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Was Rockmusik kann, ist noch lange nicht zu Ende definiert. Die Zahl der Andockstellen für Ausdrucksmittel anderer Genres scheint unbegrenzt. Daran erinnern uns drei grandiose, aber ganz verschiedene Bands aus Belgien.

Belgische Spezialitäten
Avant-Rock zwischen Zeuhl und Fusion
(2021)

Von Hans-Jürgen Schaal

Aus Belgien kommt so mancher Leckerbissen. Berühmt sind die belgischen Pralinen und Waffeln – oder auch Handfesteres wie Fritten und Bier. Auch musikalisch hat Belgien – schon seit den Tagen von Ockeghem und di Lasso – den Feinschmeckern so einiges zu bieten. In neuerer Zeit gehörten Formationen wie Flat Earth Society, Aka Moon, X-Legged Sally und dEUS zu den absoluten Leckereien in der Welt des Independent Rock und Independent Jazz. Oder denken wir an Univers Zéro, die Pionierband des RIO (= Rock in Opposition), die als Ehrenrettung des gesamten Rock-Genres gelten darf (s. Image Hifi 148). Die RIO-Bewegung um Henry Cow und Univers Zéro gab in den späten Siebzigern eine starke, erwachsene Antwort auf den „Progrock light“ à la Marillion.

Als direkter Ableger von Univers Zéro entstand die Band Présent. Roger Trigaux (1951-2021), ein Mitbegründer von Univers Zéro, startete dieses Projekt 1979. Trigaux, dessen Instrument die elektrische Gitarre war, fühlte sich damals im „klassisch“-akustisch orientierten Klangbild von Univers Zéro (mit Oboe, Violine etc.) nicht mehr so recht zu Hause. Er wünschte sich die Musik elektrischer und rockiger. Zwei seiner Kollegen von Univers Zéro unterstützten sein Projekt Présent anfangs tatkräftig: der Bassist Christian Genet und der Drummer Daniel Denis, der eigentliche Chef von Univers Zéro.

„Le Poison Qui Rend Fou“ war das zweite Album von Présent – es entstand Anfang 1983 im belgischen Mons. Weil die Plattenfirma (Atem) pleite ging, erschien dieser Meilenstein progressiver Rockmusik erst 1985 auf dem damals noch ganz jungen US-Label Cuneiform (s. Image Hifi 154). Ähnlich wie bei Univers Zéro meidet die musikalische „Sprache“ der Band die übliche Rock-/Pop-Harmonik – sie ist vielmehr chromatisch, atonal, düster, offen für Dissonanzen, verminderte Quinten und Neutönerei. Ihre Inspirationen holt sich die Band von der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts und von Rock-Avantgardisten wie Magma und King Crimson. Die schneidend scharfe E-Gitarre (Roger Trigaux), das komplexe, ausgearbeitete Schlagzeugspiel (Daniel Denis) und der treibende Einsatz des Klaviers (Alain Rochette) machen die Musik von Présent beinahe zu einem eigenen Genre.

Das zweiteilige Titelstück – insgesamt 25 Minuten lang – ist nicht nur wegen des Umfangs ein Monster-Track. Erbarmungslose Motorik, insistierende Motive, ständige Ideen- und Rhythmuswechsel, virtuose Tempi, herausfordernde Chromatik mit tonalen Zentren... Für eine besondere Klangfarbe sorgt hier die klassische Sängerin Marie-Anne Polaris: Ihr etwa einminütiger Beitrag lässt an Zwölftonmusik denken. (Polaris hatte Trigaux provoziert mit der Behauptung, sie könne alles singen, was er für sie schreibe.) Viel bewundert wurde auch Trigaux’ nervöses Fünf-Minuten-Stück „Ersatz“, in dem sich King Crimson und Béla Bartók zu begegnen scheinen. Den Schluss macht „Samana“, eine Neun-Minuten-Nummer des Keyboarders Rochette, ursprünglich geschrieben für zwei Klaviere – bei der Aufnahme spielte er einen der Klavierparts aber am Synthesizer. Den wie immer anspruchsvollen Schlagzeugpart hat Drummer Denis penibel ausgearbeitet: „Er hatte völlige Freiheit und zwei Wochen Zeit dafür.“ (Die CD-Edition von 2014 bietet auf einer Bonus-Scheibe zusätzlich einen brillanten Konzertauftritt der Band von 1982.)

