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Das Pianotrio – Klavier, Bass, Schlagzeug – ist das kleinste komplette Jazzorchester. Vielseitig war es immer schon: brillant virtuos bei Oscar Peterson, feinsinnig verzahnt bei Bill Evans, schräg konsequent bei Thelonious Monk, boppig linear bei Bud Powell, populistisch funky bei Ramsey Lewis... Doch nicht genug: In den letzten Jahren hat gerade diese Besetzung eine Grenze nach der anderen gesprengt. Seit Esbjörn Svensson sind Klaviertrios wie Raumkapseln, die sich unerforschte Welten erobern. Das gilt auch nach dem 14. Juni 2008.

Esbjörn Svenssons Erben
Klaviertrios überwinden den Jazz
(2008)

Von Hans-Jürgen Schaal

Das Esbjörn Svensson Trio – oder kurz: E.S.T. – hat Berge versetzt und Kontinente umgebettet. Ein Klaviertrio in den Trendcharts, zwischen Teenie-Pop und Disco-HipHop. Die erste europäische Band auf dem Cover der amerikanischen Jazzbibel Down Beat. Man konnte lesen, der Jazz habe seine Heimat nach Europa verlegt. Jazz funktioniere auch ohne amerikanische Wurzeln, hieß es. Europa sei der spannendere, der aktivere Jazz-Kontinent. Das alles bewirkte E.S.T. – und ein Ende war nicht abzusehen. Die Clubs, die Festivals, die Konzertsäle auf der ganzen Welt waren randvoll gefüllt mit jungen Leuten, wenn E.S.T. auftrat. „Wir sind eine Rockband, die Jazz spielt“, sagte Svensson gelegentlich. Er hätte auch sagen können: Wir sind ein Jazztrio, das aktuelle Dance Grooves drauf hat. Wir sind eine Popband, die spannend improvisieren kann. Wir stehen auf Swing-Orchester, die Beatles, Heavy Metal. Seit E.S.T. ist das Klaviertrio keine puristische Jazzbesetzung mehr, sondern eine große, leere Leinwand für vielerlei Projektionen. Was E.S.T. anrichtete und veränderte in der Jazz- und Musiklandschaft, mutete manchmal an wie ein Traum. Ein Traum, aus dem man urplötzlich erwacht. Am 14. Juni 2008 kam Esbjörn Svensson bei einem Unter-Wasser-Ausflug in seiner schwedischen Heimat ums Leben. Tauchen kann tödlich sein. Seine strahlende Weltkarriere erhält im Rückblick eine seltsam unwirkliche, tragische Note.

Doch die Türen, die das E.S.T. aufgestoßen hat, sie schwingen kräftig: Das Klaviertrio ist definitiv aufgebrochen zu neuen Ufern und wird sich so bald nicht in die alten Jazz-Gemäuer zurückbegeben. Amerikas Antwort auf E.S.T. heißt The Bad Plus. Die Herren Ethan Iverson, Reid Anderson und David King aus dem mittleren Westen böllern Rocksongs und zerbröseln Jazzballaden, und das seit dem Jahr 2000. Über ihr 2007er-Album „Prog“ schrieben die Kritiker, es sei eine Cover-Hommage an den Progressive Rock – aber außer „Tom Sawyer“ von Rush ist keines der Stücke dem echten ProgRock zuordenbar. Der Albumtitel bedeutet also mehr. Er bedeutet: Wir SIND Prog! The Bad Plus müssen Prog nicht erst in Jazz übersetzen, sie machen Prog im Original – wenn auch rein akustisch. Am heftigsten knallen sie im 9-Minuten-Stück „Physical Cities“, einer verzinkten Collage aus harten Riffs, insistierenden Pianofiguren, rhythmischen Brüchen und originellen Akkordfolgen. Könnte man sich gut von einer Band wie Dream Theater gespielt vorstellen. Und das Staccato-Gewitter in den letzten drei Minuten des Stücks ist metalliger als jede Metalzombie-Kapelle. Mit Pianojazz aus der Hotelbar hat das so viel zu tun wie ein zorniger Grizzly mit einem Kuscheltier. Da brüllt der heavy Zottelbär! Übrigens enthält das Album meine Lieblingsversion von Burt Bacharachs Easy-Listening-Ohrwurm „This Guy’s In Love With You“ – beileibe kein ProgRock im Original. Bei The Bad Plus wird das Stück zum Backbeat-Bombast, ebenso liebevoll modelliert wie respektlos gebrochen.

