Die neunzehnte Hörhilfe 16.8.07
Pink Floyd
Atom Heart Mother
David Gilmour, Roger Waters, Richard Wright, Nick Mason
So muss die Platte fürs Leben sein: geduldig, sensibel, verlässlich, anschmiegsam. So wie Lulubelle III, das Cover-Model, die uns neckisch ihr Hinterteil zeigt, den Busen halb entblößt, das hübsche Gesicht verständnisvoll zum Betrachter hingewendet. Ein kräftiges nordisches Weib, Holsteiner Rasse, milchstark. Die Platte mit der Kuh war das erste Rockalbum, das ich mir selbst gekauft habe, Anfang 1973, in einem großen Warenhaus, für 22 Deutsche Mark. Damals kannte ich noch nicht mal die Plattenläden in meiner Stadt. Die Klebstoffreste des Preisetiketts sind immer noch auf dem Cover zu erkennen, direkt über Lulubelles Kopf. Sie sind inzwischen schwarz.
Die drei längsten der fünf Titel kannte ich schon vorher. Besonders das Titelstück hatte es mir angetan. Wodurch die Band auf die Idee kam, hier ausgerechnet Blechbläser, gemischten Chor und ein Solo-Cello mit einzubauen, weiß ich nicht; ich behaupte einfach mal: durch den Kubrick-Film „2001 – Odyssee im Weltraum“. Die Verbindung von Blech und Orgel („Also sprach Zarathustra“), das Solo-Cello („Gayaneh“), die experimentellen Chöre und das psychedelische Klangabenteuer prägen jedenfalls auch den Soundtrack dieses Films. Wahrscheinlich hätte Pink Floyd gerne irgendwas Intergalaktisches aufs Cover gesetzt, aber ihr „Space-Rock“-Image ging der Band bereits auf die Nerven. Also bitte das Gegenteil: die Holsteiner Kuh auf der Heimatwiese.
Man muss dieses Tier und die Musik, für die es steht, einfach lieben. David Gilmour schrieb das dramatische Eingangsthema des Titelstücks und überlässt es den Hörnern und Posaunen: eine Art Western-Hymne, ergänzt mit dem Geräusch von galoppierenden, wiehernden Pferden und Pistolenschüssen. Variiert wird das markige Thema von einem melancholischen Solo-Cello (mit Orgel und E-Bass), dann durch eine weiche Gitarre im Slide-Sound. Vier große Episoden folgen. Nummer eins: der Frauenchor, ätherisch, modal, priesterinnenhaft, erst mit dem Hinzutreten der Männerstimmen in Irritation, Reibung und Dynamik verwickelt. Nummer zwei: das obligatorische große Gilmour-Solo mit funky akzentuierten Orgelakkorden. Nummer drei: experimentelle Vokalkunst, eine Fantasiesprache des Chors mit vielen Konsonanten. Nummer vier: psychedelischer Albtraum über einer Art Scheibenwischer-Geräusch mit Sounds, Rückblenden, Rückkopplungen. Auf diesem Wege geht es zurück ins Thema, diesmal aufgepolstert mit Trompeten und Chor.
Das Episoden-Prinzip kennt man auch aus anderen Floyd-Longtracks: Aufbau, Steigerung, Absturz – neuer Aufbau. Der Drummer schlägt dabei nicht das Tempo durch, sondern kommt des Effekts wegen dazu. In der Regel schweigt er anfangs erst mal, setzt dann nur mit der Hi-Hat auf 2 und 4 ein (jazzig!), spart sich fürs Fortissimo auf und spielt dort effektiv ad libitum. Eine 23-½-minütige Wanderung durch die Klangsphären, ein halb naives, halb raffiniertes Crossover aus Klassik-Geste, Rock-Wärme, Jazz-Effekt, gesprenkelt wie das eigene Innenleben, dieses inwendige Kuhhaut-Muster.
Die B-Seite bietet den stillen Kontrast: Jeder der drei Melodiker in der Band lieferte dafür eine Ballade mit viel akustischer Gitarre. Ganz reduziert: „If“, Waters’ surreale Psychoanalyse; dann Wrights Groupie-Hymne „Summer Of ’68“ mit bläserischer Ohrwurm-Fanfare; schließlich Gilmours harmlos-liebenswerter Sommerabend-Song „Fat Old Sun“. Alles ausgereifte Hippie-Romantik. Den Abschluss bildet ein kleines Sound-Hörspiel, ein rituelles Solo-Frühstück mit Corn Flakes, Kaffee, Toast, Orangen-Marmelade und allmählich erwachendem inneren Monolog. Die Musik – drei kleine Improvisationen mit von Mal zu Mal komplexer werdender Harmonik – entwickelt sich aus den Frühstücks-Geräuschen selbst: aus dem Streichholz-Anstreichen für den Herd, aus dem Knistern der Pfanne. Ein Klassiker der psychedelischen Collage. Und längst ein Stück Seelenhaushalt.
Geschrieben für hjs-jazz.de
© 2007 Hans-Jürgen Schaal
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