Die Formation The Wrong Object (TWO) begann 2002 als Frank-Zappa-Coverband – in der Band-Diskografie finden sich Alben wie „Live At Zappanale“ (2010) und „Zappa Jawaka“ (2018). Der Bandleader Michel Delville, im Hauptberuf Literaturdozent, spielt erwartungsgemäß die Gitarre. Dem amerikanischen Rock-Avantgardisten Zappa sind The Wrong Object auch in ihren Eigenkompositionen hörbar verpflichtet: Technisch komplexe Motive, bizarre Stakkatofiguren, eine zerklüftete Melodieführung und triolische Einschübe lassen immer wieder an den großen Lehrmeister denken. Das belgische Instrumenal-Sextett (mit gleich zwei Saxofonisten!) orientiert sich vor allem an Zappas „jazznaher“ Phase Anfang der Siebziger – es gibt aber durchaus auch Verbindungslinien zu Formationen wie Gong, Colosseum und Soft Machine. Wegen der Nähe zu Zappas „Fusion“-Verständnis (vgl. Zappas Alben „The Grand Wazoo“ und „Waka Jawaka“) taucht der Name The Wrong Object gelegentlich sogar in Jazz-Empfehlungslisten auf. Britische Jazzrock-Musiker wie Annie Whitehead, Elton Dean (Soft Machine) und Harry Beckett wirkten schon als Gäste mit.

Das jüngste Album „Into The Herd“ (2019) enthält neun zündende Eigenkompositionen der Band. Der jazzrockige Drive und die massiven Saxofonriffs sorgen hier für eine Atmosphäre zwischen Filmmusik-Dramatik, Fusion-Jam-Feeling und Black-Sabbath-Doom. Die beiden jazzinspirierten Bläser (Marti Mella und François Lourtie), die Gitarre (Michel Delville) sowie die Keyboards (Antoine Guenet) liefern eine ganze Serie packender, offensiver, teils umfangreicher Improvisationen ab. Viele Rhythmuswechsel und eingeschobene Episoden (auch balladenhafte) halten außerdem die Spannung aufrecht. Der Journalist Roger Trenwith schreibt: „Man sollte die Straße gut im Auge behalten, denn das Album schlängelt sich durch viele Stilwechsel [...]. An diesem ‚Objekt‘ ist nichts ‚wrong‘. Es ist ein wunderbares Beispiel für grandiose Musik von hohem Kaliber.“

Aus Gent im flämischen Teil Belgiens kommt die Formation John Ghost – ebenfalls ein Instrumental-Sextett. Der Bandleader Jo De Geest – wieder ein Gitarrist – hat seinen eigenen Namen (leicht verballhornt) zum Namen der Band gemacht. John Ghost spielen einen eklektischen Stil von Rockmusik, der noch keinen Namen hat, aber unendlich inspirierend klingt. Darin finden sich Elemente von Minimal Music, Canterbury, zeitgenössischem Jazz, Elektronik und sogar Noise. Journalisten beschrieben diese Musik als „Instrumentaljazzprog“ oder „minimalistischen Kammerrock“. Sanfte, pastellene Sounds stehen im Mittelpunkt, dazu kommen ein hypnotisierendes Pulsieren, eine verzinkt chromatische Motivik, aber auch gemächliche Entwicklungen. Das Altsaxofon von Rob Banken sorgt für den kammerjazzigen Einschlag. Die Orchester-Percussion von Wim Segers liefert den Klassik- und Minimal-Music-Touch.

2019 erschien das zweite Album der Band: „Airships Are Organisms“. Schon der Opener „Deconstructing Hymns“ (13 Minuten!) kennt mehrere Phasen oder Ebenen musikalischen Geschehens. Eine hymnische Elektronik-Fantasie macht den Anfang. Dann übernimmt ein pulsierender Percussion-Teppich à la „Steve Reich meets Pierre Moerlen“. Im thematischen Teil treffen u.a. eine zerklüftete Saxofonmelodie, insistierende Gitarrenfiguren und ein jazzrockiges Schlagzeug aufeinander. Und im weiteren Verlauf kommt es auch zu einigen geräuschhaften Verfremdungen und Klangabenteuern. So unkonventionell diese proggige Musikmischung wirken mag, so geschmackvoll ist sie ausbalanciert. Die Band zaubert mit ihren speziellen Klangfarben wie Vibrafon, Fender Rhodes, Flöte und Bassklarinette. Der Kritiker Achim Breiling spricht von einer „luftigen, aber durchaus komplex verzwirbelten Musik“, die „einen ganz eigenen, minimalistisch-sinfonisch-kinematografischen Charakter“ entfalte. Der niederländische Journalist Dick Hovenga ist sich sicher: „Dieses Album ist nicht nur ein Highlight der belgischen Musikgeschichte. In absehbarer Zeit wird es als internationaler Meilenstein der Musik gelten.“

2021, 2023 Hans-Jürgen Schaal


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