Änglagård, Opeth, Anekdoten – das sind drei Bands aus Schweden, die unverwechselbar eigene Wege gehen. Alle drei starteten ihre Aktivitäten vor 25 Jahren. Alle drei orientierten sich an den Sounds der Seventies. Alle drei haben dem progressiven Rock neuartige, faszinierende Töne geschenkt.
Starker Schweden-Prog
Drei Lieblingsalben aus dem Norden
(2016)
Von Hans-Jürgen Schaal
Schweden ist nicht nur ABBA, Roxette und Ace of Base. Schweden ist auch die Heimat harter bis härtester Klänge – von dort kamen Bands wie Bathory, Candlemass, Europe, Meshuggah, Pain Of Salvation, Therion und der gute Yngwie Malmsteen. Nimmt man alles Schwedische zusammen – die schönen Pop-Melodien, die große Folk-Tradition, die Schwäche für sanften Jazz und für harten Metal –, dann ergibt sich genau die richtige Gewürzmischung für progressive, multistilistische Rockmusik. Der Fan kennt natürlich diesen schwedischen „Progzauber“. Formationen wie Beardfish, The Flower Kings, Kaipa, Karmakanic, Paatos, Ritual oder Simon Says sind in Progressive-Zirkeln hoch angesehen.
Die schwedischen Großmeister des ästhetisch perfekten Progrock heißen Änglagård. 1991 wurde dieses kollektiv arbeitende Sextett gegründet, machte zwei Studioalben und löste sich schon 1995 wieder auf. Man hat dieser Band vielfach nachgetrauert, ihre Alben wurden begehrte Sammlerstücke. Zur Freude der Prog-Fans kamen Änglagård 2009 in etwas anderer Besetzung wieder zusammen und präsentierten bald ein eindrucksvolles Comeback-Album im bewährten Stil – also mit höchst geschmackvollen elektrischen und akustischen Gitarrensounds, mit nachdrücklichen Hammond- und Mellotronklängen und einer echten Flöte. Und mit einer rhythmischen Beweglichkeit, die schon ans Jazzige grenzt. Das alte Rezept der Änglagård der Neunzigerjahre klingt auch heute noch kein bisschen überholt.
Der Klassiker bleibt dennoch Änglagårds legendäres Debütalbum von 1992. Es trug den Namen „Hybris“ und gilt in Prog-Zirkeln als „Meisterwerk“ und „Maß aller Dinge“ – weit über Schweden hinaus. Schon das erste Stück, „Jordrök“, ist inzwischen ein unkaputtbarer Archetyp der Progrock-Welt. Die Nummer beginnt mit einem berückenden Klaviersolo – minimalistische und mysteriöse Mellotron-Parts führen dann in den rockenden Bandsound hinein. Wir hören wechselnde, feingliedrige Riffs und ein unvergessliches Gitarrenthema. Im anschließenden lyrischen Teil bezaubern Flöte, akustische Gitarren, Mellotron und Glockenspiel. Ein Zwischenspiel auf der (elektronisch imitierten) Kirchenorgel eröffnet später einen längeren Abschnitt im Dreivierteltakt, in dem sich Rockpassagen, klassisch inspirierte Teile und folkige Strecken abwechseln. „Jordrök“ dauert über 11 Minuten, drei ähnlich lange Stücke folgen. Der Gesang – übrigens auf Schwedisch – spielt dabei nur eine Nebenrolle, denn Änglagård sind in erster Linie eine Instrumentalband. Komplexe Komposition, gepflegte Sounds und bombastische Steigerungen sind ihr Markenzeichen. Beim britischen Psychedelic-Magazin „Ptolemaic Terrascope“ war man vom Debütalbum damals so begeistert, dass man bei der Band eine Single als Magazinbeilage bestellte. Änglagård nutzten die vorgegebene 7-Minuten-Länge weidlich aus und bastelten im Sommer 1993 einen kaleidoskopisch bunten, ziemlich verrückten Song namens „Gånglåt Från Knapptibble“. Auf der remasterten Version des Albums „Hybris“ ist er als Bonustrack zu hören.
Ebenfalls zu Beginn der 1990er Jahre entstand in Stockholm die Band Opeth – sie etablierte sich allerdings zunächst im Death-Metal- und Dark-Metal-Bereich. Um die Jahrtausendwende aber kam man mit Steven Wilson in Kontakt, dem Porcupine-Tree-Gründer und unermüdlichen Progrock-Aktivisten. Der Engländer unterstützte als Ko-Produzent und Gastmusiker die Entwicklung der Band in Richtung des progressiven Rock. Sanftere Passagen, die in der Death-Metal-Phase der Band fast nur der Kontrastwirkung dienten, bekamen nun deutlich mehr Eigengewicht. Gleichzeitig wichen die „Growl“-Beiträge des Vokalisten immer stärker einem melodischen Gesang. Auch wenn die Death-Metal-Gemeinde irritiert war: Opeth verwandelte sich in eine der hörenswertesten und stilsichersten Prog-Bands Europas.
