Noch vor „Hänsel und Gretel“ und „Schneewittchen“ rangieren auf der in- und ausländischen Beliebtheitsskala die „Bremer Stadtmusikanten“. Sie sollen das verbreitetste aller deutschen Märchen sein.
Die Bremer Stadtmusikanten
Aufbruch zum Sehnsuchts-Ort
(2012)
Von Hans-Jürgen Schaal
In nahezu 200 Sprachen und Dialekte wurde das Märchen übersetzt, auch ins Suaheli, Tamilische und Bairische. Die Stadtmusikanten haben zu zahllosen Theaterstücken, Verfilmungen, Musicals angeregt. Sie haben Brettspiele inspiriert und Kindergärten ihren Namen gegeben. Etliche Bücher kursieren, die die Geschichte sogar weiterstricken, häufig unter dem anmaßenden Motto „Die Wahrheit über die Bremer Stadtmusikanten“.
Die Popularität dieses Märchens ist ja auch kein Wunder. Seine Helden sind unschuldige Tiere, denen am Anfang böse mitgespielt wird, was unser Mitleid und unsere Sympathie weckt. Am Ende aber besiegen die schwach geglaubten Guten sogar die gefährlichen, starken Bösen. David schlägt Goliath – das ist auch das Erfolgsrezept von Karl May und Joanne K. Rowling. Da jubeln nicht nur Kinderherzen, selbst die Erwachsenen nehmen manche Lehre mit: Entrechtete, vereinigt euch! Geschlossen nur sind wir stark! Mancher sozialkritische Geist verstand das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten als Aufruf zur Hausbesetzung und zur Vertreibung der Miethaie, zur Gründung einer Selbsthilfegruppe oder einer Senioren-WG. Erst kürzlich bemühte das Theater Bremen die Stadtmusikanten für ein Stück mit dem Titel „AltArmArbeitslos“.
Überhaupt begegnet man in Bremen den Stadtmusikanten auf Schritt und Tritt. Das Denkmal von Gerhard Marcks beim Rathaus ist eine Touristen-Attraktion: Wenn man die Vorderbeine des Esels anfasst und sich etwas wünscht, geht dieser Wunsch in Erfüllung, heißt es. In den Andenkenläden der Stadt werden unzählige Versionen und Nachdichtungen des Märchens angeboten, Bilderbücher, Bildserien und Malbücher en masse. Die vier Tiere prangen auf Tassen und T-Shirts und Souvenirs aller Art, sogar ein Bremer Akkordeonorchester hat sich nach ihnen benannt. Weltweit sind Esel, Hund, Katze und Hahn zum Wahrzeichen der Hansestadt geworden: Bremens Identitätsstifter und Sympathieträger.
Doch was haben die Bremer Stadtmusikanten eigentlich mit Bremen zu tun? Im Grunde gar nichts. In dem Märchen, das 1819 von den Brüdern Grimm veröffentlicht wurde, kommen die Tiere gar nicht in Bremen an. Sie haben die Reise auch gar nicht mehr vor, nachdem das Räuberhaus erobert ist: „Den vier Bremer Musikanten gefiels so wohl darin, dass sie nicht wieder heraus wollten.“ Esel & Co. sind nie Stadtmusikanten geworden, auch wenn die Deutsche Märchenstraße heute nach Bremen führt. Bremen war nur ein symbolischer Sehnsuchts-Ort: die städtische Freiheit, der Hafen, die Auswandererschiffe nach Amerika, vielleicht eine feste Anstellung bei der Rats- oder Stadtmusik, die gelegentlich auch Wander-Musiker engagierte. Man kann sich vorstellen, wie Mägde und Knechte eines Gutshofs sich solche Geschichten an den langen, dunklen Abenden erzählten, als es noch kein Fernsehen und keine Telenovelas gab. Man träumte von einem besseren Leben in der Stadt und bangte um das Gnadenbrot im Alter.
Die Germanisten sind sich uneins, ob es sich bei den „Bremer Stadtmusikanten“ überhaupt um ein Märchen handelt oder nicht vielmehr um eine Legende, eine Fabel, eine alte Zaubersage. Vielleicht sogar eine Satire? Der Mann, der die Geschichte den Brüdern Grimm erzählt haben soll, war wohl ein katholischer Gutshofbesitzer in Westfalen, östlich von Paderborn. Er hatte die Geschichte vielleicht schon als Kind bei einer Dienstmagd aufgeschnappt und möglicherweise so manches hinzugedichtet. Womöglich verachtete der Gutsherr das freie evangelische Bremen und hielt dessen Stadtmusik eigentlich für Katzenmusik. „Du hast eine gute Stimme, und wenn wir mitsammen musizieren, so muss es eine Art haben“, sagt der Esel ausgerechnet zum Hahn, dessen Geschrei ihm gerade noch „durch Mark und Bein“ ging. Pure Ironie?
Dennoch ist Bremen stolz auf die Stadtmusikanten, die dort nie angekommen sind. Zahlreiche Ortschaften rund um Bremen glauben aber noch mehr Grund zum Stolz zu haben, denn sie begreifen sich als die wahren Heimatorte der vier Tiere. Plastiken, Gedenktafeln und sogar ein Radwanderweg erinnern dort an das Märchen. Auch im Westfälischen glaubt man genau zu wissen, wo das Haus der Räuber einst stand, nämlich in Feldtokansen, einem aufgegebenen Siedlungsort zwischen Brakel und Bosseborn.
Ein Grund, warum die „Bremer Stadtmusikanten“ die ganze Welt erobern konnten, ist auch: Die Geschichte war in dieser oder jener Form überall schon vorhanden. Uralte Legenden von Haustieren, die zusammen auf Wanderschaft gehen und gegen Räuber oder wilde Wölfe kämpfen, findet man in Skandinavien und Russland, in Italien und Albanien, sogar in Nordafrika und Ostasien. Die Hauptdarsteller wechseln je nach Region: In Portugal ist ein Schaf mit von der Partie, in Russland ein Schwein, in Sizilien ein Marder. Das Märchen gehört dem ganzen Erdball.
Ganz bremisch dagegen ist die Sage von der Gluckhenne, die Gründungslegende der Stadt. Seit 1612 ziert ein Relief der Gluckhenne die Arkaden des Bremer Rathauses. Die Skulptur der Stadtmusikanten aber gibt es erst seit 60 Jahren.
© 2012, 2022 Hans-Jürgen Schaal
© 2012 Hans-Jürgen Schaal |