Bauernhochzeit oder einer feucht-fröhlichen Erntefeier verglichen. Nach einer etwa vierminütigen bedächtigen Einleitung (poco sostenuto), quasi der Ruhe vor dem Sturm, legt schon der 1. Satz in einem lebhaften 6/8-Takt los, der an einen wilden Ländler oder eine Tarantella erinnert und zeitweise in übermütigen Synkopen hüpft. Im dritten Satz folgt ein galoppierendes Scherzo, dessen Temperament nur im Trio-Teil etwas zurückgenommen ist. Den krönenden Finalsatz (allegro con brio) könnte man sogar als dionysische Polka beschreiben – Beethovens Musik war nie mitreißender als hier. Das enthusiastische Premierenpublikum jedenfalls tobte vor Begeisterung über so viel rhythmisches Feuer.
Nüchterne Seelen dagegen, die beim Patriotenkonzert nicht vor Ort waren, reagierten auf die Wildheit der Siebenten zuweilen schockiert. Einige meinten, der Komponist sei nun wohl reif fürs Irrenhaus oder er habe sein Werk im Vollrausch geschrieben, zumindest die Ecksätze, die am heftigsten dahinstürmen. Mancher Kritiker bemängelte an der Siebenten auch das Fehlen schöner, verharrender Momente mit ausgeprägten Melodien. In der Tat ging es Beethoven bei dieser Symphonie nicht um die Melodie, sondern um den Willen, um die Dynamik. Die Siebente steht für rhythmischen Vorwärtsdrang, für triumphierende Konsequenz, für entschlossene Entwicklung motivischer Kernideen. In einem gewissen Sinn verkörpert dieses Werk – zusammen mit der Fünften – Beethovens Idee des Symphonischen in konzentriertester Form.
Nur im zweiten Satz, dem berühmten Allegretto, bekommt auch der Zauber der Melodie sein Recht. Schon bei der Uraufführung musste dieser Satz auf Wunsch des Publikums wiederholt werden – das Thema ging den Wienern sofort ins Ohr. Dieses Allegretto, heiter und ernst zugleich, schien ihnen ein sanfter Trauermarsch für all die Soldaten zu sein, die im Kampf gegen Napoleon gefallen waren. Immer wieder neu wird das Thema angestimmt, während das Orchester alles Mögliche drum herum anstellt. Sogar einen Fugato-Teil gibt es. Der berührende Reiz dieser prozessionsartigen Melodie hat sich bis zum heutigen Tag nicht verbraucht. Jazz- und Rockbands haben das Allegretto-Thema aufgegriffen, und zahlreiche Kinofilme – von „Zardoz“ (1974) bis „The King’s Speech“ (2010) – bedienten sich seines Charmes.
Der große Erfolg der Siebenten hatte wohl mehrere Ursachen. Zur tiefen Wirkung des Allegrettos und zum überwältigenden tänzerischen Schwung der Ecksätze kam die patriotische Begeisterung des Publikums. Die Siebente ist eine Triumph- und Freiheitssymphonie. Bei der Premiere sollen die Jubelausbrüche der Zuhörer alles übertroffen haben, was man bis dahin im Konzertsaal erlebt hatte. Beethoven, der Anhänger der Französischen Revolution, der sich von Napoleon so schwer enttäuscht fühlte, feierte in der Siebenten aber auch einen ganz persönlichen, politischen Sieg. Der selbsternannte Kaiser der Franzosen war geschlagen – Beethovens revolutionäre Musik aber stürmte weiter der Menschheit voran. Der ursprüngliche Impuls der Revolution lebt fort in der 7. Symphonie. Sie war Beethovens endgültiger Durchbruch zum Ruhm.
© 2017, 2020 Hans-Jürgen Schaal
© 2017 Hans-Jürgen Schaal |