Mit „Heritage“ (2011), dem zehnten Album der Band, war diese Verwandlung endgültig abgeschlossen. Nur in der resoluten Härte mancher Riffs und in den Texten über Gott, Tod und Teufel ahnt man noch das Erbe der Metal-Vergangenheit. Auch „Heritage“ beginnt mit einem atmosphärischen Klaviersolo, bevor die Band in „The Devil’s Orchard“ erst einmal so richtig losrockt. Alle Stücke stammen vom Sänger, Multi-Instrumentalisten und Bandchef Mikael Åkerfeldt, der ein echtes Händchen für komplexe Abläufe und beklemmende Harmonien hat, ohne aber bei der klassischen Musik abkupfern zu müssen. Außerdem liebt Åkerfeldt kleine Schlenker in der Melodie, die sich dauerhaft ins Ohr brennen. „I Feel The Dark“ ist mehr Ballade, aber mit bombastischen Abstechern. „Slither“ erinnert fast an Deep Purple oder Uriah Heep, endet aber mit einem kunstvollen, rein akustischen Ausklang. In jedem Stück gibt es poetische, sanfte Passagen von geheimnisvollem Charakter: Dort überraschen aparte Keyboard- und Gitarrenfarben sowie gelegentlich auch jazznahe Momente. Mit am schönsten vielleicht geriet der Song „Nepenthe“, ein dynamisches Wechselbad zwischen sensiblen Soundbildern und kräftigen Rock-Episoden. Folk und Blues und Mellotron: In diesem wechselvollen Album steckt alles drin.
Die schwedische Band Anekdoten ist einst als King-Crimson-Coverband gestartet. Da hieß die Formation noch King Edward, benannte sich aber um, als 1991 die Cellistin Anna Sofi Dahlberg dazustieß. Bis heute – ein Vierteljahrhundert lang! – spielt dieses Quartett in unveränderter Besetzung. Auf dem Tonträgermarkt hat man sich jedoch rar gemacht – gerade mal sieben Studioalben waren es in 25 Jahren. Anekdoten haben immer an ihrer eigenen, unverwechselbaren, etwas beklemmenden Soundwelt festgehalten. Natürlich gehören dazu King-Crimson-Anklänge, etwa beim extensiven Gebrauch des melancholischen Mellotrons und in den insistierenden, repetitiven Gitarrenfiguren. Dazu kommt ein starker psychedelischer Flow, häufig getragen vom „Drone“ des Violoncellos. Und nicht zu überhören ist der prägende Einfluss des alternativen Rock der 1990er Jahre, nicht zuletzt im zerbrechlichen, somnambulen Gesang der Band.
„Nucleus“ (1995) war das zweite Album von Anekdoten. Gleich das Titelstück zu Beginn dröhnt hart und mächtig im Fünfvierteltakt. Die Klangmischung hier wechselt zwischen Facetten von Metal und Grunge, bizarre und disharmonische Figuren drängen sich dazwischen. Die donnernden Grooves, die vielen Klangschichten, die zuweilen grotesken Keyboard-Sounds (Rhodes, Clavinet, Harmonium) und der rauschhafte Sog des Rhythmus haben etwas Tranceartiges, dann wieder etwas Alarmierendes – sie würden nicht schlecht zu einem Horrorfilm passen. „Thrak“, das King-Crimson-Comeback-Album, war damals übrigens gerade frisch erschienen – man glaubt die Inspiration noch herauszuhören. Um gemeinsam ein King-Crimson-Konzert in Berlin zu besuchen, unterbrachen Anekdoten 1995 sogar ihre Studioaufnahmen. Der norwegische Journalist Geir Larzen meint, „Nucleus“ könne mit keinem anderen Album der Rockgeschichte verglichen werden: „Es ist wie ein musikalisches Gemälde von ‚The Beauty And The Beast‘. Die Mixtur aus brutalen, dissonanten Riffs und zerbrechlichen, außergewöhnlichen Melodielinien ist ein Geniestreich. Wenn du ein Album suchst, das die Grenzen erweitert und sogar über das hinausgeht, was die Giganten der progressiven Seventies gemacht haben, bist du hier richtig! Anekdoten lieferten das originellste Album der 1990er Jahre.“
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