Was ist Progressive Rock? „Komplexe Kompositionen, gemischt mit Jazz- und Impro-Teilen, dazu Instrumental-Soli, Übergänge, klassische Anklänge“, sagt der britische Saxofonist Theo Travis. Die Kraft dieser Mixtur ist bis heute ungebrochen – das beweisen drei aktuelle Geheimtipps.
Eklektizismus heute
Zur Aktualität des Progressive Rock
(20189
Von Hans-Jürgen Schaal
Werfen wir zunächst einen Blick zurück in die frühen 1970er Jahre. Auf Platz 1 der US-amerikanischen, britischen oder auch deutschen Albumcharts konnte man damals u.a. folgende Bandnamen finden: Black Sabbath, Deep Purple, Emerson Lake & Palmer, Jethro Tull, Led Zeppelin, Pink Floyd, Santana, Yes. Die sogenannte „progressive“ Richtung der Rockmusik war keineswegs eine avantgardistische Nische, sondern der Normalfall. Prog-Bands machten Millionenumsätze und füllten die größten Hallen. Rockstücke von acht, zehn oder mehr Minuten Länge beglückten eine ganze Generation von Teenagern. Rock war ein Hör-Erlebnis voller Abenteuer, Überraschung, Vielfalt, Entwicklung und Brüchigkeit. Harte Riffs und weiche Melodien, meditative Längen und blitzartige Umschwünge, heterogene Episoden und instrumentale Frickeleien – gerade die spielerische Abwechslung sorgte für das eigentliche Vergnügen beim Hören. Und sie konnte süchtig machen.
Der typische Musikkritiker von damals, ein alter Sack von Anfang 30, hielt Rockmusik dagegen noch immer für ein naives Drei-Minuten-Statement und wartete schon auf den Punk. Dass umfangreiche, komplexe Stücke mit diversen stilistischen Zutaten überhaupt Rockmusik sein sollten, ärgerte den Kritiker einst maßlos. Noch mehr ärgerte ihn, dass diese Musik auch noch Erfolg hatte. Daher erklärte er sie zu seinem Lieblingsfeind und verbrachte viel Zeit damit, progressive Bands und ihre Anhänger zu attackieren. Einige seiner Lieblingsvorwürfe lauteten: eiskalter Perfektionismus, hohles Pathos, platte Theatralik, großorchestraler Kitsch, langatmige Wiederholungssucht, hypnotische Banalität, geistloser Luxus, elitäre Kraftmeierei, musikalischer Pomp, aufgeblasener Bombast, gigantomanische Gleichförmigkeit, unausgegorenes Gebräu, monströses Soundgebilde, egozentrische Verspieltheit. Der progressive Rock hat die Kritiker damals sprachlich enorm inspiriert. Selbst Begriffe wie „Kunst“ und „Intellekt“ wurden bei ihnen zu Schimpfwörtern.
Gerne verbreitete der Musikkritiker die Vorstellung, progressive Rockmusik werde nur von Teenagern aus privilegiertem Hause gehört, die die Erwartungen ihrer Peer Group („Rock“) und ihrer Familie („Anspruch“) unter einen Hut bringen wollten. Als hätten Teenager nichts Besseres im Sinn als faule Kompromisse! Bekanntlich tun Teenager nur das, wozu sie Lust haben. Und bekanntlich ist ihr Innenleben kompliziert. Etliche von ihnen hatten einfach Spaß an Rockmusik in größerer Dimension, an Vielfalt, Überraschung und langem Atem beim Hören. In anderen Bereichen unseres Lebens ist Eklektizismus doch auch völlig selbstverständlich. Beim Essen etwa wollen wir unseren Teller möglichst bunt gefüllt haben, dazu Suppe und Dessert. Auch im Kleiderschrank wird Vielfalt gewünscht, ebenso auf dem Stundenplan der Schule. Der Architekt George Gilbert Scott (1811-1878) schrieb einmal: „Die Eklektik an sich ist ein gutes Prinzip. Es bedeutet, von Künsten aller Art jene Elemente zu borgen, mit denen wir den Stil, den wir als unsere Basis und unseren Kern ausgemacht haben, bereichern und perfektionieren können.“ Wie wahr gesprochen!
Der „Progressive Rock“ hat seine Kritiker überlebt. Bis heute inspirieren seine Fantasieflüge zum Beispiel den Jazz, wie der Schlagzeuger Dave King verrät: „Für viele in unserer Generation öffnete sich die Tür zum Jazz dank Bands wie Yes, King Crimson, Rush, Bill Bruford’s Earthworks und solchen Sachen.“ Auch von manchem klassischen Musiker wurde die Bedeutung des Progressive Rock erkannt. Der Komponist Alberto Ginastera begeisterte sich über Emerson Lake & Palmers Version seiner „Toccata“: „Sie haben die Essenz der Musik eingefangen, das ist noch niemandem so gelungen.“ Keith Emersons Longtrack „Tarkus“ wird heute in sinfonischen Bearbeitungen auch von angesehenen Orchestern aufs Programm gesetzt.
