Die internationale Welt der Rockmusik hat noch immer einen experimentellen „Underground“. Klassisch geschulte Musiker schreiben freitonale Stücke für „progressive“ Rockbands. Das Ergebnis: eine aggressive Variante zeitgenössischer Kammermusik.
Überwiegend atonal
Facetten des Kammer-Progrock
(2022)
Von Hans-Jürgen Schaal
Vor rund 40 Jahren begann sich das Image der Kammermusik zu wandeln. Zu den Pionieren dieses Wandels gehörte damals das Kronos Quartet: Erstmals gerierte sich ein klassisches Streichquartett wie eine Rockband und gewann damit eine ganz neue Hörerschaft. Andere Ensembles folgten. 1987 gründeten drei amerikanische Komponist*innen die Organisation Bang On A Can, um mit neuer Musik einmal so richtig „auf die Kanne“ zu hauen. Ein Publikum, das Avantgarde-Theater oder experimentelle Poesie cool und chic fand, müsste, so meinten die Initiatoren, auch für zeitgenössische Musik zu gewinnen sein. Die Organisation brachte Avantgarde-Töne in angesagte Galerien und verband sie mit Rock-Lautstärke. Bei den Bang On A Can All-Stars, einem Kammersextett, trifft Klarinette auf E-Gitarre. Es folgten Ensembles wie Eighth Blackbird, Alarm Will Sound, Absolute Ensemble oder Icebreaker. Minimalisten und Postminimalisten, Jazzmusiker und Avantgarde-Rocker komponieren für diese Formationen. Über das Ensemble Alarm Will Sound, das aus der Eastman School of Music hervorging, schreibt die New York Times: „Sie kommen einer Rockband so nahe, wie es einem Kammerorchester nur möglich ist.“
Weniger wahrgenommen werden solche Grenzüberschreitungen zwischen Kammer- und Rockmusik, wenn sie aus der anderen Richtung erfolgen – vom Rock herkommend. Dabei hat die Affinität von Rockmusikern zur klassischen Musik eine lange Tradition. Schon als sich 1970 die „Supergroup“ Emerson Lake & Palmer (ELP) formierte, verband die drei Künstler vor allem eines: das Interesse an der modernen Klassik. Der Keyboarder Keith Emerson (1944-2016) fand Inspiration im Werk von Bartók, Janáček, Copland, Mussorgsky oder Ginastera. Die Erweiterung der Rockmusik-Sprache durch Klassik-Elemente oder Jazz-Improvisationen (oft unter Verwendung von rock-untypischen Instrumenten oder ungewohnten Taktarten) wurde später „Progressive Rock“ getauft (kurz: Progrock oder Prog).
Einen Extremfall an „progressiver“ Komplexität bildete in den 1970er Jahren die englische Band Gentle Giant. Sie mischte nicht nur Rock, Jazz, Blues, Folk, neue Musik und Renaissance-Klänge, sondern meisterte dabei bis zu 40 verschiedene Instrumente (darunter auch Vibrafon, Flöten, Trompete, Streichinstrumente). Zeitweise schien sie sich von einer elektrischen Rockband in ein rein akustisches Kammer- oder Vokalensemble zu verwandeln. Ihre Musik war gespickt mit Stilbrüchen und Kontrapunkt. Für den Jazzmusiker John Wolf Brennan waren Gentle Giant „die genialste aller Progrock-Gruppen“. Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung, sonst nicht für Hymnen auf Rockmusiker bekannt, attestierte den virtuosen Engländern einstmals „ein hochkünstlerisches Geschick“. Gentle Giant waren wohl auch die einzige Rockband, der das ZDF in den 1970er Jahren ein komplettes „Sonntagskonzert“ widmete. In jüngster Zeit wurde ihr Werk mit mehreren Multi-CD-Boxen und Remaster-Editionen gewürdigt.
