NEWS





Zurück

Mit ihren abstrakten Rhythmus-Schichtungen verblüffen sie selbst die abgebrühtesten Musikkenner. „Hätte M.C. Escher Musik gemacht, klänge sie wie Sonar“, schrieb Sid Smith vom Prog Magazine. Die vier Schweizer Instrumental-Rocker nennen sich selbst eine „minimalistische progressive Groove-Band“.

Surreale Verknotungen
Die Schweizer Gitarrenband Sonar
(2022)

Von Hans-Jürgen Schaal

Wenn es um Musik aus der Schweiz geht, fällt immer schnell das Wort „Uhrwerk“ – es ist eines der beliebtesten musikjournalistischen Klischees. Im Fall der Band Sonar steckt hinterm Klischee aber ein Funke Wahrheit. Denn die Spezialität der vier Schweizer ist in der Tat das Metrische: ungerade Rhythmen (also Taktarten wie 5/4 oder 7/4), Polyrhythmen (also Rhythmen, die einander überlagern) und Isorhythmen (also Rhythmusfiguren, die sich „gegen“ den Ablauf der Musik behaupten). Stephan Thelen (geb. 1959), der Kopf dieser Präzisions-Band, ist nicht zufällig promovierter Mathematiker. Man könnte aber auch sagen: Der Musik von Sonar fehlt eine ganze Menge. Sie kennt keinen Gesang, keine wirklichen Melodien, keine große Farbigkeit. Zwei E-Gitarren plus E-Bass und Schlagzeug – das ist schon alles. Nicht einmal Effektgeräte werden eingesetzt. Das Ergebnis klingt dementsprechend minimalistisch, kopfgesteuert, reduziert. Doch die Wirkung der meist umfangreichen, sich nur langsam verändernden Stücke hat etwas Hypnotisches und Magisches. Aus der konsequenten Abstraktion schöpfen Sonar eine große emotionale Energie.

Einen wichtigen Anstoß, sagt Dr. Thelen, habe ihm vor Jahrzehnten eine Performance des Minimalisten Steve Reich gegeben. Die Musiker hätten das Publikum zum Mitmachen animiert, und es sei etwas spürbar geworden, das „viel größer“ ist als der einzelne Akteur. Anstatt Solisten in den Mittelpunkt zu stellen, sei die Musik selbst der „Star“ gewesen – „vielleicht so, wie es in Urzeiten war... oder wie es noch heute in Bali und Indonesien ist. Nach dem Konzert fühlte ich mich tagelang beschwingt.“ Auch bei Sonar geht es nicht um solistische Brillanz und individuelle Virtuosität. Die Kraft ihrer Musik kommt aus dem disziplinierten Zusammenwirken der Instrumente – aus der Verknotung der Rhythmen, der Faszination einer eigenwilligen Harmonik (Tritonus-Stimmung) und der minimalistischen Dramaturgie des langen Atems. „Musik muss dir unter die Haut gehen und einen emotionalen Effekt haben, sonst ist sie nichts wert. Ich beginne eine Komposition meistens mit einer theoretischen Idee. Wenn diese Idee einen emotionalen Effekt hat, kann sie überleben – anderenfalls bleibt sie einfach eine Theorieübung.“

Das Quartett Sonar gründete sich 2010. Damals trafen die beiden Gitarristen Stephan Thelen und Bernhard Wagner aufeinander und entdeckten ihre Geistesverwandtschaft. Der eine brachte einen Bassisten (Christian Kuntner) mit ins Projekt, der andere einen Schlagzeuger (Manuel Pasquinelli). Wichtige Anregungen für sie waren die Gitarren-Workshops von Robert Fripp (King Crimson) und der Zen-Minimalismus von Nik Bärtsch (Ronin). Mit Black Light erschien 2015 bereits ihr drittes Studioalbum. Inspirationen dazu lieferte die King-Crimson-Platte „Larks’ Tongues In Aspic“ von 1973, auf der Robert Fripp bereits mit der Tritonus-Stimmung der Gitarre und diversen ungeraden Metren experimentiert hat. „Dieses Crimson-Album hat einen speziellen Abenteuergeist, der nicht so weit von ‚Black Light‘ entfernt ist“, meinte Thelen. „Unser Titeltrack ‚Black Light‘ hat außerdem einige formale Ähnlichkeiten mit dem Stück ‚Larks’ Tongues In Aspic (Part II)‘.“ Die surrealen Verknotungen von Harmonie und Rhythmus schaffen hier eine ungeheure Spannung, die sich nie wirklich entlädt. Ein Kritiker schrieb: „Es ist, wie wenn man am Herd steht und das Wasser brodelt und sprudelt, aber es kocht nicht wirklich, und doch wird es immer heißer...“. Hier mutiert Mathrock zum Beschwörungs-Ritual.

