Zwischen düster, finster und rabenschwarz... Wer zu Depressionen neigt, sollte sich von dieser Musik fernhalten. Oder ist das Gegenteil wahr? Fühlen sich Melancholiker und Verzweifelte bei Zeuhl-Klängen endlich einmal so richtig verstanden und lernen, ihr Leben anzunehmen? Zeuhl verspricht Hör-Erfahrungen, die nicht spurlos an einem vorübergehen.
Sprechen Sie Kobaianisch?
Signale aus dem Zeuhl-Kosmos
(2019)
Von Hans-Jürgen Schaal
Zïss ünt ëtnah Zïss ünt ëtnah / Dö wëhlïlïp döwatsïndöh / Rï sï sündï siwëhn dö loï siwëhn dö / ë dobëhn ŠlaGëhn / Hël Hël Hël worïtstoh wahn worotsaï / Wirt Straïn Zëbëhn Dë Geuštaah / Da felt dö Dos Hamdaak / Da felt dö Stöht Wurdah / Da felt Nëbëhr Gudahtt / Da felt dos Kreuhn Köhrmahn...
So also liest sich Kobaianisch. Diese Sprache wird angeblich auf dem fernen Planeten Kobaia benutzt, ist tatsächlich aber eine Erfindung der französischen Rockband Magma. Das wohl bekannteste kobaianische Wort lautet „Zeuhl“ – gesprochen: „söl“ mit stimmhaftem „s“ – und bedeutet so viel wie „himmlisch“. Zeuhl steht heute als Name für ein ganzes Subgenre der Rockmusik, eine düster-hypnotische Variante des ProgRock. 1973 wurden die „Sprache“ Kobaianisch und das Subgenre Zeuhl geboren, und zwar auf einen Schlag mit dem (dritten) Magma-Album, „Mekanïk Destruktïw Kommandöh“. Dieses Album, bei dem der Jazzdrummer Christian Vander Regie führte, gilt bis heute als der Klassiker von Magma und als große Inspiration für die Rockmusik. Mehrfach wurde es unter die 50 wichtigsten Prog-Alben aller Zeiten gewählt. Es ist quasi das Alte Testament der gesamten Zeuhl-Szene.
Stur stampfende Rhythmen und ständig sich wiederholende Bassfiguren prägen über weite Strecken dieses Album, dazu aggressive Bläserriffs und schwirrende Gitarrensounds. Besonders charakteristisch aber sind die teils bombastischen Männer- und Frauenchöre, die hin und wieder auch ins Beschwingt-Opernhafte oder Schrill-Kreischende anwachsen. Dieser kobaianische Chorgesang hat oft etwas Bedrohliches, Beklemmendes und Archaisches, manche empfinden ihn dagegen als majestätisch und mitreißend. Nicht selten erinnern die motivisch knappen Chormelodien an Carl Orffs „Carmina Burana“. Und sagen wir es ruhig: Kobaianisch klingt ein wenig wie eine absurde Imitation des Deutschen oder Norwegischen. Daher könnte man den dumpf-martialischen Gestus zeitweise auch für eine Parodie auf den „Sound“ des deutschen Faschismus halten. Und manchmal wirken die kobaianischen Donnerchöre auch einfach nur versponnen und lustig.
Natürlich entwickelt das Album in seinen sieben Stücken noch eine Vielzahl weiterer Facetten. Bläser und Orchesterperkussion sorgen für klangliche Abwechslung, ein hartnäckiger 7/4-Rhythmus erzeugt einen trancehaften, wirklich „Magma-artigen“ Flow, harmonische und rhythmische Brüche haben dann eine entsprechend starke Wirkung. Kleine Frickeleien, raffinierte Zwischenmotive und jazzige Synkopierungen lassen sogar an Frank Zappa denken. Einige der Grooves sind auch durchaus funky. Doch die repetitiven Strecken und die Dominanz der Chöre geben diesem Album einen ganz eigenen Charakter, der weder an Rock noch Jazz erinnert – kein Wunder also, dass man „Mekanïk Destruktïw Kommandöh“ als den Beginn einer neuen Musikrichtung empfunden hat. Ein Klangerlebnis, das man nicht vergisst.
Im Lauf der Jahre haben viele namhafte Musiker die Formation Magma durchlaufen, darunter die Jazz- und Fusionkünstler Marc Fosset (Gitarre), Jannick Top (Bass), Michel Graillier (Piano), Brian Godding (Gitarre) oder Didier Lockwood (Violine). Die Musikrichtung Zeuhl ist heute eine stilistisch breit gefächerte Szene mit fließenden Übergängen zum eigentlichen ProgRock, zum Jazz oder zum RIO (Rock in Opposition). Besonders in Frankreich, dem Heimatland von Magma, und in Japan, wo man Schrillheiten schätzt, bekennen sich Bands gerne zu Zeuhl.