Rock als Opposition
Als Mitte der 1970er Jahre Spielarten wie Disco-Pop und Punk populär wurden, hat die Plattenindustrie progressive Rockbands (wie Gentle Giant) dazu gedrängt, ihren Stil „der Zeit anzupassen“. Schon 1973 weigerte sich Gentle Giants amerikanisches Label, ihr aktuelles Album „In A Glass House“ zu veröffentlichen. Bei vielen progressiven Bands kam der Eindruck auf, die Plattenlabels wollten ihre Musik „unterdrücken“. Aus Protest dagegen bildete sich 1978 in London die Initiative Rock in Opposition (RIO). Fünf Rock-Formationen aus fünf europäischen Ländern bekannten sich damals zu einer „kompromisslosen“ und „herausfordernden“ Rock-Kunst, die sich kommerziellen Überlegungen widersetzt und auch Elemente zeitgenössischer Kammermusik und Avantgarde aufgreift.
Eine dieser fünf Ur-Formationen der RIO-Bewegung ist die belgische Band Univers Zéro. Zum Kern-Sound dieses Ensembles gehören akustische Instrumente wie Oboe, Fagott, Violine, Bratsche, Harmonium und Kontrabass. Der Bandleader ist der Schlagwerker Daniel Denis (geb. 1952), der sein Spiel häufig wie den Part eines Orchester-Perkussionisten ausarbeitet. „Unsere Einflüsse zeigen ein wachsendes Interesse an mittelalterlicher und zeitgenössischer Musik“, erklärt Denis. „Wenn ich Musik komponiere, ist die Integration der Trommeln nie einfach für mich. Ich achte sehr darauf, mit dem Schlagzeugpart nicht die Harmonien und Klangfarben der akustischen Instrumente zuzudecken. Aber ich fühle mich immer noch als Rockdrummer, auch wenn dies nicht so offensichtlich ist.“ Zu den Haupteinflüssen der Band gehören Strawinsky, Bartók und der belgische Komponist Albert Huybrechts (1899-1938). Das Rockpublikum empfindet den tonal befreiten „Kammersound“ von Univers Zéro meist als „düster“, „dunkel“ und „fremdartig“.
Was die Leute „sonderbar“ nennen
Der Impuls der RIO-Bewegung inspirierte anfangs auch die amerikanische Formation Thinking Plague. Sie verbindet Rock, Jazz und freie Tonalität in einem weitgehend durchkomponierten Kammer-Fusion-Prog-Stil, wobei auch Elektronik, Bläser und klassisch geschulter Gesang eine Rolle spielen. Mastermind Mike Johnson (geb. 1952), der in Denver klassische Musik studiert hat, sagt: „Zu meinen Lieblingskomponisten gehören William Schuman, Schostakowitsch, Prokofiew, Britten, Barber, Copland, Michael Tippett und viele andere aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Manchmal arbeite ich gerne an der Grenze zwischen ‚schöner‘ Musik und dem, was die Leute ‚sonderbar‘ oder ‚atonal‘ nennen. Ich erschaffe gerne etwas, das für mich ‚schön‘ klingt, aber eben auch interessant ist und tiefer reicht. Ich glaube nicht, dass die Bezeichnung ‚RIO‘ eine definierbare musikalische Bedeutung hat. Ich bevorzuge den Ausdruck ‚Avant-Rock‘, wenn ich über Thinking Plague rede und ähnliche Künstler.“
Ebenfalls in den USA zu Hause ist das Quartett Far Corner, dessen Musik gerne als „düsterer Kammer-Prog“ beschrieben wird. Dan Maske (geb. 1971), der Initiator der Band, komponiert regelmäßig im Auftrag von Kammerensembles und Jugendorchestern wie dem Umpqua Chamber Orchestra, Skyline Brass oder der Milwaukee Youth Symphony. Im Jahr 2001 begann er für eine akustische Besetzung aus Klavier, Cello, Bass und Perkussion zu schreiben – daraus entstand dann die Band Far Corner, die alternativ auch Hammondorgel, elektrischen Bass und elektrisches Cello verwendet. „Weitestgehend komponiere und notiere ich alles, für alle Instrumente“, sagt Maske. „Ich würde es aggressive Kammermusik nennen – mit einigen Rock- und Metal-Einflüssen. Harmonisch gesehen ist die Musik meistens atonal. Wir arbeiten nicht in Tonarten oder im tonalen Dur-/Moll-System. Erfundene Skalen und bestimmte Tonvorräte außerhalb der Dur- und Moll-Skalen und -Modi dominieren das harmonische und melodische Material.“
