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Alles begann mit der Canterbury-Band Henry Cow – von ihr kam 1978 der Impuls für „Rock in Opposition“. Sie korrigierte damit die Abschaffung des Progressive Rock durch die Plattenindustrie. Sie installierte eine neue Rock-Avantgarde.

Rock in Opposition
Ein Impuls, eine Bewegung, ein Genre
(2022)

Von Hans-Jürgen Schaal

In den 1970er Jahren erlebte die „klassische“ (progressive) Rockmusik ihren Höhepunkt – aber auch ihren Niedergang. Noch zu Beginn des Jahrzehnts gehörten britische Bands wie Emerson Lake & Palmer, Pink Floyd, Led Zeppelin, Deep Purple, Genesis, Yes oder Jethro Tull zu den weltweit erfolgreichsten Acts. Und das, obwohl diese Musik nur wenig mit Drei-Minuten-Hits zu tun hatte. Oder mit simpler Tanzbarkeit.

Ab der Mitte des Jahrzehnts jedoch geriet die ganze Musikrichtung unter Druck. Zwar verloren die progressiven Rockbands nicht ihr Publikum, doch die nächste (und für die Branche relevante) Teenager-Generation hörte lieber Punk, Disco und Poprock. Produzenten, Agenten und Veranstalter im Rockbusiness sahen nun ihre Marktanteile schrumpfen – sie forderten von den Prog-Bands, sich zu „adaptieren“. Diese Forderung zog den meisten dieser Bands den Lebensnerv – Rockmusik wurde zum Business. Die Prog-Bands brachen darüber auseinander, lösten sich auf, formierten sich ganz neu, suchten vergeblich nach frischer Inspiration und einer konzeptionellen Richtung. Peter Gabriel verließ Genesis, Ritchie Blackmore verließ Deep Purple. Emerson Lake & Palmer verloren den Zusammenhalt und machten „Works“. Led Zeppelin verloren ihren Sound und machten „Presence“. Yes machten Soloalben. Der Tod des ProgRock folgte aus dem Diktat der Umsatzoptimierung – und aus einer großen Irritation.

Auch die britische Band Henry Cow (mit Fred Frith, Chris Cutler, Tim Hodgkinson u.a.) geriet 1975 in Schwierigkeiten. Henry Cow waren aus der progressiven Canterbury-Richtung hervorgegangen – nun aber wollte sich ihre Plattenfirma (Virgin) doch lieber „kommerziell“ ausrichten. Aufgrund ihrer Tourneen wussten die Bandmitglieder, dass die progressive und experimentelle Rockszene nach wie vor höchst lebendig war. Henry Cow hielten Kontakt zu mehreren geistesverwandten Bands auf dem europäischen Festland. Im März 1978 präsentierten sie sich zusammen mit vier dieser Formationen in einem gemeinsamen kleinen Festival in London. Das Motto des Konzertabends lautete: Rock in Opposition, kurz: RIO. Wogegen hier opponiert wurde? Gegen das kommerzielle Diktat der angloamerikanischen Musikindustrie! Das Festival versprach „fünf Rockgruppen, von denen die Plattenfirmen nicht wollen, dass ihr sie hört“. RIO war ein Protest gegen die strukturelle Abschaffung des Progressive Rock.

Im Begleittext zu einer Schallplatte von 1980 war zu lesen: „RIO ist ein Zusammenschluss von Musikgruppen, denen die Kompromisslosigkeit gemeinsam ist, mit der sie an der Entwicklung ihrer Musikform arbeiten. Die RIO-Gruppen machen eine Musik, die immer wieder das Hören und Neuhören herausfordert – im Gegensatz zur musikalischen Masche des etablierten Musikmarkts.“ RIO-Musiker gründeten eigene Labels und versuchten, „Rock in Opposition“ zu einer sozialkritischen Independent-Bewegung zu machen. Geblieben ist vor allem die musikalische Idee von RIO – die Idee einer Rockmusik, die sich kommerziellen Überlegungen widersetzt... die virtuos, komplex und widerspenstig daherkommt... die bewusst Elemente von neuer Kammermusik, Canterbury, Avantgarde, Jazz und Dada aufgreift. Am Ende wurde RIO zum Stilbegriff, zum Subgenre – ein Synonym für „Avant-Prog“.

Drei Bands aus Frankreich

Bands aus aller Welt haben sich im Lauf der Jahre zur Stilrichtung RIO bekannt – etwa Guapo aus Großbritannien, Thinking Plague aus den USA, Miriodor aus Kanada, Ahvak aus Israel. Der geografische Schwerpunkt des unangepassten und unberechenbaren Genres liegt aber eindeutig auf dem europäischen Kontinent. Seit es das jährliche RIO-Festival im südfranzösischen Carmaux gibt, ist Frankreich das eigentliche Heimatland von „Rock in Opposition“.

