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Der musikalische Vater von Bugs Bunny
Über den vergessenen und wiederentdeckten Raymond Scott
(2005)

Von Hans-Jürgen Schaal

Als Harry Warnow wurde er 1908 in Brooklyn geboren. Seine Eltern und der größere Bruder waren da eben erst aus Russland in die USA eingewandert. In der neuen Heimat leitete der Vater einen Musikalienladen und beide Söhne zeigten früh Talent zur Musik. Schon als Kleinkind klimperte Harry fantasievoll auf dem Klavier herum und entwickelte bald seltsame musikalische Ideen, erfand bizarre, wechselvolle Klangporträts von Menschen und Dingen aus seiner Umwelt. Als die Berufswahl näher rückte, entschied er sich aber für die Brooklyn Technical High: Harry wollte Ingenieur werden. Sein älterer Bruder Mark, damals schon ein etablierter Violinist und Dirigent, legte sein Veto ein: Harry sei viel zu talentiert, um nicht eine musikalische Laufbahn einzuschlagen. Der Bruder bezahlte ihm einen Steinway-Flügel und eine musikalische Ausbildung. Mit 22 Jahren wurde Harry als Pianist der CBS Radio-Band engagiert, die sein Bruder leitete. Um nicht den Verdacht der Vetternwirtschaft zu erregen, suchte sich Harry einen neuen Namen – aus dem Telefonbuch. Raymond Scott, so fand er, habe einen hübschen Klang und einen guten Rhythmus.

Harry oder Raymond fand die Musik der CBS-Band bald langweilig. In den Aufnahmepausen probierte er daher mit den Musikern seine eigenen Ideen aus. Seine verrückten Stücktitel wie „Confusion Among A Fleet Of Taxicabs Upon Meeting With A Fare“ fielen ebenso auf wie seine unbedingte Hingabe: sein Perfektionismus, sein fanatisches Üben. Scott spiele nicht nur das Klavier, er esse, schlafe und trinke es, meinte der Bassist Lou Shoobe. Außer seiner Musik-Verrücktheit interessierte Scott offenbar wenig: Er war kein geselliger Mensch. Um seinen Ambitionen gerecht zu werden, erlaubte ihm CBS schließlich ein eigenes kleines Ensemble, das Raymond Scott Quintette. Tatsächlich war es ein Sextett mit Klarinette, Saxofon, Trompete, Piano, Bass und Drums. Der Jazz-Trompeter Bunny Berigan gehörte anfangs zur Band, verließ sie aber, weil er das ständige Üben satt hatte. Auch Charlie Shavers und Al Gallodoro blieben nicht lange bei Scott: „Er war immer so kleinlich. Ich sah Musiker, die seine Proben heulend verließen“, erzählte Gallodoro.

Descriptive Jazz

Allein am ersten Drei-Minuten-Stück, „The Toy Trumpet“, arbeitete Scott mit seiner Band acht Monate lang, ehe er es 1936 im Radio vorstellte. Die gestopfte Trompete, die Marschtrommel, das weihnachtlich anmutende Celesta-Geklingel suggerieren eine Art Zinnsoldaten-Episode. Die Musik ist Ton für Ton durchgeprobt, ohne dass Scott Noten benutzt hätte. Das war sein Arbeitsstil: Er gab jedem Musiker am Klavier seinen Part vor und kümmerte sich wenig darum, ob die Töne zur Technik des Instruments passten. Stand das Arrangement, wurde kein Ton mehr geändert: Exaktes Memorieren war verlangt. Scott war überzeugt davon, dass die Musik wahrhaftiger klingt, wenn das Auge nicht mit Notenlesen beschäftigt ist. Daher sparte er sich das Papier und komponierte „direkt ins Sextett“. Die Band war für ihn eine Hochleistungs-Maschine, das Komponieren eine Ingenieurs-Arbeit, der Musiker ein funktionierendes Bauteil.