Als „elektronisches Kammerorchester“ versteht sich die schwedische Formation Isildurs Bane, die bei Bedarf auf Dutzendgröße anwachsen kann. Der langjährige Bandleader Mats Johansson sagt, er komponiere hauptsächlich Bühnenmusik: „Manches Stück kehrt aber, wenn es ausgedient hat, als Isildurs-Bane-Stück wieder, meistens jedoch völlig verändert. Andere Tempi, andere Instrumentierung. Ich setze mich nie hin, um eine Komposition direkt für die Band zu schreiben.“ Unter Johanssons Lieblingskomponisten sind u.a. John Cage, Erik Satie, Arvo Pärt, Schostakowitsch und Webern. Johanssons Kollege Jonas Christophs, der Gitarrist von Isildurs Bane, verrät: „Wir begannen im Jahr 1976. Die älteren Mitglieder der Band sind mit ELP, Yes und Genesis großgeworden. Aber die jüngeren Mitglieder heute haben zu wenig progressiven Rock gehört, um davon beeinflusst zu sein.“
Keine „normale“ Rockgruppe
Aus Italien kommt das Ensemble Yugen, das der Gitarrist Francesco Zago im Jahr 2004 gegründet hat. „Meine Interessen lagen damals ganz bei der zeitgenössischen Musik“, sagt Zago. „Ich hatte seit 1998 Kammermusik studiert. Als wir in Erwägung zogen, die komplexe Sprache zeitgenössischer Kammermusik mit dem kraftvollen Sound des Avant-Rock zu verschmelzen, war Yugen geboren. Die Band ist eine einzigartige Gelegenheit, meine musikalischen Ideen an der Grenze zwischen Kammermusik und Rock zu verwirklichen. Ich kann mit vielen verschiedenen Möglichkeiten experimentieren. Das wäre unmöglich mit einem rein ‚akademischen‘ Ensemble oder mit einer ‚normalen‘ Rockgruppe. Eines der wichtigsten Prinzipien in unserer Musik ist die Schichtenbildung: Verschiedene musikalische Objekte sind einander überlagert. Aber streng genommen ist das kein Kontrapunkt.“ Auffällige Klangfarben in der Band sind Klarinette, Saxofon, Vibrafon und Marimba. Zu seinen wichtigsten Einflüssen zählt Zago die Komponisten Satie, Cage, Bartók, Strawinsky, Ligeti, Nancarrow und Xenakis.
Die Welt des Kammer-Progrock ist vielfältig. Sie umfasst RIO-nahe Ensembles wie den ehemaligen Univers-Zéro-Ableger Présent (Belgien), aber auch Math-Rock-Formationen wie Stephan Thelens Sonar (Schweiz) oder Bands aus einschlägigen Prog-Stilistiken (z.B. Canterbury oder Zeuhl). Das belgische Ensemble Aranis spielt einen rein akustischen Kammerrock – mit Geige, Akkordeon, Flöte usw. und ohne Schlagzeug. Die Kanadier von Miriodor nennen ihren Stil eine „rock-orientierte postmoderne Kammermusik“. Weitere relevante Formationen sind z.B. Ahvak aus Israel, Asceta aus Chile, October Equus aus Spanien. Fast alle dieser Gruppen zählen Strawinsky und Bartók zu ihren wichtigsten Einflüssen, daneben aber auch legendäre Progrock-Bands wie Gentle Giant und King Crimson. Nicolas Masino von der Band Miriodor beschreibt das Konzept des Kammer-Progrock so: „Es ist, als würde man eine Rockgruppe so behandeln, wie man für ein Streichquartett schreibt. Es betont die Bedeutung des Kontrapunkts.“
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© 2022, 2024 Hans-Jürgen Schaal
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