Bereits beim Londoner RIO-Festival 1978 war die französische Band Étron Fou Leloublan (EFL) mit von der Partie. Sie war das gemeinsame Projekt des Schlagwerkers Guigou Chenevier und des Bassisten Ferdinand Richard, dessen Instrument streckenweise auch Funktionen einer Rockgitarre übernimmt. Die störrischen, präzisen, eigensinnigen Rhythmen der beiden bilden das Zentrum der Musik und den spartanischen Kern des Bandsounds. Dazu werden bizarre Texte (meist auf Französisch) rezitiert. Auf dem Album „Les Poumons Gonflés“ (1981) ist die Band immerhin vier- bis fünfköpfig. Das Saxofon spielt Bernard Mathieu, im Hauptberuf Ägyptologe. Die Keyboards (und mehr) übernimmt Joséphine Thirion – von da an festes Mitglied von EFL. In zwei Stücken wirkt noch Fred Frith mit, der das Album auch produziert hat – das Gründungsmitglied von Henry Cow ist quasi Mister RIO persönlich. Von vereinzelten Saxofonsoli abgesehen, liefern das Saxofon (meistens Tenor) und die Keyboards (meistens Farfisa-Orgel) kürzelhafte Motive, die sich mit den resoluten Bass-und-Schlagzeug-Patterns ergänzen. Das klingt ein klein wenig nach Jahrmarkt, nach Music Hall, nach Punk-Jazz – aber immer mit einer grotesken, zeitlosen, irgendwie augenzwinkernden Strenge. Der Prog-Kenner Achim Breiling beschreibt die Musik als „unkommerziell, schräg, mit Hang zur Atonalität und Improvisation, mitunter recht komplex und anspruchsvoll instrumentiert, jazzverwandt, dadaistisch seltsam und humorvoll“.

Eine jüngere RIO-Formation aus Frankreich ist NeBeLNeST – den Bandkern bilden die Brüder Olivier und Gregory Tejedor (an Keyboards und Bass) und der Schlagzeuger Michael Anselmi. NeBeLNeST gründeten sich 1997, offenbar unterm Eindruck der Reunion von King Crimson („Thrak“). Ihre Musik hat aber nicht die strikte Crimson-Ordnung, sondern eine fantasierende, schweifende Kraft. Der großartige, jazznahe Drummer hält die instrumentalen, häufig die Taktart wechselnden Rockjam-Stücke zusammen. Keyboards und Gitarren improvisieren mehr, als dass sie markante Motive spielen. Das ist ausladend spacig und tonal düster, aber dank den Keyboard-Farben von ganz eigener Power und Schönheit. Besonders der großzügige Einsatz des Mellotrons – inspiriert von King Crimson – charakterisiert die Musik von NeBeLNeST. Das bis heute letzte Album der Band erschien 2006: „ZePTO“. Hier erreicht das klangliche und stilistische Spektrum von NeBeLNest sein Maximum. Experimentelle Passagen ohne Beat wechseln ab mit metalliger Härte. Zwei Gastgitarristen sorgen für Rock-Assoziationen, eine Klarinette beschwört einmal sogar eine orientalische Stimmung. Die Ereignisdichte ist hoch, die Dynamik forciert. Das Magazin „Classic Rock Society“ nennt die Musik „überwältigend, kraftvoll und komplex“: „Das unerbittliche Tempo des Albums ist eine Herausforderung. Vielfache Hördurchgänge sind nötig, bis man auch nur zu verstehen beginnt, wohin diese Band geht.“

Für eine neue Generation der RIO-Philosophie steht die Band Aquaserge aus Toulouse, die 2005 gegründet wurde. Ihre jüngsten Alben erschienen auf Crammed Discs, dem Label von Marc Hollander, einem der ersten RIO-Aktivisten (und Gründer der Band Aksak Maboul). Aquaserge sind die Eklektizisten der neueren RIO-Ästhetik. Ihre Musik bewegt sich zwischen Rockriffs, Soul-Vamps und Bigband-Einwürfen, streift angejazzten Jazzrock, Film-noir-Anklänge, Kammermusik, verwendet Psychedelisches und Schräges und immer wieder raffiniert verfremdete Popsong-Muster. Das ist ebenso unvorhersehbar wie unterhaltsam. Auf dem Album „Laisse Ça Être“ (2017) hat sich das Rockquartett um mehrere Bläserstimmen erweitert (Klarinette, Trompete, Saxofon, Flöte) und beschäftigt außerdem noch eine Reihe anderer Gäste. Jedes Stück scheint aus einer Handvoll Figuren und Motive zusammengebaut, aber die Stilistik tendiert mal zum Rock’n’Roll, mal zur Jazz-Improvisation, dann wieder zum Samba. Der Prog-Kenner Grant Moon schreibt: „Das ist experimenteller Avant-Pop, der aus Canterbury-Prog, Free Jazz und Weltmusik-Elementen schöpft, immer mit einem gewissen Etwas. Stereolab und Frank Zappa fallen einem ein – und dann wieder: Piazzolla trifft auf ‚Pet Sounds‘, ein Tom Waits unter Drogen. Es ist alles sehr clever, cool, fröhlicher Nischenstoff.“

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© 2022, 2024 Hans-Jürgen Schaal


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