Scott liebte rasche Notenfolgen, plötzliche Umschwünge, unerwartete Tempowechsel, verrückte Tonskalen, dichte Ensemblestellen. Er montierte verschiedenartige Themen zu einem Stück und löste die Übergänge mit der Logik eines Technikers. Zuweilen träumte er sogar von einer Zukunfts-Technologie, die auf Musiker ganz verzichten könnte: „Vielleicht schon innerhalb der nächsten 100 Jahre wird die Wissenschaft den Prozess der Gedankenübertragung vom Komponisten auf den Zuhörer perfektionieren. Der Komponist wird allein auf der Konzertbühne sitzen und nur noch die ideale Ausführung seiner Musik DENKEN. Anstelle von Schallplatten mit tatsächlich erklingender Musik werden Aufnahmen dann die Gehirnwellen des Komponisten direkt ins Bewusstsein des Hörers übertragen.“ Was Studiotechnik betrifft, war Scott immer mit Ingenieurs-Geist beteiligt, wie ein Techniker berichtet: „Scott bestand darauf, dass wir nachts aufnahmen, damit er [zusätzlich] ein Mikrofon in die Vorhalle hängen konnte und eines in die Herrentoilette. Damit erreichte er einen Echo-Effekt. der die Aufnahmen nach einem großen Auditorium klingen ließ.“ Scott hatte sein eigenes Studio, das er wie ein Musiklabor nutzte. Er ließ alle Proben mitschneiden und holte sich daraus neue musikalische Anregungen.

Die Musik seines virtuosen Sextetts nannte Scott „Descriptive Jazz“. Was dieser „Jazz“ beschreiben sollte, verrieten die fantastischen Stücktitel, die von Kannibalen, Spukhäusern oder fernen Ländern handeln. Scotts Musik war zwar vom Geist der Swing-Ära getragen, ihrem Sound und ihrer technizistischen Disziplin, doch sie war kein Jazz. Es gab keine Improvisation, der Rhythmus swingte selten und die vielen Wechsel in Tempo und Charakter verschreckten die Tänzer. Der Jazzkritiker Harold Taylor wünschte sich 1939, die Band würde endlich ihren Leader feuern und etwas anderes spielen – es sei denn, Scott entschlösse sich noch, echten Jazz zu schreiben. Bei den Swingfans galt seine Musik als „schrulliger Pseudo-Jazz“. Ungeachtet dessen war das Raymond Scott Quintette aber höchst erfolgreich und hatte eine große Anhängerschaft. Es bekam sofort einen Plattenvertrag beim Label „Master“ und einen einjährigen Hollywood-Vertrag mit 20th Century Fox. Die Musik erklang in etlichen Radio-Programmen und Hollywood-Filmen, wurde von anderen Bands nachgespielt und inspirierte die Entstehung des modernen Jazz. Sogar Igor Strawinsky und Jascha Heifetz outeten sich als Fans. Bald war Scott der musikalische Leiter bei CBS, ersetzte sein „Quintette“ 1939 durch eine Big Band und ging mit der Big Band auf Tournee. Ab 1942 arbeitete er bei CBS mit einem großen Studio-Orchester, zu dem auch afroamerikanische Jazzgrößen wie Coleman Hawkins und Ben Webster gehörten.

Looney Tunes

Ein Jahr später, als das ursprüngliche Raymond Scott Quintette längst nicht mehr existierte, begann für Scotts Musik eine unerwartete zweite Karriere. Die Firma Warner Brothers hatte seine „deskriptiven“ Stücke entdeckt und die Verlagsrechte an mindestens 14 von Scotts Sextett-Kompositionen aus den Jahren 1937 bis 1939 erworben. In den vierziger und fünfziger Jahren verwendete Warner Bros. Zitate aus diesen Stücken in rund 120 Zeichentrickfilmen, den so genannten „Looney Tunes“ mit ihren Hauptfiguren Bugs Bunny und Daffy Duck. Scotts größter Radio-Hit der 30er Jahre, Powerhouse, wurde auch sein größter Cartoon-Hit und geistert seit den 40er Jahren durch die Köpfe von Millionen meist junger Fernsehzuschauer. Die beiden „Riffs“ dieses Stücks – ein hektisch-gehetztes Motiv, gut geeignet für Verfolgungsjagden und verzweifeltes Im-Kreis-Rennen, und ein Motiv mit einem „mechanischen“ Beat, passend für Fabriken, Fließbänder, verrückt gewordene Roboter – tauchten zusammengerechnet in rund 100 Zeichentrickfilmen auf. Bis heute hat sich der Reiz von „Powerhouse“ nicht verbraucht: Noch in den 90er Jahren wurde das Stück bei „Duckman“, den „Simpsons“, in der „Drew Carey Show“ und in drei Episoden von „Ren & Stimpy“ verwendet. Die von Steven Spielberg produzierte „Animaniacs“-Episode „Toy Shop Terror“ wurde sogar komplett um Scotts Stück herum entwickelt. Der musikalische Leiter der Serie, Richard Stone, beschrieb „Powerhouse“ 1996 so: „Es ist ein seltsam wundervolles Stück Musik. Als wäre es auf dem Mars geschrieben worden.“

