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Die sechzehnte Hörhilfe 30.6.07

Eric Dolphy

Out To Lunch (1964)
Eric Dolphy, Freddie Hubbard, Bobby Hutcherson, Richard Davis, Tony Williams

Auf früheren Platten wirkte Eric Dolphy oft wie ein feuerspeiender Drache in einem Hamsterkäfig. Mit "Out To Lunch" brach er aus - und schuf sich eine Landschaft, die den Flug seiner Fantasie, seine Liebe zu ungeraden Metren und Taktgruppen und seine Ideen von flexibler, mehrschichtiger Form nicht länger behinderte. So entstand eine neuartig offene Klangästhetik, ein luftiges Gerüst aus farbiger Abstraktion und multiplen Rhythmen - halb Kammer-Klang, halb Sprengstoff-Labor.

Beim Label Blue Note - bis dahin ein Synonym für besten Hardbop - hatte man Anfang der sechziger Jahre plötzlich ein offenes Ohr für konstruktive Befreiungen von der Diktatur der Schablone. Eric Dolphy war der Modellfall: ein Musiker, der aus der Kontrapunktik des Westcoast Jazz kam, die Sprache des Bop blies und zugleich die formalen Grenzüberschreitungen des Free Jazz liebte. Ein Musiker, der an drei Instrumenten - Altsaxofon, Bassklarinette und Flöte - die Grenzen des technisch Möglichen und des harmonisch Sinnvollen auslotete. Ein Musiker schließlich, der eine Adrenalin treibende Explosivität mit hochkomplexem Form-Denken verband.

Das Quintett, das am 25. Februar 1964 Rudy van Gelders Tonstudio betritt, sieht auf den ersten Blick fast konventionell aus. Zwei Bläser: Eric Dolphy und der Trompeter Freddie Hubbard, dazu ein Rhythmus-Trio, an dem nur auffällt, dass ein Klavier fehlt: Der dreiundzwanzigjährige Vibrafon-Spieler Bobby Hutcherson vertritt die Pianisten-Stelle. Weitaus erstaunlicher ist dann allerdings, wie konstruktiv und gleichsam orchestrierend Hutcherson seine Schlägel einsetzt: Er akzentuiert Third-Stream-Riffs, markiert bockige Ostinati, macht den Raum weit und vibrierend und heißkalt. Sein Zusammenspiel mit Richard Davis (Bass) und dem gerade achtzehnjährigen Tony Williams (Schlagzeug) eröffnet ein neues Verständnis von Jazz-Rhythmik - eine Neu-Konzeption musikalischer Zeit, flüssig changierend zwischen ungerader Metrik, freiem Puls und heftigem Swing.

Vier der fünf Stücke auf "Out To Lunch" gehören zu den am häufigsten nachgespielten Dolphy-Kompositionen. Wirkliche "Standards" sind es dennoch nicht geworden, dafür sind die ungewohnten Metren und asymmetrischen Formteile verantwortlich. Das Thema von "Hat And Beard", Thelonious Monk gewidmet, basiert auf einem 9/4-Ostinato. "Gazzelloni", dem klassischen Flötisten Severino Gazzelloni gewidmet, beginnt mit einem 13-taktigen Motiv. Doch die Themen geben nur den Ton an, in dem hier musiziert wird - frei, aber formbewusst, unkonventionell, aber konsequent. Da zerfließen die Begleitstrukturen, ordnen sich neu, verselbständigen sich, gehen eigene Wege. Und spiegeln in ihrer Flexibilität doch nur die visionäre, großintervallige, brennend expressive Sprache des Bandleaders und Hauptsolisten Eric Dolphy.

"Out To Lunch" wirkt noch heute wie ein Sprungbrett in eine Alternativ-Welt des Jazz. Die Platte sollte ein Anfang sein, die Ouvertüre zu Eric Dolphys glänzender Zukunft als Erneuerer der afro-amerikanischen Musik. Es kam anders: Vier Monate nach der Aufnahme starb Dolphy sechsunddreißigjährig in Berlin. Das Werk, das seinen künstlerischen Durchbruch markiert, wurde zu seinem Vermächtnis. Ein ewiges, ewig uneingelöstes Versprechen.

Veröffentlicht in Rondo 5/1999

© 1999, 2007 Hans-Jürgen Schaal


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