Auch die „indische Oboe“ stammt von der persischen Surnai ab, deren Spuren vom Balkan („Zurla“) bis nach Indonesien („Sarune“) und China („Suona“) reichen.
Stichwort:
Die Shehnai
(2021)
Von Hans-Jürgen Schaal
In Indien, einem Land mit fast doppelt so vielen Einwohnern wie ganz Europa, ist die Shehnai das populärste Rohrblattinstrument. Nach einer Legende hatte sich ein indischer König einmal über den schrillen Klang einer Pungi beschwert, wie sie die Schlangenbeschwörer spielen. Daraufhin wurde für den König die Shehnai geschaffen, die „Königsflöte“ (Shah-Nay). Schon zu Beginn der Mogul-Ära (16. Jahrhundert) dominierte sie die Palastkapellen: Bis zu neun Shehnais spielten in der „Naubat Khana“, dem Orchester des Herrschers. Abseits davon wurde die Shehnai ein beliebtes Volksinstrument, das von fahrenden Musikern unterer Kasten geblasen wurde. In allen Religionen Indiens hört man den lauten, durchdringenden Klang der Shehnai bei Familien- und Glaubensfeiern im Freien, bei Hochzeiten oder Heiligenfesten. Vom islamischen Königshof schaffte sie den Sprung auch zum Hindu-Ritual – allerdings wird sie in einiger Entfernung vom Tempel gespielt.
Es gibt die Shehnai in vielen Größen und Varianten. Die verbreitetste Form ist rund 55 Zentimeter lang, zusammengesetzt aus einem konisch gebohrten Rohr aus Teakholz und einem Schallbecher aus Messing. Das Rohr hat bis zu sieben Löcher, die gegriffen werden, sowie weitere Stimmlöcher, die man nach Bedarf mit Wachs verstopft. Im Mundstück (oft auch aus Messing) steckt das Doppelrohrblatt, das frei im Mundraum schwingt. Man verwendet fürs Blatt ein Wildgras vom Ganges, zuweilen gedoppelt („Vierfachrohrblatt“) und meistens mit einem Faden zusammengebunden. Ersatzblättchen hängen gewöhnlich an Schnüren direkt am Instrument. Auch Spielpfeifen vom Dudelsack sind zum Anblasen geeignet.
Der Shehnai-Solist wird in der Regel von Trommlern begleitet (auf Duggad oder Tabla) sowie einem oder mehreren weiteren Shehnai-Spielern, die den Bordunton und kleine Auszierungen beisteuern. Instrumente, die nur für Borduntöne hergenommen werden, haben lediglich drei Tonlöcher und heißen „Sur“. Obwohl das Blasen der Shehnai anstrengt, ist Zirkularatmung die Regel. Um die Mikrotöne, Glissandi und Tonumspielungen der indischen Musik hervorzubringen, deckt der Spieler die Grifflöcher der Shehnai oft nur teilweise ab. Eine virtuose Improvisation verlangt ein kunstvolles Zusammenwirken von Fingern, Kiefer, Zunge, Lippen und Kopfbewegungen. Die sanften, ornamentalen Nuancen im Shehnai-Spiel werden von Korangelehrten mit dem Seufzen der Jungfrauen verglichen, die im Paradies warten.
In der Kolonialzeit Indiens wurde die Shehnai weitgehend von der westlichen Klarinette verdrängt. Mit dem Aufkommen der Unabhängigkeitsbestrebungen kehrte das Instrument aber zurück und wird seit dem frühen 20. Jahrhundert auch in der klassischen nordindischen Musik gespielt. Ein bedeutender Pionier dieser Entwicklung war Bismillah Khan (1916 bis 2006), der einer Familie von muslimischen Palastmusikern entstammte. Die Shehnai erlernte er bei seinem Onkel, der in Varanasi (Benares) Bläser an einem Shiva-Tempel war. Bismillah Khan selbst war gläubiger Muslim, verehrte aber auch Saraswati, die Hindu-Göttin der Musik: „Vor dem Ganges spielen ist wie zu Gott beten. Musik selbst ist eine Religion. Meine Melodien sind Schattenbilder von Gott.“ Weil er auf der Shehnai Raga-Musik spielte, wurde Khan von Koranwächtern vielfach kritisiert.
Sein einziger Schüler war Jagdish Prasad Qamar (aus Delhi), dessen Tochter Bageshwari Qamar als „erste Frau an der Shehnai“ gilt. Aus Varanasi, dem Zentrum des Shehnai-Spiels, kamen weitere bedeutende Solisten wie Raghunath Prasanna (1913 bis 1999), Anant Lal (1927 bis 2011) und Bismillah Khans Sohn Nayyer Hussain (1944 bis 2009). Einer Shehnaispieler-Dynastie aus Kolkata (Kalkutta) entstammte der Virtuose Ali Ahmed Hussain Khan (1939 bis 2016).
© 2021, 2023 Hans-Jürgen Schaal
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