Ähnlich beliebte Cartoon-Musiken sind Scotts Stücke „The Penguin“, „Huckleberry Duck“, „The Toy Trumpet“, „In An 18th Century Drawing Room“ und „Dinner Music For A Pack Of Hungry Cannibals“. Wie die Titel nahelegen, zeichnen die Stücke selbst bereits charakteristische, skurrile „Klang-Porträts“: Der Hörer sieht unwillkürlich den rennenden Pinguin und die watschelnde Ente vor sich. Scotts Fantasie und Humor antizipierten hier geradezu die Welt der Cartoon-Macher, ohne dass er je in diese Richtung gedacht hätte. Scotts quakende Trompeten, Dschungel-Tom-Toms, atemlose Tempi und orientalisierende Melodien senden ähnlich plakative Signale wie die schnellen Bilder des Zeichentricks. John Kricfalusi, der Schöpfer der „Ren & Stimpy Show“ in den 90er Jahren, beschrieb diese Wahlverwandtschaft: „Wenn man überhaupt von Farbe in der Musik sprechen kann, dann besitzen Scotts Stücke einen wilden Farbensinn – genau wie Cartoons.“ Auch Scotts Vorliebe für plötzliche Umbrüche und Tempowechsel entspricht sehr der rasanten Ästhetik der Animation. Der Kreativdirektor von „Ren & Stimpy“, Bob Camp, verriet, dass er sich immer eine Menge Raymond-Scott-Musik anhöre, um für seine Cartoon-Zeichnungen in die richtige Stimmung zu kommen. Auf heutige Hörer wirken Scotts Sextett-Stücke vollends wie „Musik für Mäuse, denen mit einem Bügelbrett auf den Kopf geschlagen wird“ (so eine Journalistin der „Washington Post“).

Der Mann, der bei Warner Brothers mit der Umsetzung von Scotts Musik in Cartoon-Soundtracks begann, war der legendäre Carl Stalling (1888-1974). Ursprünglich Komponist und Dirigent eines Stummfilm-Orchesters, hatte Stalling als Musikdirektor von Walt Disney die ersten Konzepte der Zeichentrick-Filmmusik entwickelt. 1936 begann er für Warner Bros. zu komponieren, wo eine Firmen-Vorgabe lautete, dass jeder Trickfilm eine Komposition aus dem Warner-Musikkatalog verwenden sollte. So kam Stalling auf die Idee, in den Filmen bekannte Melodien stereotyp zu zitieren – zum Beispiel das Volkslied „Little Brown Jug“ immer dann, wenn eine Trickfigur mit Alkohol in Berührung kam, oder den Mittelteil aus Raymond Scotts „Powerhouse“, wenn sich Maschinentechnik verselbstständigte. Als Arrangeur bediente sich Stalling einer komplexen Montage-Technik, indem er lediglich Fragmente dieser Songs herausgriff und sie in die Gesamtpartitur einfügte, die dann von einem Studio-Orchester gespielt wurde. Scotts Musik tauchte in den Soundtracks also nur zitatartig auf, hinterließ aber bleibende Eindrücke: „Wenn man in einem 6-minütigen Cartoon acht Takte davon hört“, bestätigt John Kricfalusi, „dann ist es das, woran man sich hinterher erinnert.“ Stalling hatte eine große Schwäche für Scotts Melodien. Er verwendete sie regelmäßig von 1943 an, als Warner Bros. den Scott-Katalog erwarb, bis 1958, als Stalling in den Ruhestand ging. In den 60er Jahren wurden fünf Stücke von Scott auch in der Columbia-Serie „Batfink“ verwendet, einer Zeichentrick-Parodie auf Batman. In 46 der 100 Folgen erklangen Segmente aus Scotts bewährten Gassenhauern wie „Powerhouse“ und „The Toy Trumpet“.

