Typisch für die japanische Längsflöte ist ihr zischender, hauchiger Klang. Der Filmkomponist John Williams verglich ihn mit dem „Schrei eines Dinosauriers“.
Stichwort:
Shakuhachi
(2020)
Von Hans-Jürgen Schaal
Ursprünglich kam sie – wie so vieles – aus China, wo sie Xiao hieß. Ein paar Jahrhunderte lang war sie in Japans höfischer Musik („Gagaku“) zu Hause, dann verlor man dort aber das Interesse an ihr und setzte sie auf die Straße. Hier fand sie eine neue Heimat bei herumziehenden Bettelmönchen („Komusô“). Viele von ihnen waren ausgemusterte Samurai, also ehemalige Schwertkämpfer. Diese streitbaren Mönche bliesen die Längsflöte als Meditationsübung – aber notfalls verwendeten sie sie auch als Schlag- und Kampfstock, was dem einzelnen Instrument vermutlich nicht gut bekam. Speziell für die Fuke-Sekte wurde die Shakuhachi später zum Wahrzeichen. Ein Fuke-Mönch war es auch, der die „Honkyoku“ zusammenstellte, die Basis-Sammlung der Shakuhachi-Standardstücke. Es sind meist langsame, unrhythmische Melodien. Sie handeln vom Wind und den Wolken, vom Mondlicht und der Landschaft.
Das Wort „Shakuhachi“ bedeutet 1,8 Fuß – das ist das Idealmaß des Instruments, nämlich 54,5 Zentimeter. Man nimmt für diese Flöte vorzugsweise das Wurzelende des Madake-Bambus, denn nur dieses Material liefert angeblich den „richtigen“ Klang. Bis zu fünf Zentimeter dick ist das Rohr. Vier Fingerlöcher und ein Daumenloch werden hineingebohrt, die Stimmung ist pentatonisch. Eine Einkerbung am oberen Ende hilft beim Blasansatz. Der Clou ist jedoch die Innenlackierung („Urushi“), die den rauen, hauchigen Klang der Shakuhachi garantieren soll. Die Wahl des Bambusrohrs, das Trocknen, das Bohren der Löcher, das Lackieren usw. – es kann oft Jahre dauern, bis eine Shakuhachi fertiggestellt ist. Dann allerdings gilt sie als besondere Kostbarkeit, als edles Luxusstück. Nicht jeder findet diesen „Chic“ aber angemessen. Wer ihn ablehnt, greift stattdessen zur Hocchiku – das ist eine quasi urtümliche Shakuhachi, naturbelassen, oft sogar fehlerhaft und ganz besonders schwer zu blasen.
Im 18. Jahrhundert galt die Shakuhachi, die Flöte der Straßenbettler, nicht viel in Japan. Man verspottete sie als „etwas Langes und Dickes“, das „vulgäre tiefe Töne“ hervorbringt. Als die Fuke-Sekte 1871 verboten wurde, schien das Schicksal der Shakuhachi besiegelt. Doch der Mythos der Sekte und das seltsame Instrument lebten weiter – sie stärkten einander wechselseitig. Darüber wurde die Shakuhachi zum wichtigsten musikalischen Symbol der Zen-Meditation. Shakuhachi spielen heißt: konzentriert und bewusst atmen. Diese Flöte braucht Kraft und Mut, ihr Spiel stärkt die Lunge. Und wer seinen Atem stärkt, lebt länger. Auch im Westen empfindet man den „holzigen“ Klang des Instruments als besonders spirituell und kombiniert ihn gerne mit meditativen Elektroniksounds.
Bei kunstfertigem Spiel lässt sich auf der Shakuhachi ein Tonumfang von drei Oktaven erreichen. Das verlangt jedoch komplexe Anblastechniken, bei denen auch besondere Kopfbewegungen eine Rolle spielen. In den alten, ruhigen Melodien der „Honkyoku“ sind plötzliche, expressive Ausbrüche und Intervallsprünge gewollt. Es heißt allenthalben, bei der Shakuhachi gehe es darum, die eigene Person hinter dem starken Ausdruck der Musik verschwinden zu lassen. Aber auch das Gegenteil kann man hören: dass die Persönlichkeit in die Musik übersetzt werden soll. Zen-Philosophie ist eben oftmals paradox. Der Shakuhachi-Meister Watazumi Doso meinte: „Du bist nicht abhängig von notierter Musik, sondern du bewegst die Musik – und dann werdet ihr eins. Die tiefste Quelle deiner Musik ist dein eigenes Leben.“ Das könnte am Ende auch ein Motto für Jazzmusiker sein.
© 2020, 2023 Hans-Jürgen Schaal
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