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Saxofone grummeln und gurren, Trompeten röcheln und keuchen: Die Jazz-Avantgarde der Sechzigerjahre entdeckte noch die abwegigsten Bläsertöne als Ausdrucksmittel ihrer neuen Freiheit. Begonnen hat alles mit dem Album „Free Jazz“, kurz vor Weihnachten 1960.

Die große Bläser-Revolution
Vor 50 Jahren entstand der Free Jazz
(2011)

Von Hans-Jürgen Schaal

In den 1950er-Jahren hätte man den Begriff „Free Jazz“ wahrscheinlich noch mit „Jazz bei freiem Eintritt“ übersetzt. Doch dann erschien dieses Album und gab dem Begriff „Free Jazz“ eine ganz neue Bedeutung: Jazz, der frei ist von Formschablonen. Mancher Zeitgenosse zeigte dafür wenig Verständnis: Acht Nihilisten seien hier damit beschäftigt, die Musik zu zerstören, meinte ein Rezensent des Albums. Dabei ging es auf „Free Jazz“ keineswegs um Zerstörung, sondern um das Aufzeigen neuer Möglichkeiten. Nicht umsonst gab dieses Album einer ganzen Bewegung den Namen – der innovativsten Bewegung in der Geschichte des Jazz.

Worin bestand die Befreiung im Free Jazz? Vor dem Free Jazz fand Jazz ausschließlich in klar definierten Strophenformen über klar definierten Akkordwechseln statt. Diese Schablone bestimmte den Lauf der Musik: Einem Solisten mochten beim Spiel noch so geniale Ideen einfallen, letztlich musste er sie doch dem Gang der Harmonien unterordnen. Er war wie ein Skiläufer im Slalomkurs, ein Hamster im Rad, eine Ratte im Labyrinth – es gab kein Entkommen. Für Ornette Coleman, den viel zitierten „Vater des Free Jazz“, war das eine Fessel, die aus dem Hintergrund in den Vordergrund griff und das Geschehen bremste und einengte. „Lasst uns die Musik spielen, nicht den Background!“, so seine Losung. Jazz sollte sich vom Akkordgerüst befreien wie die abstrakte Malerei von den Gegenständen.

Seit dem Free Jazz müssen Formeinheiten nicht länger aus 4, 8, 12 oder 16 Takten bestehen. Die Einheiten können sechseinhalb Takte lang sein oder elf Takte oder unbestimmt lang. Das Metrum kann mittendrin wechseln, das Tempo kann wechseln, es muss auch keine Taktstriche mehr geben, nicht mal mehr einen Beat. Statt über Akkordfolgen improvisiert man über Tonleitern, etwa Kirchentonarten, Pentatonik, orientalische oder völlig neuartige Skalen, oder auch nur über vage tonale, dynamische, klangliche Orientierungen, die sich verändern können. Statt aus einer Folge von gleichartigen Strophen können Stücke aus widersprüchlichen Teilen zusammengesetzt sein, einem Walzerteil, einem Marsch, einem Rubato, alles auch mit improvisierten, womöglich kollektiven Übergängen... So entstand ein Experimentierfeld formaler, tonaler, rhythmischer Möglichkeiten: Das war der Befreiungsakt des Free Jazz. Mit Anarchie oder Beliebigkeit allerdings hatte das nichts zu tun. Wer ohne bindende Formeln spielt, muss umso mehr Disziplin entwickeln. Eine neue Logik der Improvisation wird da nötig, ein neues Aufeinander-Hören, eine gesteigerte Kollektivität und Gruppen-Verantwortung.

Aus den Tönen entkommen!

Bläser, die natürlichen Führungsstimmen des Jazz, waren im Free Jazz tonangebend – so wie zuvor schon im Swing, Bebop oder Cool Jazz. Vor allem die Saxofonisten setzten früh die Wegmarken: der visionäre Ornette Coleman natürlich, dann der ekstatische John Coltrane, der intellektuelle Archie Shepp, der hymnische Albert Ayler, auch Gato Barbieri aus Argentinien, Pharoah Sanders, Eric Dolphy, Marion Brown, Joseph Jarman, Roscoe Mitchell, John Tchicai, Anthony Braxton... Bei den Trompetern: Colemans Weggefährte Don Cherry, dann der später als Hardbopper bekannte Freddie Hubbard, der Growl-Spezialist Lester Bowie, Leo Smith, Bill Dixon... Oder die Posaunisten Roswell Rudd und Grachan Moncur III.

Diese frühen Free-Jazz-Bläser haben nicht nur die Strukturen des Jazz verändert, sondern auch die Sprache ihrer Instrumente „befreit“. Vieles von dem, was ein Bläseranfänger zu vermeiden sucht – falsche Griffe, verschmierte Töne, verschatteter Klang, unsaubere Tonbildung, halb gedrückte Ventile, lockeres Saxofonblättchen –, haben Free-Jazz-Bläser als Bereicherung ihrer Ausdrucksmittel geradezu kultiviert und perfektioniert. Da wurden Grummel- und Röchelgeräusche erzeugt, Klangschlieren und Mehrklänge. „Du musst dein Instrument wirklich beherrschen, um aus den Tönen in die Klänge zu entkommen“, meinte der Saxofonist Albert Ayler.