Karloff und Clavivox

Obwohl Scott dank Warner Bros. und Carl Stalling regelmäßig ansehnliche Tantiemen verdient haben muss, hat er sich zu diesem Welterfolg seiner Melodien nie geäußert. Es heißt, er habe niemals in seinem Leben Zeichentrickfilme angeschaut und diese Sache nicht wichtig genug genommen, um auch nur seine Familie darüber zu informieren. Scott hatte Besseres zu tun, und das in rauen Mengen. Er komponierte Werbe-Jingles für Zigaretten, Autos oder Shampoos, gründete ständig neue Bands, schrieb weiterhin verrückte Stücke mit immer noch längeren Titeln, nahm seine alten Evergreens in neuen Versionen auf, machte daneben kommerzielle Schallplatten wie „Rock and Roll Symphony“ oder „This Time with Strings“, komponierte für den Broadway, schrieb Soundtracks und Ballettmusik und sogar eine „klassische“ Suite für Violine und Klavier. Als sein Bruder starb, übernahm Scott 1949 dessen Job als Bandleader in einem Radioprogramm und führte dieses im Folgejahr auch ins Fernsehen. Außerdem unterrichtete er, gründete eigene Schallplatten-Labels, arbeitete in der Plattenindustrie als A&R-Mann, Talentsucher und Produzent.

Auch seine vielfältigen technischen Interessen verfolgte Scott weiter. Schon 1948 setzte er Multitrack-Aufnahme-Verfahren ein. Er erfand „Karloff“, eine Art frühen Synthesizer, und das „Clavivox“, ein Keyboard zur Nachahmung des schwer zu handhabenden Theremins. Er entwickelte die „Videola“, eine Filmprojektions-Steuerung, um am Klavier Soundtracks in Echtzeit komponieren zu können, und das „Electronium“, eine Kompositions-Maschine, die die MIDI-Technik vorwegnahm. Scotts erstaunliche Innovationen inspirierten nicht zuletzt Robert Moog, den Erfinder des Moog-Synthesizers: 1963 präsentierte Scott auch ein eigenes Album mit Synthesizer-Wiegenliedern. Ab 1969 arbeitete er nicht mehr mit menschlichen Musikern, sondern nur noch mit Musik-Elektronik: Das kam seinem Perfektionismus sehr entgegen und brachte ihn der Vision einer direkten Gedankenübertragung von Komponist zu Hörer ein Stück näher. Von 1972 bis 1977 leitete Scott eine Elektronik-Abteilung bei der Plattenfirma Motown Records. Bis zu seinem ersten Schlaganfall im Jahr 1987 arbeitete er an MIDI-Kompositionen.

Im Frühjahr 1988 recherchierte Steve Schneider für ein Buch über die Cartoons von Warner Bros. und wollte Raymond Scott dazu befragen. Scott, vom Schlaganfall behindert, konnte ihm keine Auskunft mehr geben. Er starb 1994 im Alter von 85 Jahren. Seine Familienangehörigen – die Ehefrau, die Tochter, auch die erste Ehefrau – fielen aus allen Wolken: Sie hatten von der Verbindung zu den Warner-Cartoons keine Ahnung gehabt. Schneiders Nachforschungen brachten daraufhin eine Lawine ins Rollen und Scotts Musik zurück ins öffentliche Bewusstsein. Allein „Powerhouse“ wurde zwischen 1993 und 1998 in drei neuen Cartoon-Serien und etlichen Cartoon-Werbejingles verwendet. Columbia veröffentlichte ausgewählte Aufnahmen des „Raymond Scott Quintette“ 1992 auf CD. Die Band The Beau Hunks in Holland und der amerikanische Jazzmusiker Don Byron adaptierten Scotts Stücke. Eine Raymond-Scott-Website wurde eingerichtet. Es erschienen CD-Sets mit seinen elektronischen Aufnahmen, außerdem Fan-CDs und ein Jazz-Album von 1960. Möglicherweise war Raymond Scott ein Genie. Ein Genie, das seine letztgültige Form fand in den Cartoons von Bugs Bunny und Daffy Duck.

© 2005, 2016 Hans-Jürgen Schaal


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