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1992: Die Begeisterung für den Mainstream-Jazz ergreift die großen Musikkonzerne. Reihenweise werden Altmeister und Jungtalente des Jazz von den Major-Firmen „entdeckt“ und vermarktet – gerne auch Tenorsaxofonisten.

1992 - Die drei Tenöre
Ein Jahr des Jazz
(2012)

Von Hans-Jürgen Schaal

1992 veröffentlichte die afroamerikanische Schriftstellerin Toni Morrison ihren Roman „Jazz“. Gut, das Buch spielt streckenweise im Harlem der Zwanzigerjahre, in der Welt des „Jazz Age“. Aber mit Musik hat es wirklich nichts zu tun. Allenfalls in einem übertragenen Sinn: „Ich möchte als Autorin wie ein guter Jazzmusiker sein“, soll Toni Morrison in einem Interview erklärt haben. Womit sie meinte: Sie möchte Bücher schreiben, die man wahlweise komplex oder einfach verstehen kann – so wie den Jazz. Der Romantitel, aber auch dieses Interview-Zitat zeigen, wie Jazz 1992 gehört wurde: Er durfte sogar im Hintergrund dudeln, im Bistro zum Cocktail oder im Schlafzimmer zum Vorspiel. Allzu frei sollte dieser Jazz dabei nicht sein, eher romantisch, sanft und gefühlvoll. Vielleicht war swingender Mainstream-Jazz nie populärer als 1992. Toni Morrison erhielt im Folgejahr den Literatur-Nobelpreis.

Zu den legendärsten Labels der Jazzgeschichte zählt die Marke Verve. Sie war 1985 – nach längerem Dornröschenschlaf – vom PolyGram-Konzern wiederbelebt worden, denn man witterte plötzlich Umsatzmöglichkeiten mit Jazz. Als Galionsfigur des neuen Jazz-Booms wurde 1989 der Tenorsaxophonist Stan Getz aufs Label geholt, der ehemalige „weiße Gott“ des Cool Jazz und Weltstar der Bossa Nova. Die finanziell lohnende Kooperation war allerdings von kurzer Dauer: Schon im Sommer 1991 erlag Getz seinem Leberkrebs. Verve suchte umgehend einen geeigneten Nachfolger für ihn – und fand ihn im damals 54-jährigen Joe Henderson. Auch er: Tenorsaxofonist mit legendärem Ruf. Henderson hatte in seiner Karriere zahlreiche Platten auf Blue Note und Milestone gemacht, aber zu seinem Pech nie irgendeinen erfolgreichen Trend begründet. Jetzt im Mainstream-Jazz-Revival aber durfte er unter den Fittichen eines Major-Labels endlich einfach er selbst sein: einer der größten Stilisten des Saxofons. Einer, der in seinen Improvisationen mehrere Fäden gleichzeitig spinnen kann. Einer, bei dem sogar noch die Klangschattierungen des Instruments eine Geschichte erzählen.

Anfang 1992 erschien Joe Hendersons Verve-„Debüt“, die Hommage an einen ebenfalls lange verkannten Kollegen: Lush Life. The Music of Billy Strayhorn. Dieser Billy Strayhorn hatte 30 Jahre lang als Komponist und Arrangeur dem berühmten Duke Ellington assistiert, dessen Ideen ausgeführt, vollendet und veredelt. Der Umfang von Strayhorns Beitrag – er schrieb rund 1.500 Stücke – wurde selten richtig gewürdigt. Doch Joe Henderson änderte das: Mit seinem Album arbeitete er als einer der Ersten die musikalische Persönlichkeit Strayhorns heraus, fern aller Ellington-Nostalgie. Im klassischen Quintett (zweiter Bläser: Wynton Marsalis) und in subtilen Duo- und Triobesetzungen eröffnet er zehn Strayhorn-Stücken eine neue Zukunft. Für sein unbegleitetes Tenor-Solo über „Lush Life“ erhielt Henderson sogar seinen ersten Grammy. Das „Major-Debüt“ war der Anfang einer brillanten Alterskarriere.