Auf dem Konzept von Sonar könnte ein ganz neues, eigenes Musikgenre aufbauen. Auf jeden Fall drängt dieser komplex verwobene Stil zu Erweiterungen und Fortsetzungen, etwa durch noch mehr Gitarrenstimmen. Inzwischen sind tatsächlich mehrere Sonar-Alben erschienen, auf denen sich die Band durch den Experimental-Jazz-Gitarristen David Torn zum Quintett vergrößert hat. Und bereits 2018 entstand Stephan Thelens Solo-Album Fractal Guitar, für das er nicht weniger als sieben (!) Gitarrenkollegen ins Boot holte, u.a. die Saitenkünstler David Torn und Henry Kaiser. Einer der Mitstreiter (Matt Tate) übernimmt auf einer Touch-Gitarre den Basspart. Auf die Touch-Technik spezialisiert ist auch Markus Reuter, der auf allen Stücken des Albums mitspielt. Wie Thelen ist er von der „Gitarrenschule“ Robert Fripps geprägt. Reuter arbeitet seit Jahren mit den King-Crimson-Musikern zusammen, etwa in den Formationen Stick Men und The Crimson ProjeKCt.

Die fünf Stücke auf „Fractal Guitar“ (das längste dauert 18:37 Minuten) haben nicht die konzise, unterkühlte Strenge der Sonar-Alben, sondern sind mit viel gitarristischer Atmosphäre aufgeladen. Ständig sorgt der eine oder andere der Beteiligten für fantasievolle Soundfüllsel, und es gibt ausgedehnte Rock-Improvisationen. Thelen erklärt: „Nach einigen Jahren mit Sonar, in denen wir ohne Effekte gearbeitet haben, hatte ich das Bedürfnis, einige Stücke zu komponieren und aufzunehmen, in denen Effekte ein wesentlicher Teil der Musik sind.“ Einem dieser Effekte – er erzeugt Kaskaden von „Echos“ in ungeraden Taktarten – verdankt Thelens Solo-Produktion auch ihren Titel. Der Prog-Kenner Jochen Rindfrey beschreibt das Album „Fractal Guitar“ als „eine andere Version“ des Sonar-Stils: „Die Musik ist genauso komplex und fordernd wie bei Sonar, nur dass es jetzt geradezu zu einer Vervielfachung der eingesetzten Klangfarben kommt.“

Auch Markus Reuters Album Falling For Ascension, das schon 2014 entstand, greift auf die polyrhythmisch vernetzte Sprache von Sonar zurück. Reuter hat sich hier die vier Musiker der Band sowie den Elektronik-Spezialisten Tobias Reber als seine „Begleitgruppe“ gesichert. Für dieses spezielle Projekt holte er auch ein spezielles Material aus der Schublade. „Die Themen und Melodien und Rhythmen wurden geschrieben, als ich 14 Jahre alt war“, erzählt er. „Ich hatte diese kleinen Motive all die Jahre zur Seite gelegt und wusste nie, was ich damit anfangen sollte. Jetzt habe ich ihre Schönheit und Kraft wiederentdeckt.“ Die sieben Stücke – das längste dauert 22:29 Minuten – tanzen in widerborstiger Polymetrik, garniert mit Reuters Touch-Technik-Künsten. Obwohl der Ansatz härter und rockiger ist als bei Sonar, entfaltet sich eine ähnlich hypnotische Sogkraft. „Wenn man zuhört, wird man hineingezogen“, sagt Reuter. „Aber tatsächlich zieht man als Hörer die Musik in sich selbst hinein.“

Für den Ablauf der Stücke greift Reuter auf eine alte Minimal-Music-Strategie zurück, die schon Terry Riley 1964 beim legendären „In C“ verwendet hat. Die Motive bilden eine Gruppe von „Modulen“, die jeder Mitspieler in einer festgelegten Reihenfolge anstimmt. Doch den Zeitpunkt, wann er vom einen Modul zum anderen wechselt, kann er frei wählen. „Du musst etwas Bestimmtes spielen, aber du kannst entscheiden, wann du zum nächsten Element übergehst.“ Der Aufbau von Spannung und Dynamik verlangt bei diesem Vorgehen ein besonderes Fingerspitzengefühl. Die „Gapplegate Classical-Modern Music Review“ sprach von einem Triumph, einem „Durchbruch in Form und Klang“. Der Pianist Nik Bärtsch (der mit seiner Band Ronin eine Art Schutzpatron des Sonar-Stils ist) nennt Reuters Album „die hohe Kunst abstrakter Kreativität“.

+++

© 2022, 2024 Hans-Jürgen Schaal


Bild

10.11.2024
Neue Features auf der Startseite: JAZZ-PORTRÄTS (2) und FACETTEN DES PROGROCK (2)

09.11.2024
NEU bei Adrian Teufelhart: BLACK SABBATH

26.10.2024
China im Konzertsaal (Neue Musikzeitung)

24.10.2024
Über den Bildungsfetisch PISA (Brawoo 10/24)

mehr News

© '02-'24 hjs-jazz.de