Alfred Lion, der Produzent von Blue Note, war ein Klavier-Enthusiast. Neben Thelonious Monk und Herbie Nichols gehörte der Pianist Andrew Hill (1931-2007) zu seinen absoluten Lieblingen.
Andrew Hill
Späte Korrekturen
(2021)
Von Hans-Jürgen Schaal
Joe Henderson (Tenorsaxofon) hatte gerade erst seine Debütplatte für Blue Note aufgenommen, da schleppte er im September 1963 für seine zweite Plattensession („Our Thing“) einen ziemlich unbekannten Pianisten an. Doch nur einen Monat später durfte dieser Andrew Hill auch Hank Mobley bei einer Aufnahmesession begleiten, einen weiteren Monat später seine erste eigene Blue-Note-Platte machen („Black Fire“). Hills unberechenbare, knorrige Art, die Tasten zu bearbeiten, seine Kehrtwendungen, Sprünge, kantigen Läufe und tonalen Grenzgänge begeisterten den Produzenten Alfred Lion mehr, als es ein Herbie Hancock oder Horace Silver vermochten, die für das Label doch kommerziell viel erfolgreicher waren.
Weil Lion einen Narren an Hill gefressen hatte, ließ er ihn nach Belieben gewähren – und Hills Kreativität kannte kaum Grenzen. In kurzer Zeit nahm der Pianist für Blue Note rund 20 eigene Alben auf – im Trio, im Quartett, Quintett, Sextett, sogar mit Streichquartett oder Chören. „Da gingen jede Menge neuer Ideen um, es gab eine große Offenheit“, erinnerte sich Hill später. „Man machte immer den nächsten Schritt, man wollte nie stehen bleiben.“
Als Lion das Label 1967 verkaufte, war ein Teil von Hills Aufnahmen noch gar nicht veröffentlicht – und die neuen Besitzer hatten anderes zu tun. Erst der freie Produzent Michael Cuscuna kam auf die Idee, in den Blue-Note-Archiven einmal nach ungehobenen Schätzen zu suchen – das war 1975. Unter anderem fand er drei unveröffentlichte Plattensessions von Andrew Hill.
Schon gleich 1975 erschien dann das Quintettalbum „Pax“ (Blue Note 58296) von 1965. Freddie Hubbard und Joe Henderson sind die Bläser, Richard Davis und Joe Chambers spielen Bass und Drums. Diese Traumbesetzung sowie Hills Kompositionen knüpfen deutlich bei seinem Meisterwerk „Point Of Departure“ an, dessen „Held“ Eric Dolphy gewesen war. Im Opener, einem schnellen Blues, steckt Dolphy sowohl im Tonfall der Melodie wie im Stücktitel („Eris“). Diese und die drei folgenden Nummern gehören zu den stärksten, vielfältigsten Kompositionen, die Hill je aufgenommen hat, zum Beispiel „Euterpe“ mit seiner unregelmäßigen Chorusform und den wechselnden Rhythmen. Als Zugaben gibt es noch zwei kurze Pianotrio-Stücke: die wunderbare, metrisch flexible Ballade „Erato“ sowie „Roots ’n’ Herbs“, das diverse Soul- und Latin-Grooves verwendet.
Das Quartettalbum „Change“ (Blue Note 85190) von 1966 erschien erstmals 1976 – damals allerdings unter dem Namen des Saxofonisten Sam Rivers, der gerade als „Bürgermeister der Loft Scene“ für Schlagzeilen sorgte. „Change“ enthält Hills ersten Ausflug in den Free Jazz: Der Opener „Violence“ befreit sich resolut von Harmonik und Time. Spannend ist, in diesem Kontext ein Cembalo zu hören. In den fünf anderen Stücken spielen Rhythmen dagegen noch eine wichtige Rolle, u.a. ein afrokubanischer Groove („Illusion“) und ein kraftvoller Fünfvierteltakt („Desire“). Fast jedes Stück hat aber auch längere Out-of-tempo-Passagen, zum Teil mit wunderschönen Melodien. Wiederum gibt es zwei reine Triostücke – wahrscheinlich hat Klavier-Fan Alfred Lion darauf bestanden. Sowohl das an Monks Eckigkeit erinnernde „Pain“ wie die Ballade „Lust“ haben das Zeug zum Jazzklassiker.
Etwas ganz Besonderes ist das Nonettalbum „Passing Ships“ (Blue Note 93871) von 1969. Weil Cuscuna zunächst nur einen Rough Mix davon fand, wurde 1975 der Release zurückgestellt – erst 2003 erschien dieses grandiose Album. In den sieben Stücken erprobt Hill ein Miniatur-Bigband-Konzept mit sechs Bläsern. Joe Farrell, der einzige Saxofonist in der Band (mit diversen Nebeninstrumenten), spielt solistisch und klangfarblich die Hauptrolle. Klanghärten, komplexe Stimmverzahnungen und neue Rhythmen (mit Soul-Funk-Einschlag) prägen die Arrangements. Es gibt aber auch exotisierende Melodien auf Englischhorn und Altflöte. „Plantation Bag“ dürfte Hills abenteuerlichstes Bluesthema sein. „Yesterday’s Tomorrow“ ist humorvolle Nostalgie mit riskanten Bläserakkorden. „Dieses Album gehört zu meiner Lieblingsmusik von Andrew Hill“, sagt Cuscuna.
© 2021, 2023 Hans-Jürgen Schaal
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