Die achte Hörhilfe 26.3.07
Spock’s Beard
Beware of Darkness (InsideOut)
Neal Morse, Alan Morse, Dave Meros, Ryo Okumoto, Nick D’Virgilio
Wie wenn man nach langen Jahren in die Heimatstadt zurückkehrt. Auf den ersten Blick hat sich nichts verändert: der Bahnhof, die Straßenschilder, die Sprache – wie früher. Aber dann entdeckt man die Unterschiede. Wo kommt der kleine Park her? Seit wann ist das hier eine Einbahnstraße? Da drüben gab es doch früher keine Wohnhäuser! Beim Besuch alter Freunde geht es weiter: Ihr mochtet doch damals keinen Rotwein? Wart ihr im Orient? Eine Mikrowelle – ihr?
So etwa war es, als ich dieses Album von 1996 entdeckte. Klar, in den Siebzigern sagte man noch nicht ProgRock; das hieß einfach Rock, vielleicht Artrock. Was wir damals „Progressive“ nannten, war was anderes, ziemlich „far out“. Es gab auch keinen Metal damals, nur braven Hardrock. Dennoch: In den Siebzigern liegen die Wurzeln des ProgRock der Neunziger, das war die mythische Zeit, als die Heroen noch jung über die Erde wandelten, ELP, Genesis, Gentle Giant, King Crimson, Pink Floyd, Yes und wie sie eben hießen. All diese Bands, die nicht einfach Song und Riff und Solo spielten, sondern Überraschungen liebten, Wechselfälle, Stilbrüche, Komplexes und Gegensätzliches, das nicht in drei Minuten erledigt werden konnte, sondern zweimal, dreimal, achtmal so lang dauerte. Die Kritiker schimpften den Artrock damals Pseudo-Pseudo-irgendwas, die Freaks fanden ihn verkopft, verkrampft, zickig. Mir und ein paar anderen half er, die Welt zu ertragen.
Aufs erste Hören scheint sich nichts verändert zu haben. „Beware of Darkness“ ist ein Album voller Wiedererkennungs-Momente. Mellotron und Bass-Figur im ersten Stück: die frühen Genesis! Die klirrenden Ostinati, das Marimba, die kontrapunktischen Chorgesänge im zweiten: Gentle Giant! Das pseudoklassische Klavier, der Orgelsound im dritten: Emerson Lake & Palmer! Das akustische Gitarrensolostück: Steve Howe bei Yes! Die folkige Gitarre, das Renaissance-Motiv, die gebrochenen Vokale im sechsten Stück: Jethro Tull! Beim Durchhören notiere ich auch mal: Beatles, „Tommy“, Chris Squire. Die Jungs von Spock’s Beard müssen Fans gewesen sein wie wir, denen die Gesten von damals zur zweiten Natur wurden. Eine Coverband höherer Potenz. Apotheose der Epigonalität.
Aber dann hört man die Veränderungen. Was damals, Ende der Siebziger, in immer seichterem Pop verebbte, wäre ausbaufähig gewesen. Ist immer noch ausbaufähig. Wird jetzt ausgebaut! Die Studio- und Instrumentaltechnik von heute erlaubt auch dem ProgRock ein völlig anderes Niveau: neue Synthesizer-Sounds, neue Gitarren-Sounds, neue Drum-Techniken. Sieben eigenständige Stücke greifen auf eine alte Grammatik und einen vertrauten Tonfall zurück, aber durch ihr Virtuosentum, ihre Melodienfreude, ihre Ereignisdichte eröffnen sie eine Dimension, die damals verschlossen blieb. Die alten Sounds bekommen frische Facetten – und bewegen uns wieder so spontan wie einst. Motive in ständig wechselnden Taktarten jagen einander. Songs pendeln zwischen Lyrik und Drama. Gitarren- und Hammond-Soli im 7/4-Takt. Hier ein neuer Park, dort ein neues Wohnviertel, da ein Orientteppich, eine Mikrowelle. Wenn ich heute an dieses Album gerate, ist es, als hätte ich die Heimatstadt nie verlassen. Als hätte ich miterlebt, wie sie sich verändert.
Geschrieben für Schaal's Site
© 2007 Hans-Jürgen Schaal |