Auch der Tenorsaxofonist Joe Lovano war längst kein Unbekannter mehr, als 1992 überraschend sein „Major-Debüt“ erschien. Seit Jahren kannte man den bärtigen Italo-Amerikaner als verlässlichen Bigband-Musiker (bei Woody Herman und Mel Lewis), als abenteuerlustigen Bandleader und neuerdings auch als Sideman des Gitarristen John Scofield. Mit einem plötzlichen Karrieresprung des 39-jährigen Veteranen Lovano rechnete jedenfalls niemand. Doch als Bruce Lundvall, der Chef des EMI-Jazzlabels Blue Note, eines Tages in den New Yorker Jazzclub „Sweet Basil“ kam, um sich die Band des Schlagzeugers Peter Erskine anzuhören, hatte das ungeahnte Folgen. „Ich ging also hin“, erzählt Lundvall, „und Joe Lovano war in der Band und spielte die unglaublichsten Soli. Und anstatt Peter unter Vertrag zu nehmen, machte ich einen Vertrag mit Joe.“

Lovanos Blue-Note-Debütalbum From The Soul sollte der Start in eine kometenhafte Karriere werden: Zahlreiche Poll-Siege (Bester Tenorsaxofonist, Bester Musiker, Bestes Album, Beste Komposition...) und andere Auszeichnungen (Grammys, Ehrendoktorwürden...) begleiteten bald Lovanos Weg als erfolgreichster Saxofonist auf der Szene. Zur austauschbaren Mainstream-Konfektion wurde seine Musik aber nie: Schon auf From The Soul behauptet der Saxofonist seinen Eigensinn, bläst eine kompromisslos kantige Kanne, sucht seine Abenteuer in Sound und Rhythmus, grüßt musikalische Freigeister wie Ornette Coleman, John Coltrane und Thelonious Monk und hält auch an seinen Nebeninstrumenten fest, dem Alt- und Sopransaxofon. Den Rest besorgt ein ziemlich einmaliges Begleittrio, bestehend aus Michel Petrucciani (1962-1999), Dave Holland und Ed Blackwell (1929-1992).

Seit 1985 gibt es das Thelonious Monk Institute of Jazz, das vor allem durch seine jährlichen Talent-Wettbewerbe bekannt wurde, die „Jazz Competitions“. Den Saxofon-Wettbewerb im November 1991 gewann ein gewisser Joshua Redman, 22 Jahre alt. Daran war nun manches bemerkenswert. Erstens: Dieser junge Mann trägt nicht etwa zufällig den Nachnamen eines bekannten Tenorsaxofonisten, sondern ist tatsächlich der Sohn des Ornette-Coleman-Mitstreiters Dewey Redman (1931-2006). Zweitens: Joshua Redman ist weitgehend ohne seinen Vater aufgewachsen und fing nur so nebenbei mit dem Saxofonspielen an. Tatsächlich hatte er erst fünf Monate vor dem Wettbewerb damit begonnen, regelmäßig Saxofon zu üben. Drittens: Joshua Redman studierte bis 1991 Soziologie an der Harvard University (summa cum laude). Er wollte 1992 an die Yale Law School wechseln. Viertens: Der erfolgreiche Student, der nur nebenbei Saxofon spielte und nur nebenbei den Monk-Wettbewerb gewann, erhielt direkt nach diesem Erfolg einen Plattenvertrag beim Branchenriesen Warner Brothers und erklimmt seitdem regelmäßig die Jazz-Charts. Sein Jurastudium in Yale hat er bis heute nicht angetreten.

Joshua Redman, aufgenommen im September 1992, ist ein echtes Debütalbum, aber ohne einen Funken Naivität. Der junge Tenorsaxofonist hat hörbar seine helle Freude daran, die ganze Geschichte seines Instruments mit einem Augenzwinkern in wenige Takte zu packen. Redman junior groovt hemmungslos – mal mit den Tricks der alten Swing-Saxofonisten, mal mit der Trockenheit eines Sonny Rollins, mal mit Bebop-Virtuosität oder R&B-Rauheit. Ob große Ballade, James-Brown-Shouter oder modale Coltrane-Hommage: Joshua Redman klingt immer, als steckten 20 legendäre Saxofonisten der Jazzgeschichte in seinem Horn und suchten nach der besten Lösung für die nächste Phrase. „Wir bedienen uns aus dem großen Pool der Ideengeschichte des Jazz, doch wir führen nichts mehr weiter oder zu Ende“, so beschrieb Redman später sein Spiel. Innovativ daran ist der Eklektizismus. Und der Spaß. Und der Witz. Und der Unterhaltungswert. Joshua Redman liebt den Jazz-Mainstream – und führt ihn fröhlich ein Stück weit ad absurdum.

© 2012, 2014 Hans-Jürgen Schaal


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