Die Free Jazzer entdeckten, dass man Blasinstrumente auf allerlei unkonventionelle Art sinnvoll einsetzen kann: geräuschhaft, perkussiv, ohne Mundstück oder allein mit dem Mundstück. Sie entdeckten auch, dass es einen ganz eigenen Charme haben kann, wenn man Themen unscharf und nicht ganz so exakt intoniert. Mit Überblastechniken und Vierteltönen wurde experimentiert, mit Hallräumen und Obertonspektren – auch manche historische Spieltechnik aus dem Dixieland oder Rhythm&Blues wurde wieder belebt, etwa das Growl-Vibrato (mit Stimme). Außerdem hat man das Klangspektrum durch zusätzliche Instrumente erweitert: Die Saxofonisten entdeckten das Sopran-, Sopranino- und Basssaxofon, sogar Fagott und Oboe, die Bassklarinette und Flöten aller Art. Der Trompeter Don Cherry spielte am liebsten auf einer „pocket trumpet“ oder einem alten Kornett.

Nicht in Tönen denken!

Viele – auch Free-Jazz-Verächter – beeindruckte der frühe Ornette Coleman durch die elementare Qualität seiner Phrasen. Seine Läufe auf dem Altsaxofon sprengten zwar formale Grenzen, besaßen aber diesen ausgeprägt stimmlichen, fast folkloristischen Ton. Das Geheimnis: Coleman manipulierte die Intonation durch „falsche“ Fingersätze und unkonventionelles Anblasen. „Ein F in einem Stück namens ‚Peace’ muss eine andere Klangfarbe haben als ein F in einem Stück namens ‚Sadness’“, so lautete seine Überzeugung. Später hat sich die Klangfärbung im Free Jazz immer mehr verselbstständigt: Auch entlang von Klangschattierungen kann man ein Solo entwickeln.

Bei John Coltrane sprach man schon früh von „sheets of sound“, weil seine extrem schnellen Arpeggien auf dem Tenorsax wie Klangflächen wirkten. „Ich dachte damals in Notengruppen, nicht in Tönen“, sagte er. Später hat er echte „Klangflächen“ erzeugt, verschmierte Läufe, Tremoli, verwischte Konturen. Seine halbstündigen Soli waren legendär: mit sequenzierten Steigerungen und anschwellender Dynamik bis hin zu Kreischtönen in der vierten Oktave. Coltranes ekstatische Soli prägten eine ganze Generation von Tenorsaxofonisten. Durch ihn kam auch das Sopransaxofon in den modernen Jazz – als eine Art „orientalisch näselnde Oboe“.

Dem Tenorsaxofonisten Archie Shepp gelang es, historische Spieltechniken ironisch zu verfremden. Herausplatzende Stakkato-Salven, verschliffene Töne, ganze Klangblöcke oder ein schnurrender Balladen-Sound mit viel hörbarer Luft verschmolzen bei ihm zu einer neuartigen Saxofon-Grammatik. „Er steht über allen Begriffen wie Note, Stück, Komposition, Solo“, sagte die Pianistin Carla Bley über Shepp. Noch neuartiger war das Spiel seines Tenorkollegen Albert Ayler, der seine trivialen Hymnen bewusst unscharf intonierte und dann im Solo alles Melodische hinter sich ließ. Mit einem vibratoreichen, pathetischen Sound zog er gellende Klangbänder, die kaum mehr der temperierten Stimmung zuzuordnen sind.

Auch beim Tenorsaxofonisten Pharoah Sanders kann man keine klaren Tonfolgen mehr ausmachen. Sanders gilt als der „Vater der Multiphonics“, als Erfinder des Cluster-Spiels auf dem Saxofon. Dank neuer Griff- und Ansatztechniken („Flatterzunge“) und besonderer Mundstück- und Überblastricks schuf er schreiende, kreischende Tontrauben in ungewöhnlichen Klangfärbungen. „Es passiert, dass die Noten zerfließen, unwichtig werden, dass ich mich über sie erhebe“, sagte Sanders einmal. Bei ihm wurde das Blasinstrument zur Soundmaschine, frei von allen blastechnischen Beschränkungen. Free Jazz eben.

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Das Album:

Free Jazz: A Collective Improvisation
New York, 21. Dezember 1960
Ornette Coleman (Altsax), Eric Dolphy (Bassklarinette), Don Cherry (Taschentrompete), Freddie Hubbard (Trompete), Scott LaFaro (Kontrabass), Charlie Haden (Kontrabass), Billy Higgins (Schlagzeug), Ed Blackwell (Schlagzeug)

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Weitere wichtige Alben des frühen Free Jazz:

Albert Ayler: New York Eye And Ear Control (1964)
Don Cherry: Complete Communion (1965)
Ornette Coleman: The Shape Of Jazz To Come (1959)
John Coltrane: A Love Supreme (1964)
Eric Dolphy: Out To Lunch (1964)
Roscoe Mitchell: Sound (1966)
Grachan Moncur III: Evolution (1963)
Pharoah Sanders: Tauhid (1966)
Archie Shepp: Fire Music (1965)
Cecil Taylor: Unit Structures (1966)

© 2011, 2020 Hans-Jürgen Schaal


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