Die britische Kultband King Crimson war immer Prog. In ihrer jazzigsten Phase trommelte dort ein gewisser Ian Wallace, der später in Kalifornien eine große Studio-Karriere machte. Mit 57 Jahren, getragen vom Ruhm seiner Crimson-Vergangenheit und diverser Revival-Bands, gönnte er sich schließlich das Crimson Jazz Trio: die Neuerfindung des King-Crimson-Songbooks im Pianotrio-Format. Auf „King Crimson Songbook, Vol. One“ treffen sich Kultrock-Ästhetik und Jazztrio-Feeling irgendwo auf halbem Weg: Das Ergebnis ist harmonisch ästhetisierter Modalrock, eine harsch pochende Jazzwelt. Die Herren Jody Nardone, Tim Landers und Ian Wallace verstehen dabei jedes Crimson-Original offenbar als Herausforderung zur Verwandlung: Ein Mittelteil wird zur Coda, ein Rockriff beginnt zu swingen, stur ungerade Metren werden zu raffiniert geraden, ein Beat-Shout kriegt einen Coltrane-Vamp. Der pathetische Schmachtfetzen „Starless“ mausert sich zur eleganten Jazzballade, wobei das Klavier aus Gesangs- und Nebenmelodie etwas ganz Neues zusammenbraut. Die „Ladies Of The Road“ dagegen geben sich frech nostalgisch mit relaxt swingenden Blockakkorden à la Red Garland. Deutlicher als durch diese stilistische Übersetzung lässt sich die künstlerische Souveränität des Klaviertrio-Formats kaum demonstrieren. Mit Ian Wallaces viel zu frühem Tod (2007) kam die Geschichte des Crimson Jazz Trios leider zum Halt, bevor sie recht beginnen konnte. Immerhin: Eine zweite CD, bereits im Sommer 2006 eingespielt, soll noch 2008 veröffentlicht werden.

Aus dem Nachbarland des E.S.T. kam Trio Töykeät. Die Formation um den kräftigen, humorvollen Klaviervirtuosen Iiro Rantala spielte 18 Jahre lang (1990-2008) in unveränderter Besetzung zusammen. Finnlands erfolgreichste Jazzband nahm in dieser Zeit sieben Alben auf (zuletzt für Blue Note) und spielte rund 2.000 Live-Konzerte. Ihr letztes Studio-Album „Wake“ (2005) bleibt den kommenden Jahrhunderten als Dokument dafür erhalten, was dem braven, alten Pianojazztrio zur Jahrtausendwende an Ungeheuerlichem widerfuhr: Eine sorgsam gehegte Balkonpflanze mutierte plötzlich zum unberechenbaren Urwald. Bei Trio Töykeät schießen Swing, Bolero, Sibelius, Folklore, Tango, Rock oder Ragtime wildwüchsig ins Kraut, drängeln sich um den Platz am Licht und schlingen sich gierig umeinander. Es ist die Vision einer musikalischen Welt, die nichts ausschließt, eingepackt in ein Klaviertrio. Dieser Rantala – ein beispielloser Feuerhexer an den Tasten, klassisch geschult, jazzig inspiriert, vom Schalk gebissen – gehört zweifellos zu den außergewöhnlichsten Klaviernoten-Schleudermaschinen Europas. Wenn er behauptet, auf „Wake“ sei der „Virtuosenstoff“ auf ein Minimum reduziert, so darf man das einfach nicht ernst nehmen. Ernst nehmen sollte man jedoch, was er über sein Stück „Third Ball“ verrät: „Diese Komposition hat weder Sinn noch Stil. Ich schrieb sie unter starkem Medikamenten-Einfluss, was man auch hören kann. Aber es gibt ein paar Leute da draußen, die gerade diese Art von Musik mögen.“ Kann ich bestätigen.