Die sinnliche Lust am musikalischen Eklektizismus ist unverwüstlich. Jedes Jahr schießen neue Prog-Bands aus dem Boden, jedes Jahr erscheinen Hunderte neuer Prog-Produktionen. Da ist zum Beispiel die finnische Band Kairon; IRSE! und ihr Album „Ruination“ (2017). In den sechs Stücken (Durchschnittslänge: 10 Minuten) dominiert ein hypnotisch rockender Sog, ein faszinierender Klangfluss, der sich aus mehreren übereinander liegenden Schichten zusammensetzt. Gitarrenfigur, Basslinie und Drumbeat sind oft polyrhythmisch verzahnt, darüber schwebt eine verführerisch melodische Gesangsmelodie im Falsett. Der Klangfluss schwillt an, wird noisig oder hardrockig, plötzlich tauchen Stromschnellen auf in Form von Saxofonsoli, Synthesizer-Improvisationen oder Gitarrenriffs. Eine düster-chromatische Melancholie zieht sich magisch durch diese Stücke. Folkige und spacige Facetten wechseln einander ab. Zwei Jahre lang haben die Finnen an diesem Album gearbeitet. Der britische „Guardian“ vergleicht das Ergebnis mit der Musik von Gentle Giant, King Crimson und Yes: „Erwarten Sie all die großartigen Dinge, die man mit Prog verbindet: verzwicktes Instrumentalspiel, sowohl leise wie laut, verrückte instrumentale Fortführungen, durchgeknallt rasante Rhythmen und plötzliche Wechsel von einem Songabschnitt zum nächsten. Ach – und ein Gefühl des Visionären und Erhabenen.“
Aus Norwegen kommt die Band Shamblemaths, ein Projekt des Sängers und Multi-Instrumentalisten Simen Ellingsen, der zwei Doktortitel haben soll (in Physik und Politologie). Das Album „Shamblemaths“ (2016) setzt nicht auf hypnotischen Flow, sondern auf harte Brüche, bizarre Klänge und metrische Experimente. In geradezu kurzatmiger Weise jagen sich hier die Einfälle: Metal-Riffs und Jazz-Riffs, lyrische Klavierstellen, skurrile Chöre, kleine Kammermusiken, Saxofonsoli und Orgel-Exkurse. Die Musikteile sind episodisch aneinandergereiht und bilden drei Suiten oder Konglomerate von neuneinhalb, 20 und 27 Minuten Länge. Das Gegengewicht zu den schnell wechselnden instrumentalen Ideen liefern die ebenso zahl- und facettenreichen Gesangsstellen. An der Tagespresse ging das Album zwar vorbei, aber die Fachpresse war sich einig wie selten: „Das gehört zum Wagemutigsten, Beeindruckendsten und Anspruchsvollsten, was in der Musik je gemacht wurde. Shamblemaths ist die Offenbarung des Jahres 2016. Die Musik setzt sich fest im Gehirn, in der Seele, im Körper und im Geist. Eine makellose Destillation des Besten, was der Prog zu bieten hat.“ Auf jeden Fall können Egg, ELP, Genesis, Gentle Giant, Jethro Tull, King Crimson, Magma, Yes und einige andere auf diesen Nachfolger richtig stolz sein.
Ebenfalls im Extremen und Unerhörten bewegt sich die US-amerikanische Band Thinking Plague mit ihrem Album „Hoping Against Hope“ (2017). Hier wird mächtig gefrickelt, auf sperrige, vielschichtige, atemberaubende Weise – und vor allem auf einem beispiellosen musikalischen Niveau! Dieser weitestgehend durchkomponierte Kammer-Fusion-Prog verbindet Rock- und Jazz-Elemente mit der freien Tonalität Neuer Musik. Das ist einerseits hochvirtuos, andererseits völlig ungewohnt. Der Jazzkritiker Glenn Astarita schreibt zum aktuellen Album: „Seit 35 Jahren sind Thinking Plague ein rätselhaftes, gegen Genregrenzen rebellierendes Progressive-Rock-Ensemble. Ihr brodelnder Eintopf besteht aus Art-Rock, Anti-Pop, Prog-Rock, Freejazz sowie Segmenten, in denen sie wie apokalyptische Propheten agieren, angeführt von der sanften, aber eindrucksvollen Präsenz ihrer Sängerin Elaine di Falco.“ Mit zwei Gitarren, einem Bläser (Saxofone, Klarinetten, Flöte), Bass, Schlagzeug, eckigem Zwölftongesang und einigen überraschenden Zusatzklängen von Akkordeon, Oboe oder Kinderklavier bereitet die Band ein einmaliges Klangerlebnis – irgendwo zwischen Ensemble Modern und King Crimson.
© 2018, 2023 Hans-Jürgen Schaal
© 2018 Hans-Jürgen Schaal |