Rund zehn Jahre nach dem Magma-Klassiker gründete sich in Frankreich die Band Shub Niggurath. Dieser Name klingt zwar auch irgendwie kobaianisch, entstammt aber dem düster-infernalischen Cthulhu-Mythos, den der Fantasy-Autor H.P. Lovecraft (1890-1937) erfunden hat. Bei ihm ist Shub Niggurath eine beängstigende Fruchtbarkeitsgottheit, eine Art giftige Wolke, aus der Tentakel sprießen. Die dämonisch-außerirdischen Visionen von Lovecraft haben immer wieder die Rockmusik inspiriert, vor allem im Heavy-Metal-Bereich. Auch „Yog-Sothoth“, das Eröffnungsstück auf dem Album „Introduction“, ist nach einer mythisch-düsteren Lovecraft-Gestalt benannt. Das Album kursierte 1985 als Musikkassette, noch bevor das eigentliche Debütalbum erschien – die Kassette hatte ursprünglich als Demoband für die Veranstalter der ersten Tournee gedient. Erst 2009 wurde die legendäre Kassette offiziell veröffentlicht, nun natürlich in digitaler Klangaufbereitung.
Die Band um Jean-Luc Hervé (Keyboards) und Franck William Fromy (Gitarre) geht auf „Introduction“ als Sextett zu Werke. Die Stimmung ist dunkel bis bedrohlich, die Tempi sind überwiegend langsam, schreitend, hypnotisierend, und zuweilen bilden sich freie, atonale Klangnebel-Bilder. Besonders faszinierend bei Shub Niggurath ist das kontrapunktische Zusammenspiel zwischen zwei oder mehr Ebenen, meist einer großintervalligen, irrlichternden Melodie und einer düsteren, eigenwilligen Bassstimme. Die freitonale Spannung zwischen den Ebenen hat etwas Gewaltiges, Konstruktives, Souveränes an sich. Für den besonderen klanglichen Charakter der Musik sorgen außerdem die Stimme von Ann Stewart und die Posaune von Véronique Verdier. Anspruchsvoll ist das Ganze, ein wenig apokalyptisch, von einer seltsam schrägen Klarheit.
Zu den echten Pionier-Ensembles im Zeuhl-Bezirk gehört die belgische Formation Univers Zéro, deren Vorgängerband Necronomicon hieß – dieser Name war ebenfalls H.P. Lovecraft verpflichtet. Das Besondere an Univers Zéro ist die Instrumentierung: Einer der fünf Musiker spielt Oboe und Fagott, ein anderer Violine und Bratsche. Der Bassist bevorzugt ein rein akustisches Instrument, der Gitarrist sitzt viel hinterm Harmonium, und der Schlagzeuger spielt „gestaltend“, fast wie ein klassischer Perkussionist oder wie der Jazzdrummer Shelly Manne. Das Klangbild ist also der klassischen Musik angenähert, auch wenn die Stücke häufig „elektrische“ Höhepunkte besitzen (E-Gitarre). Univers Zéro klingen streckenweise nach düsterer Neuer Musik und verstörendem freiem Jazz – eine Art „Kammer-Prog“ in Zeitlupe.
Die Band entstand 1974 und veröffentlichte fünf Jahre später ihr (zweites) Album „Hérésie“. Damals begannen Univers Zéro durch Europa zu touren, natürlich mit einem schwarzen Bandbus. Sie trugen schwarze Klamotten und Sonnenbrillen und stellten sich gerne als Friedhofsmusiker vor. Daniel Denis (Schlagzeug) und Roger Trigaux (Gitarre) waren die führenden Köpfe und schrieben alle Stücke fürs Album. Am ambitioniertesten ist der Opener „La Faulx“, ein 25-minütiger Musiktrip – er gilt bis heute als der Höhepunkt im Schaffen der Band. Über mindestens zwei Jahre entwickelte sich das Stück von Daniel Denis von Performance zu Performance. Am Anfang war da wohl nur die Idee für eine atmosphärische Stimmung, eine Einleitung. „Daran bauten wir weiter“, erzählt der Holzbläser Michel Berckmans. „Wir ergänzten jedes Mal neue Ideen für eine Probe oder einen Auftritt, hörten uns danach die Bänder an, entschieden, welche Teile wir im Stück behalten wollten und welche nicht.“ Eines Tages wurde auch die Einleitung ersetzt – durch eine geführte Improvisation, die nach einer Weile klang, als wäre sie komponiert. „Ich sah in dem Stück den Soundtrack zu einem nicht existierenden Film“, sagt Daniel Denis – später glaubte er Ähnlichkeiten zu Ingmar Bergmans „Das siebente Siegel“ zu entdecken. Schließlich wollte die Band noch die menschliche Stimme einbauen. „Wir wollten singen, aber weder auf Englisch noch Französisch noch Kobaianisch. Wir beschlossen, bedeutungslose Wörter zu erfinden, die zur Stimmung des Stücks passen.“
© 2019, 2023 Hans-Jürgen Schaal
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