Klaviertriomusik – das sind nicht nur drei Instrumente, das sind vor allem Rhythmen, Schichtungen, Entzerrungen, Flächen, Akzente, Zusammenklänge, Strukturen, Entwicklungen, Beschleunigungen, Brüche, Aufbrüche, Intervalle, Verdichtungen, Verlangsamungen, Tempi, Harmonien, Melodien und vieles mehr. Eine Formation, die die Balance zwischen ihren Instrumenten und zwischen allen diesen Parametern in jedem Stück neu sucht, ist [ em ], das Trio von Michael Wollny, Eva Kruse und Eric Schaefer. Hektik ist hier eine Kunstform, aber das Stocken im Fluss ebenso. Dass auf dem Album „[ em ] II“ der Pianist sogar die wenigsten Stücke schrieb, spricht für den Fundamentalismus dieses Trios. Ob rockende Grooves, impressionistische Girlanden, eckige Themen mit atonalem Charme oder Balladenstimmungen, bei denen die Zeit stillzustehen scheint: Die Musik von [ em ] verblüfft durch kompromisslose Intensität, gedankliche Frische und die atemberaubende Bereitschaft zur ständigen Überraschung. Balladen wie „Irradians“, „Takashi“, „Rica“ oder „Schneefall“ sind nicht einfach nur langsame Stücke, sondern Lichtmalereien über dem Abgrund, fragil und klar. In heftig wechselvollen Titeln wie „Phlegma Phighter“, „Dance & Grow“ und „Gorilla Biscuits“ bekommt die herkömmliche Jazz-Ästhetik breite, klaffende Risse. Und selbst wenn die drei nur mal kurz frei improvisieren, rappelt’s schon im Gebälk der Tradition. Auf diesem reichen Trümmergelände baut [ em ].

Und das könnte die eine Facette der Zukunft sein: Trio Elf aus München erobert dem Klaviertrio-Format jetzt sogar die Welt der zischelnden, raschelnden, klackernden Computer-Grooves. Die hohe Kunst lyrischen Jazzpianos mischt sich hier unvermittelt mit Techno-Beats, wie sie die akustische Lounge-Kulisse unserer Cafés und Bistros prägen. Nur: Bei Trio Elf sind die eifrigen Elektro-Rhythmen lebendig und handgespielt, eine virtuose Schlagzeug-Etüde von geschmackvoller, zurückhaltender Meisterschaft. Woher das Ausgangsmaterial kommt – aus Bebop, Cool Jazz, Bossa Nova, Elektronik, koreanischer Folklore oder eigener Feder –, ist bei Trio Elf letztlich gleichgültig: Die drei sind sich ihrer hoch diffizilen, artistischen Sprache jederzeit völlig sicher. Auf dem Debütalbum „Elf“ (2006) holen sich Walter Lang, Sven Faller und Gerwin Eisenhauer den halben Musikkosmos in ihre minimalistisch relaxte Triowelt, erobern ihn für eine aus Jazz-Tugenden gesponnene, von elektronischer Ästhetik durchpulste Klaviertrio-Disziplin. Der Jazz-Hit „Take Five“ wird da zur sparsam markierten Sofasitzer-Nummer im 10/4-Takt. Techno-Klassiker von Aphex Twin entwickeln andererseits eine ungeahnte harmonische Sanftheit und dramatische Spannung. Das Klaviertrio ist so universal geworden wie die menschliche Stimme. It’s chill-out time, baby.

© 2008, 2010 Hans-Jürgen Schaal


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